Die Zukunft erfinden. Nick Srnicek

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Die Zukunft erfinden - Nick  Srnicek

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Raum- und Zeitgefüge eine momentane Öffnung reißt, als eine temporäre Neuanordnung, die eine neue Gesellschaft in Umrissen skizziert. Eine solche antireformistische Position findet uns an ihrer Seite. Natürlich wissen wir, dass befreite Zonen nur partiell und transitorisch bleiben, doch die zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen bestehende Spannung, die sie bloßlegen, kann eine Radikalisierung der Kämpfe forcieren.100

      Das Bekenntnis zum temporären Charakter der Besetzung verbindet sich hier mit dem naiven Glauben daran, die Aktion könne zugleich der Funke sein, der den radikalen Wandel entfacht. Präfigurative Räume ringen aus guten Gründen permanent um ihren Fortbestand. Denn erstens sind sie auf vielfältige Weise auf Logistik angewiesen, sie brauchen Unterkunft, Verpflegung, Sanitär- und Gesundheitseinrichtungen sowie politische, moralische und juristische Unterstützung. In den meisten Fällen stellt eine präfigurative Gemeinschaft dies alles nicht selbst zur Verfügung, sondern baut auf das bestehende kapitalistische Umfeld.101 Die soziale Reproduktion eines Camps ist auch unter günstigsten Bedingungen schwierig, und selbst etablierten utopischen Gemeinschaften (die häufig religiöser Natur sind) gelingt es in der Regel nicht, unabhängig zu bleiben und sich ausschließlich selbst zu versorgen.102 Hinzu kommt, zweitens, dass präfigurative Räume häufig Behörden oder Unternehmen ein Dorn im Auge sind und entsprechend bekämpft werden – und falls nicht, so in der Regel, weil sie die herrschende Ordnung nicht wirklich bedrohen. Die Zapatistas beispielsweise genießen relative Freiheiten, weil Staat und Kapital in ihnen keine Gefahr sehen.103 Sobald ein präfigurativer Raum die bestehenden Verhältnisse ernsthaft bedroht, schlägt die Stunde der Repression, und spätestens dann erweist sich die Verabsolutierung des Horizontalismus als Belas­tung. Doch unter Umständen ignoriert präfigurative Politik auch einfach die Kräfte, die der Schaffung und Entfaltung einer neuen Welt entgegenstehen. Das bloße Einfordern und Ausprobieren einer anderen Welt jedenfalls reicht nicht aus, jene Kräfte zu überwinden. Die politische Bilanz der Repression gegen Occupy zeigt das.104

      Die Frage, die sich präfigurative Politik daher unmittelbar stellen müsste, lautet daher: Wie kann unser politisches Handeln ausstrahlen und mehr erreichen?105 Selbst unter der recht problematischen Annahme, dass die meis­ten Menschen bereit wären, ein Leben wie die Aktivisten von Occupy zu führen, bliebe zu fragen, welche konkreten Schritte den beschränkten Raum des Camps physisch und sozial expandieren könnten. Wenn Intellektuelle auf diese Frage zu sprechen kommen, bleiben die Antworten gewöhnlich im Vagen: etwa, dass verstreute Momente angeblich »eine Resonanz« fänden, alltägliche Formen des Handelns irgendwann zu einem qualitativen Sprung führten, der die gesellschaftlichen Verhältnisse »knackt«, sich Revolten und Blockaden »ausbreiten und vervielfachen«, Erfahrungen die Beteiligten »kontaminieren« würden oder Nester präfigurativen Widerstands einfach »spontan aufbrechen«.106

      Wie auch immer, die Schwierigkeit, den Übergang vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Lokalen zum Globalen, vom Temporären zum Permanenten zu beschreiben, wird durch Wunschdenken übergangen. Die strategischen Notwendigkeiten – die politische Bewegung zu verbreitern, auszuweiten und zu verallgemeinern – bleiben Leerstellen.

      Obgleich es Occupy insgesamt nicht gelang, Grenzen zu überwinden und die präfigurativen Räume in die Gesellschaft hinein zu erweitern, spielten die Protestcamps eine wichtige Rolle als Ausgangspunkte politischer Interventionen. Tatsächlich war es eine der bedeutendsten Errungenschaften der Occupy-Bewegungen, eine soziale und physische Infrastruktur für die verschiedensten Formen direkter Aktion zu etablieren. In verschiedenen Ländern, etwa in Griechenland und in Spanien, wurden Schuldnerstreiks organisiert oder wilde Ausstände durch Streikposten unterstützt. Andere Occupy-Bewegungen beteiligten sich an Hausbesetzungen, versorgten Obdachlose mit Nahrungsmitteln, betrieben Piratensender, mobilisierten zum Widerstand gegen Zwangsräumungen, protestierten gegen Kürzungen staatlicher Beihilfen oder leisteten nach Naturkatastrophen humanitäre Hilfe. Doch sollte die Rolle von Occupy auch nicht überbewertet werden.

      Beispielsweise konnte der Widerstand gegen Zwangsräumungen und -vollstreckungen an die Arbeit bereits länger existierender politischer Kampagnen anknüpfen, etwa die der von schwarzen Aktivistinnen und Aktivisten getragenen Bewegung Take Back the Land.107 Das grundlegendere Problem ist indes, dass direkte Ak­tion Oberflächenphänomene aufgreift, die Wunden sieht, die der Kapitalismus schlägt, doch die zugrundeliegenden Probleme und Strukturen nicht berührt. Zwangsräumungen gibt es weiterhin zuhauf, die Verschuldung privater Haushalte erreicht neue Rekordstände, Beschäftigte werden auf die Straße gesetzt und die Zahl der Obdachlosen steigt weiter steil an. So waren es letztlich die Grenzen einer Propaganda der Tat, die Occupy offensichtlich werden ließ.108 Direkte Aktion kann erfolgreich sein, doch bleiben ihre Erfolge folkpolitisch bedingt und insofern räumlich und zeitlich beschränkt. Sie mag imstande sein, die schlimmsten Exzesse des Kapitalismus abzumildern, doch konzentriert sie sich häufig auf intuitiv erfassbare Ziele und wird daher niemals eine Antwort auf das Problem finden, wie sich eine global vernetzte Abstraktion bekämpfen lässt.109 Das Projekt einer expansiven Linken – einer Linken, deren Ziel es ist, den Kapitalismus grundlegend umzuwälzen – bleibt außen vor.

      Das Bild von Occupy, das sich daraus ergibt, zeigt eine Bewegung, die untrennbar verbunden war mit bestimmten Annahmen über die politischen Vorteile lokaler Räume, kleiner Gemeinschaften, direkter Demokratie und temporärer Autonomie an den Rändern der Gesellschaft. Derartige Überzeugungen machten es unmöglich, räumlich zu expandieren, nachhaltige Veränderungen zu etablieren und sich selbst zu verallgemeinern. Wirkliche Erfolge errang Occupy als eine Bewegung der Solidarität, die den Erniedrigten und Marginalisierten eine Stimme gab und öffentliches Bewusstsein weckte. Doch insgesamt blieb sie ein Archipel präfigurativer Inseln inmitten einer unerbittlich feindseligen kapitalistischen Umwelt. Der unmittelbare Grund für die Niederlage von Occupy war die staatliche Repression, die rücksichtslose Räumung der besetzten Plätze überall in den USA durch polizeiliche Aufstandsbekämpfungseinheiten. Die strukturellen Gründe für das Scheitern aber lagen in den Überzeugungen und Praktiken der Bewegung. Ohne den Brennpunkt der besetzten Räume zerfiel die Bewegung und löste sich auf.

      Letzten Endes hatte die Organisationsform von Occupy keine Antwort auf das Problem, wie die Bewegung hätte expandieren und eine Form von Gegenmacht entwickeln können, um der unausweichlichen staatlichen Reaktion Widerstand entgegenzusetzen. Was in einem bestimmten Rahmen – mit vielleicht hundert Beteiligten – möglicherwiese funktioniert, wird schwieriger, je weiter der Kreis gezogen wird.110

      Sucht linke Politik wirklich die Auseinandersetzung mit globalen Akteuren – mit dem neoliberalen Kapitalismus und dessen Entscheidungsstrukturen, mit führenden Staaten samt ihrer Militär- und Polizeiapparate sowie mit all den Konzernen und Banken weltweit –, dann ist es unumgänglich, die Ebene des Lokalen zu verlassen. Von Bewegungen wie Occupy ist gewiss viel zu lernen, doch bleiben sie auf sich gestellt außerstande, die Verhältnisse im Großen zu verändern.

       Argentinien

      Einen Beleg für erfolgreiche horizontalistische Politik scheint, wenn überhaupt, einzig das Beispiel Argenti­niens zu liefern, wo es landesweit zu einer Wende zum Horizontalismus kam und Arbeiter die Kontrolle über zahlreiche Fabriken übernahmen. Doch letztendlich wirft der Blick auf die argentinische Erfahrung vor allem ein neues Licht auf die Begrenztheit eines folkpolitischen Ansatzes. In Argentinien war es der Zusammenbruch der einheimischen Wirtschaft, der den gesellschaftlichen Wandel unmittelbar notwendig machte. Nach einer massiven Rezession im Jahr 1998 und einem danach ausbleibenden Aufschwung sank das argentinische Bruttoin­lands­produkt 2002 um mehr als ein Viertel. Einen Höhepunkt hatten die Spannungen bereits im Dezember 2001 erreicht, nach staatlichen Kürzungen und Finanzchaos kam es zu Massenprotesten. Das Ergebnis war der Rücktritt der Regierung und schließlich der Staatsbankrott. Nachdem sich der Staat als weder fähig noch willig erwiesen hatte, die Lage der Bevölkerung zu verbessern, waren die Menschen gezwungen, neue Wege zu gehen, um sich selbst zu helfen.

      Angesichts

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