Die Zukunft erfinden. Nick Srnicek

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Die Zukunft erfinden - Nick  Srnicek

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sondern gleichermaßen auch die der Beteiligten zum Ziel und sollten kommende Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens vorwegnehmen.

      Die damals entstehenden Bewegungen unterschieden sich in ihrem Aufbau und Aussehen, bezogen sich auf vielfältige Subjektivitäten, Räume und Bereiche, und sie verfolgten die verschiedensten Strategien und Taktiken. Doch jede von ihnen artikulierte auf ihre je eigene Art neue Bedürfnisse und Forderungen, die sich nicht ohne Weiteres in den traditionellen Formen linker Politik unterbringen ließen. Möglicherweise sind all diese Strömungen und Bewegungen als Ausprägungen eines allgemeinen »antisystemischen« politischen Phänomens jener Zeit zu betrachten.33 Rund um die Welt gab es Tendenzen, die Macht bürokratischer Apparate infrage zu stellen oder anzugreifen und auf ganz neue Formen direkter Aktion zu setzen, und sie reichten von den studentischen und feministischen Gruppen oder der Black-Power-Be­we­gung in den USA über die Situationisten, die Studenten- und Gewerkschaftsbewegungen sowie den antistalinistischen Prager Frühling in Europa bis zu den studentischen Revolten in Mexiko oder Tokyo und zur chinesischen Kulturrevolution.34 Im Extremfall war antisystemische Politik überzeugt, jegliche Form politischer Macht zeige immer schon unterdrückerische, patriarchale und bevormundende Züge.35 Das politische Handeln steht so vor einer paradoxen Situation: Kommt es in irgendeiner Form zu Verhandlungen oder zu einem Kompromiss mit bestehenden Machtstrukturen, erscheint die Neue Linke korrumpiert und vereinnahmt; entscheidet sie sich hingegen, jenen Strukturen fern zu bleiben, so wird sie die Gesellschaft nicht über jenen kleinen Bereich hinaus verändern können, der bereits von ihren Inhalten überzeugt ist.36 Die in vielen der antisystemischen Bewegungen formulierte Kritik an den etablierten Formen staatlicher, kapitalistischer und altlinker bürokratischer Macht trifft im Großen und Ganzen zu. Dennoch bot antisystemische Politik wenig Mittel, eine neue Bewegung zu schaffen, die in der Lage gewesen wäre, der kapitalistischen Hegemonie entschieden entgegenzutreten.

      Das Vermächtnis jener sozialen Bewegungen war ein ambivalentes. Die durch sie artikulierten Vorstellungen, Werte und neuen Bedürfnisse wirkten weltweit nach; die Stärkung feministischer und antirassistischer Positionen, die Rechte Homosexueller und die Kritik an bürokratischen Apparaten bleiben wichtige Fixpunkte. In dieser Hinsicht stellten jene Bewegungen ein absolut notwendiges Moment linker Selbstkritik dar, und das Erbe folkpolitischer Taktiken hat dort seine historischen Wurzeln. In den unruhigen Jahren, die auf den Aufbruch folgten, zeitigte die Unfähigkeit oder der fehlende Wunsch, die radikaleren Seiten jener politischen Bewegungen hegemonial werden zu lassen, allerdings ebenfalls weitreichende Konsequenzen.37 Die neuen sozialen Bewegungen waren zwar imstande, eine Reihe neuer und mächtiger Vorstellungen menschlicher Freiheit zu artikulieren, doch scheiterten sie daran, die taumelnde sozialdemokratische und wohlfahrtsstaatliche Ordnung zu ersetzen.

       Ausmanövriert

      Mitten im Aufschwung der neuen sozialen Bewegungen begannen die ökonomischen Voraussetzungen des wohlfahrtsstaatlichen Konsenses sich aufzulösen. Die 1970er Jahre erlebten enorm steigende Energiepreise, den Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods, eine zunehmende Globalisierung von Kapitalströmen, anhaltende Stagflation und sinkende Profitraten des Kapitals.38 Das grundlegende politische Arrangement der Nachkriegsepoche fand damit ein Ende: die einzigartige Verbindung aus keynesianischer Wirtschaftspolitik, fordis­tisch-korporatistisch geprägter Industrie und einem weithin getragenen wohlfahrtsstaatlichen Konsens darüber, einen Teil des gesellschaftlichen Surplus den Arbeitenden zugutekommen zu lassen. Mit der strukturellen Krise bot sich weltweit sowohl rechten wie auch linken politischen Kräften eine Gelegenheit, ein neues hegemoniales Projekt zu lancieren, das einen Ausweg aus der Krise versprach.

      Die Rechte sah es als ihre Aufgabe an, der Kapitalakkumulation und der Profitrate wieder auf die Beine zu helfen. Letzten Endes ließ sich diese Herausforderung dank der weltweiten Durchsetzung neoliberalen Denkens meistern, doch bereits vorher bemühten sich rechte Kräfte in Großbritannien und den USA, den politischen Einfluss der alten wie der neuen Linken auszumanövrieren. Zu einem ganz zentralen Hebel wurde die Strategie, die Krise des Kapitalismus politisch und ökonomisch der Macht der Gewerkschaften anzulasten.

      Die schließliche Niederlage der organisierten Arbeiterbewegung in allen wichtigen kapitalistischen Ländern war möglicherweise der entscheidende Durchbruch des Neoliberalismus: Sie veränderte das Kräfteverhältnis zwischen Arbeit und Kapital entscheidend. Die Mittel zur Erreichung dieses Ziels waren vielfältig und reichten von physischen Angriffen und Auseinandersetzungen über Gesetze, die Solidaritätsaktionen und Arbeitskämpfe erschwerten, bis zur Einführung veränderter Produktions- und Distributionsabläufe (wie etwa die Flexibilisierung der Lieferketten), die die gewerkschaftliche Macht schwächten. Hinzu kamen propagandistische Offensiven, um die öffentliche Meinung und den gesellschaftlichen Konsens zu beeinflussen und auf breiter Front die neoliberale Agenda durchzusetzen.39 Ganz entscheidend wurden die individuelle Freiheit und eine sogenannte negative Solidarität: nicht nur ein Desinteresse für gewerkschaftliche Anliegen, sondern ein aggressives und wütendes Gefühl ständiger Benachteiligung, das sich dadurch auszeichnet, die wachsenden Zumutungen im eigenen Arbeitsleben (wie Nullrunden beim Lohn, die Streichung von Zulagen, eine sinkende Rente) auch allen anderen zu wünschen. Im Ergebnis führten solche Veränderungen in allen Industrieländern zu einer Schwächung der Gewerkschaften und zu einer Niederlage der arbeitenden Klassen.40

      Der Rechten gelang es, sich in der strukturellen Krise erfolgreich zu behaupten und ihre politische und wirtschaftliche Macht zu festigen; die Bewegungen der alten und neuen Linken hingegen waren außerstande, der neuen Kräftekonstellation entschieden entgegenzutreten. In den 1970er Jahren war es sozialistischen und sogar kommunistischen Parteien in Westeuropa sukzessive geglückt, bei Parlamentswahlen zuzulegen; doch in der sich entwickelnden Krise setzte die alte Linke einfach nur darauf, an der überkommenen korporatistischen Agenda festzuhalten.41 Doch angesichts der veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen waren die bekannten keynesianischen Instrumente nicht länger geeignet, Wachstum zu generieren, die Erwerbslosigkeit einzudämmen oder die Inflationsrate zu senken. Linke und sozialdemokratische Regierungen, wie die der Labour Party in Großbritannien, sahen sich daher in den 1970er Jahren letztendlich gezwungen, eine im Kern neoliberale Politik zu machen, aus dem vergeblichen Bemühen heraus, die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen.42 Die traditionelle Arbeiterbewegung war geschlagen und wurde – apathisch und erstarrt, wie sie sich zeigte – von den Kräften der Rechten vereinnahmt. Die Kritik der Neuen Linken blieb insofern für die Erneuerung und Weiterentwicklung der Linken insgesamt unverzichtbar. Doch nicht nur die Organisationen der alten Linken waren in vieler Hinsicht ideenlos, auch die Neue Linke zeigte sich – wie oben bereits angemerkt – außerstande, sich institutionell zu verankern und ein gegenhegemoniales Projekt zu artikulieren. Das Ergebnis war eine zunehmend marginalisierte Linke.

      Mit der Ausbreitung und Konsolidierung des neoliberalen Common Sense akzeptierten auch die verbliebenen Sozialdemokratien mehr und mehr dessen Spielregeln. Die Mehrheit aller großen Parteien trug nun im Grunde das ökonomische und politische Programm des Neoliberalismus mit. Immer mehr Bereiche des öffentlichen Dienstes wurden privatisiert. Die Chancen, an der Wahlurne maßgebliche Veränderungen herbeiführen zu können, sanken dramatisch. Ein weit verbreiteter Zynismus begleitete den Bedeutungsverlust der Parteien: Parteipolitik nahm immer stärker Züge von Werbekampagnen an, Politiker wurden zu Krämern degradiert, die Ladenhüter loszuschlagen versuchten.43 Die Beteiligung und das Interesse an Wahlen sanken im gleichen Maß, in dem das neoliberale Koordinatensystem Zustimmung fand. Eine postpolitische Zeit begann. Heute sind Wähler weithin politikverdrossen, die Wahlbeteiligung erreicht immer neue historische Tiefststände. Unter solchen Umständen gewinnt das folkpolitische Insistieren auf schnellen Ergebnissen und einer basisnahen partizipatorischen Demokratie eindeutig an Attraktivität.

      Den neuen sozialen Bewegungen kam in diesem Prozess eine ambivalente Rolle zu. In den 1990er Jahren hatte die Arbeiterklasse als das privilegierte politische Subjekt endgültig ausgedient, und an ihre Stelle trat ein breites Spektrum sozialer Identitäten, Entwürfe

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