Die Zukunft erfinden. Nick Srnicek

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Die Zukunft erfinden - Nick  Srnicek

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es einen neuen Anlauf nimmt. Doch die Fetischisierung der »unmittelbaren praktischen Erfolge« führt, wie Rosa Luxemburg bereits vor langer Zeit hervorhob, einzig zu einem hohlen Pragmatismus, der eher dazu beiträgt, die bestehenden Kräfteverhältnissen aufrechtzuerhalten, statt bestrebt zu sein, strukturelle Machtbeziehungen zu verändern.23 Ohne die notwendige Abstraktion strategischer Überlegungen bleiben taktische Züge nur flüchtige Gesten. Im Übrigen passt der Verzicht auf Komplexität hervorragend zur neoliberalen Überhöhung des Marktes. Einer der Haupteinwände gegen Wirtschaftsplanung war immer, die Ökonomie sei einfach zu komplex, als dass sie sich lenken ließe.24 Es gebe daher keine andere Alternative, als die Ressourcenallokation dem Markt zu überlassen und auf jegliches planerische Experiment zu verzichten.25 Alles in allem genommen, erscheint Folk-Politik als der Versuch, den globalisierten Kapitalismus klein zu reden, um ihn denken zu können – verknüpft mit Vorstellungen, wie sich in einem derart verkürzten Kapitalismus handeln lässt. Wie wir in diesem Buch zeigen werden, liegt der folkpolitische Ansatz falsch. Übersteigt die Komplexität der Verhältnisse gegenwärtig die menschlichen Möglichkeiten, sie zu denken und zu kontrollieren, gibt es zwei Optionen: Eine besteht darin, die Komplexität auf ein menschliches Maß zu reduzieren, die andere setzt darauf, die menschlichen Möglichkeiten zu erweitern. Wir unterstützen die letztere Haltung. Jedes postkapitalistische Projekt ist notwendigerweise darauf angewiesen, neue kognitive Karten, politische Narrative, technologische Schnittstellen, ökonomische Modelle und kollektive Kontrollmechanismen zu entwickeln, um in der Lage zu sein, komplexe Phänomene zu beherrschen, und die Verhältnisse für die Menschen zu verbessern.

       Überholt

      Die Konjunktur folkpolitischen Denkens lässt sich zwar in gewisser Weise als eine Antwort auf die zunehmende Komplexität der Welt erklären, doch muss zugleich nach dem Ort eines solchen Denkens in der Geschichte linker Politik im 20. Jahrhundert gefragt werden. Oftmals ist die Hinwendung zu Folk-Politik eine verständliche (wenn auch unzulängliche) Reaktion auf Herausforderungen der vergangenen fünf Jahrzehnte – auf Auseinandersetzungen sowohl innerhalb der Linken als auch mit konservativen und kapitalistischen Kräften.26 Eine entscheidende Rolle spielte der Zusammenbruch des sozialdemokratischen und wohlfahrtsstaatlichen Blocks der Nachkriegszeit, die Auflösung des Zusammenhangs aus sozialstaatlich orientierten Institutionen und Parteien unter der Hegemonie des im System von Bretton Woods eingebetteten Liberalismus.27 Der Kollaps dieses sozialdemokratischen Blocks ereignete sich entlang verschiedener Entwicklungs- und Konfliktlinien und auf verschiedenen Ebenen: Von Bedeutung waren insbesondere das Entstehen neuer, mit affektiven und kognitiven Fähigkeiten verbundener Formen der Arbeit, die fortwirkende Energiekrise, durch die geopolitische Gewissheiten zerstört wurden, die sinkende Profitraten kapitalistischer Unternehmen, der Siegeszug der neoliberalen Ideologie, unterstützt durch ein institutionelles Geflecht aus Thinktanks und Universitäten, die Explosion neuer Formen politischer Subjektivitäten, Entwürfe und Forderungen sowie die gründliche Diskreditierung der realsozialistischen Staaten. Jedes dieser Momente trug dazu bei, die Grundlagen der gesellschaftlichen Nachkriegsordnung in Europa und Amerika aufzulösen. Im Verlauf dieser Entwicklung erwiesen sich alte linke Paradigmen als überholt, und neue wurden ausmanövriert.

      Der vielleicht bedeutendste Einschnitt in der Destabilisierung der Nachkriegsordnung fiel in die späten 1960er und frühen 1970er Jahre. In der globalen Revolte von ’68 traten linke Bewegungen hervor und wurden zum Stichwortgeber, die das durch Parteien und Gewerkschaften artikulierte Koordinatensystem des politischen Kampfes ablehnten. In diesen Bewegungen spielte nicht zuletzt die Geschichte der stalinistische Repression eine Rolle, und dies sowie die Erfahrung der Unterdrückung von Demokratisierungsbestrebungen in Osteuropa durch das Sow­jetregime führten dazu, kommunistische Parteien in den Augen vieler junger europäischer Linker zu diskreditieren. Infrage gestellt wurde so zugleich die Relevanz einer leninistischen Strategie zur Eroberung der Staatsmacht und der Führungsanspruch einer revolutionären Partei, deren Bündnis von Klassenkräften die industrielle Arbeiterklasse in den Mittelpunkt stellte.28 Doch wie konnte wirklich emanzipatorisches Handeln aussehen, wenn selbst »erfolgreiche« Revolutionen langfristig in sklerotischer Technokratenherrschaft und politischer Repression endeten? Die Hierarchie und der Avantgardeanspruch kommunistischer Parteien jedenfalls schienen mit den Zielen der sich herausbildenden sozialen Bewegungen zunehmend unvereinbar.

      Ganz abgesehen von den Schwierigkeiten, unter kommunistischer Führung den Übergang in postkapitalistische Verhältnisse zu bewerkstelligen, waren die Aussichten für eine linke Übernahme der Staatsmacht in den Industriestaaten der 1960er und 1970er Jahre eher gering, insbesondere angesichts der in der Linken sich entwi­ckelnden Fraktionierungen. Die Revolte des Mai ’68 in Frankreich, bei der die französische Kommunistische Partei bemerkenswerterweise den gewerkschaftlichen und studentischen Gruppen die Unterstützung verweigerte, markierte vermutlich das Ende der Aussichten auf eine politische Revolution. Die Sozialdemokratie mit ihren keynesianisch-korporatistischen Antworten auf soziale Ungleichheit hatte sich zunehmend einverstanden mit dem Bestehenden gezeigt und war deshalb weder in der Lage noch gewillt, sich in Richtung eines emanzipatorischen Sozialismus zu bewegen. Der Sozialdemokratie war es gelungen, die Lage bestimmter Gruppen erheblich zu verbessern, doch sie blieb ein autoritäres Unternehmen mit paternalistischer Rollenverteilung, das in der Regel Frauen und ethnische Minderheiten ausschloss. Wohlfahrtsstaatliche Politik entsprach einer Art der Organisation des Kapitalismus, dem Fordismus, der ein ungewöhnliches Niveau gesellschaftlicher Kohäsion schuf. Es war genau diese gesellschaftliche Kohäsion, die sich Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre aufzulösen begann: durch die massenhafte Artikulation neuer Bedürfnisse (beispielsweise nach mehr Flexibilität der Arbeit) wie auch durch neue, nachdrücklich formulierte politische Forderungen (nach Race- und Gender-Gleichheit ebenso wie nach nuklearer Abrüstung, nach Freiheit der sexuellen Orientierung oder gegen den Imperialismus des Westens). Ende der 1960er Jahre waren es solche neuen Herausforderungen, für die es aus den Reihen des vorhandenen sozialdemokratischen Personals keine Antworten mehr gab, und unter dem Druck von Wahlen begann sich die Sozialdemokratie von einer Massenpartei der Arbeiterklasse in eine zunehmend auf Bündnisse und Koalitionen angewiesene Partei der Mittelklasse zu verwandeln.29 Die in den sozialdemokratischen Parteien noch verbliebenen radikalen Elemente wurden zunehmend bedeutungslos.

      Die Parteiform befand sich im Niedergang, und das Erschrecken über die Realität der Herrschaft in den sogenannten kommunistischen Ländern spielte dabei ebenso eine Rolle wie die Enttäuschung über die Sozialdemokratie. Aus den Reihen der Neuen Linken gab es weitere Kritik: Frauen kritisierten die anhaltende Marginalisierung ihrer Stimme, die sie selbst in aktivistischen Gruppen, darunter auch vermeintlich radikalen Organisationen erfahren hatten. Gerade in den unverkennbar hierarchisch gegliederten Strukturen, wie Parteien und traditionelle Gewerkschaften sie aufwiesen, perpetuierten sich herrschende patriarchale und sexistische Verhältnisse, die auch die Gesellschaft insgesamt prägten. Um der gesellschaftlichen Unterdrückung etwas entgegenzusetzen, experimentierten Feministinnen verschiedentlich mit neuen Formen in der politischen Organisierung. Zu nennen wären etwa die Einführung eines Konsensprinzips bei Entscheidungsprozessen oder auch egalitäre, »horizontale« Diskussionsstrukturen. Jahrzehnte später sollte Occupy Wall Street damit weltweit bekannt werden.30 Neben feministischen Gruppen war gerade die studentische Neue Linke an den Universitäten bei allen sonstigen politischen Unterschieden häufig explizit antiautoritär und lehnte Bürokratie oder sogar formelle Organisationen insgesamt ab.31 Viele setzten in ihren politischen Taktiken vornehmlich auf die Wirkung direkter Aktion und waren durch die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung und frühe studentische Gruppen, aber auch durch die Ideen der Situationisten in Europa, durch die Politik anarchistischer Strömungen und die Anfänge der Umweltbewegung beeinflusst.32 Es ist der Entstehungszusammenhang der für die spätere Folk-Politik charakteristischen Orientierungen und Vorgehensweisen: von Sit-ins, Haus- und Platzbesetzungen bis hin zu karnevalesken Straßenprotes­ten und »Happenings«. Jede dieser politischen Taktiken entwickelte sich als eine Möglichkeit, das Funktionieren der Machtstrukturen im Alltag zu unterbrechen, die »normalen« Formen gesellschaftlicher Regulierung außer Kraft zu setzen und egalitäre Räume der

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