Die Zukunft erfinden. Nick Srnicek

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Die Zukunft erfinden - Nick  Srnicek

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wirkt auch direkte Demokratie unausweichlich restriktiv, sobald man sie als ein Ziel an sich verabsolutiert. Zunächst einmal erfordert diese Form demokratischen Handelns ein Niveau der Mitwirkung und des Engagements, das nur äußerst schwierig aufrechtzuerhalten ist. Ein Entwurf wie Parecon beispielsweise, ein Projekt partizipatorischer Ökonomie, sieht Verfahren direkter Demokratie in allen gesellschaftlichen Bereichen vor. In einer solchen Welt »nach dem Kapitalismus« würden Versammlungen der Beteiligten in jeder Verästelung des Alltags über jedes Detail entscheiden – schwerlich eine besonders inspirierende Vorstellung.85 Ähnliche Situationen entstanden in vielen Occupy-Versammlungen, wo selbst die banalsten Fragen akribisch im Kollektiv behandelt wurden.86 Die erbitterte Debatte, die während des Camps im Zuccotti Park über eine Gruppe lärmender Trommler entbrannte, bietet nur ein besonders absurdes Beispiel. Doch der eigentliche Punkt ist, dass direkte Demokratie ein erhebliches Maß an Beteiligung und Engagement verlangt – mit anderen Worten zunehmend Arbeit macht. In einem Augenblick revolutionären Enthusiasmus mag eine solche zusätzliche Belastung folgenlos bleiben, doch sobald die Normalität wieder Einzug hält, tritt sie einfach zu den gewöhnlichen Mühen des Alltags hinzu.87 Diese Zusatzbelastung durch die direkte Demokratie ist nicht zuletzt deshalb problematisch, weil auch sie tendenziell exklusiv wirkt: Wer es nicht einrichten kann, persönlich anwesend zu sein, wem größere Gruppen unangenehm sind oder wer Schwierigkeiten hat, öffentlich zu sprechen, der oder die wird ausgeschlossen – nicht zu vergessen all die anderen Exklusionsfaktoren wie Gender und Race, die ebenfalls eine Rolle spielen.88 Mit zunehmender Dauer der Besetzungen platzten General Assemblies immer häufiger, einfach unter der Last der Erschöpfung und des Überdrusses der Beteiligten. Das Problem der Demokratie heute, so lässt sich daraus schließen, besteht nicht darin, dass die Leute darauf aus wären, jeden einzelnen Aspekt ihres Lebens zu diskutieren und zu entscheiden; das wirkliche Demokratiedefizit liegt vielmehr in der Tatsache begründet, dass Durchschnittsmenschen jegliche Mitwirkung an wirklich bedeutenden gesellschaftlichen Entscheidungen entzogen ist.89 Die direkte Demokratie von Occupy ist eine Reaktion auf dieses Problem, doch versucht sie es zu lösen, indem sie Demokratie als direkte, körperliche Erfahrung inszeniert, die jedwede Vermittlung ablehnt. Hinzu kommt die Vorliebe für räumliche Unmittelbarkeit, die jede territoriale Ausbreitung hemmt. Einfach gesagt: Direkte Demokratie bedarf kleiner, überschaubarer Gemeinwesen. Bemerkenswerterweise wurde von den Hunderttausenden auf dem Tahrir-Platz in Kairo keine Vollversammlung einberufen, und selbst bei Occupy Wall Street nahm an der General Assembly nur ein Bruchteil der insgesamt Aktiven teil.90 Die Mechanismen und Ideale direkter Demokratie, die Diskussion von Angesicht zu Angesicht, sorgen dafür, dass eine solche Form politischer Beteiligung jenseits überschaubarer Gemeinwesen nur schwer zu realisieren ist und kaum als Antwort auf die Probleme der Demokratie auf regionaler, nationaler oder gar globaler Ebene gelten kann. Zudem ignoriert die räumliche Beschränkung direkter Demokratie die regressiven Aspekte kleiner sozialer Zusammenhänge. Nicht selten sind in solchen Gemeinschaften die aggressivsten Formen von Xenophobie, Homophobie und Rassismus zu Hause, und bösartige Gerüchte sowie alle möglichen sonstigen Arten rückwärtsgewandten Denkens gedeihen hier. Kleine Gemeinschaften, wie direkte Demokratie sie voraussetzt, sind für eine moderne linke Bewegung kein erstrebenswertes Ziel. Zudem kann eine partizipatorische Demokratie gut auf sie verzichten, insbesondere wenn sie sich der heute verfügbaren Kommunikationstechnologien bedient.

      Im Bemühen um Konsens ein grundlegendes Ziel politischer Willensbildung zu sehen, ist eine weitere folkpolitische Einschränkung von Occupy. Konsens sollte dazu dienen, Entscheidungen für alle akzeptabel zu machen, was wiederum Unmittelbarkeit und Nähe voraussetzt. Der Anarchist David Graeber stellt fest: »Es ist in einer Gemeinschaft, in der jeder jeden persönlich kennt, viel leichter herauszubekommen, was die meisten Mitglieder dieser Gemeinschaft tun wollen, als herauszufinden, wie man die Ansichten derjenigen ändern kann, die das nicht wollen.«91 Doch was auf der einen Ebene – nämlich im Rahmen der erwähnten Gemeinschaft, in der jeder jeden persönlich kennt – gut funktioniert, lässt sich auf einer erweiterten Stufenleiter ungleich schwerer umsetzen. Im Fall einer relativ heterogenen Bewegung wie Occupy drückte sich das Bemühen um Konsens unausweichlich in Forderungen aus, die, wenn sie überhaupt zustandekamen, nichts weiter als den kleinsten gemeinsamen Nenner formulierten.

      Letztlich glorifizierte man die Absenz gezielter Forderungen wortreich als irgendwie radikal. Innerhalb der Bewegung kursierte das Argument, Forderungen wirkten polarisierend und spaltend; insofern sie an »institutionelle« Mächte wie etwa den Staat appellierten, entfremdeten sie die Bewegung von sich selbst und verantworteten, dass jene Mächte die Bewegung vereinnahmten.92 Kritikerinnen einer solchen Position haben hingegen auf die durchaus vorhandenen positiven Aspekte einer Polarisierung hingewiesen: Zugespitzte Forderungen mögen manche Beteiligte verschrecken, doch gleichzeitig wirken sie mobilisierend auf andere, die sich für ihre Anliegen stärker engagieren. Und darüber hinaus tragen Zuspitzungen dazu bei, politische Differenzen innerhalb der Bewegung herauszuarbeiten – Differenzen, die in der Praxis häufig ignoriert werden, obwohl sie sich möglicherweise als unüberbrückbar erweisen.93

      Auch die plakative Ablehnung jeglicher Form vertikaler Organisation bei Occupy stellte ein Problem dar, das sich insbesondere im Verhältnis zu anderen, mit den Zielen der Bewegung sympathisierenden politischen Gruppierungen zeigte. Während die Bewegungen in Ägypten und Tunesien nachdrücklich die Verbindung zu bestehenden politischen Strukturen der Arbeiterbewegung in ihren Ländern suchten, lehnten die Occupy-Bewegungen im Westen solche Beziehungen weithin ab.94 Die Ablehnung jeglicher vertikalen Organisation nun führte zu dreierlei: erstens zu einer häufig lähmenden Entscheidungsfindung. Wenn Occupy aktiv wurde, ging die eigentliche Aktion in der Regel von einer Untergruppierung aus, die auf eigene Faust handelte, und nur selten von der Vollversammlung mit ihren Konsensentscheidungen.95 Anders gesagt: Horizontalität führte nicht zur politischen Praxis. Zweitens lehrt die Erfahrung, dass hierarchische Organisationsstrukturen von wesentlicher Bedeutung sind, wenn es darum geht, eine Bewegung gegen die Staatsmacht zu verteidigen. Die Verteidigung der Besetzung gegen die polizeiliche Repression war nicht ein Verdienst der Horizontalität, sondern hierarchisch organisierter Gruppierungen, die ihre Mitglieder mobilisierten, um Occupy zu unterstützen.96 In Ägypten spielten Fußballfans und religiöse Organisationen eine zentrale Rolle bei der Verteidigung des Tahrir-Platzes gegen die Gewalt des Staates und der Reaktion.97 Drittens schließlich war die Ablehnung vertikaler Organisationsformen ein wichtiges Moment, das einer räumlichen und zeitlichen Expansion der Bewegung entgegenstand. Verbindungen zu Gewerkschafts- oder Bürgerrechtsgruppen und selbst zu politischen Parteien hätten Occupy Möglichkeiten jenseits folkpolitischer Beschränkungen bieten können. In Ägypten beispielsweise waren es organisierte Arbeiter, die den Massenprotest in einen (Beinahe‑)Ge­neralstreik verwandelten, der das Land lahmlegte und dem Mubarak-Regime den letzten Stoß versetzte.98 In Island, Griechenland und Spanien waren Verbindungen zu politischen Parteien hilfreich und konsolidierten die politischen Erfolge der Besetzungsbewegungen. Occupy hingegen unternahm niemals Schritte, wie sie notwendig gewesen wären, wollte man gesellschaftliche Strukturen umwälzen – trotz des expliziten Bemühens, die eigenen Vorstellungen zu propagieren, und trotz der tatsächlich gewonnenen öffentlichen Aufmerksamkeit.

      Letztlich war es jedoch das Beharren auf einer rigiden präfigurativen Politik, das Occupy stark beeinträchtigte. Für eine solche Politik grundlegend ist die Haltung, eine künftige Welt bereits im Heute vorwegnehmen zu wollen – unsere Beziehungen zueinander zu verändern, um die postkapitalistische Zukunft im Hier und Jetzt zu leben. Exemplarische Aktionen wie Besetzungen spielen hierfür eine wichtige Rolle: In den besetzten Räumen soll eine nichtkapitalistische Welt Gestalt annehmen, die sich durch gegenseitige Hilfe, die Ablehnung von Hierarchien sowie eine rigorose direkte Demokratie auszeichnet. Zugleich sind solche Räume ihrem Selbstverständnis und ihrer Struktur nach immer schon temporär. Besetzungen schaffen keine Räume nachhaltiger Veränderung oder des Ausarbeitens konkreter Alternativen, und noch weniger haben sie die Ambition, dem globalisierten Kapitalismus die Stirn zu bieten. Sie sind temporäre Orte der flüchtigen Erfahrung unvermittelter Gemeinschaft.99 Ein Pamphlet einer studentischen Aktionsgruppe, das konkrete Forderungen als »reformistisch« ablehnt, beschreibt eine solche Haltung:

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