England's Dreaming [Deutschsprachige Ausgabe]. Jon Savage
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Eine Zufluchtsmöglichkeit war die Popkultur, die nun aus Amerika herüberschwappte. »Der erste Pop, den wir im Haus hatten, war Bill Haley and the Comets«, sagt Stuart. »Vorher gab’s Frank Sinatra und Bing Crosby, dann kam plötzlich diese wilde Musik auf. Ich interessierte mich nicht wirklich für die Samtkragen und die langen Jacketts, die die Teddy Boys trugen; ich mochte die Kreppschuhe und die Röhrenhosen und die italienischen Box-Jacketts mit kleinem Kragen und drei Knöpfen.«
»Stoke Newington, Clissold Park und Stamford Hill waren sehr schöpferische Orte, an denen man sich aufhalten konnte«, setzt Malcolm hinzu, »weil sich dort die ersten Teddy Boys herumtrieben, und in Tottenham, das in der Nähe war, gab es einen riesigen Tanzsaal: The Royal, wo ordentlich Rock’n’Roll abging. Ich erinnere mich oft daran, dass ich auf dem Weg zur Schule die Straße überquerte. Weil ich auf eine jüdische Schule ging, trug ich eine Kappe. Die Teddy Boys kamen auf einen zu und steckten ihre Hände in ihre Jacketts, als wollten sie andeuten, dass sich etwas Gefährliches darin befände. Ich war immer zu Tode erschrocken.«
Diese Viertel waren territorial strikt abgegrenzt, städtisch genug, um noch zum Großstadtkern zu gehören, aber nicht arm genug, um Ghetto zu sein: Englischer Pop war ein Produkt relativen Wohlstands. Randgebiete, wie diese Londoner Viertel, versprachen die Illusion von Veränderung. »Sich zurechtmachen war schon immer ein wichtiger Bestandteil des Ausgehens«, erinnert sich McLaren. »Meine Eltern hatten immer mit Mode zu tun, und ich wurde ständig von meinem Bruder inspiriert. Jeden Samstagabend besetzte er das Badezimmer und man konnte nicht hinein, egal wie dringend es war.«
Rose Isaacs (mitte) und Emily Edwards (rechts) um 1950 (© Stuart Edwards)
Nachdem er 1961 die Schule mit der Mittleren Reife verlassen hatte, sah sich Malcolm mit dem Problem konfrontiert, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Seine Mutter überredete ihn, einen Job bei Sandeman’s, dem Weinhändler in Piccadilly anzunehmen. Es folgten noch die verschiedensten Jobs, aus denen er sich grundsätzlich feuern ließ. Im Herbst 1963 belegte Malcolm einen Abendkurs im Aktzeichnen in der St Martin’s School of Art in der Charing Cross Road, aber seine Mutter erhob Einspruch gegen die Nackten, also wechselte er, noch immer unter der Knute seiner Familie stehend, zu 3D-Design und Grafik. Im Herbst 1964 begann er einen Diplom-Studiengang. Vorher kam es jedoch zum Bruch mit seinen Eltern.
»Die Anti-Establishment-Seite in ihm kam zum Vorschein«, sagt Stuart. »Er verbrachte viel Zeit in einem Club namens The Witches Cauldron in Hampstead, ein Treffpunkt für Beatniks, Bohemiens und Subversive. Dann gammelte er in der Welt herum und schlief auf Bänken. Meinen Eltern war das alles zuviel. Wie alle jüdischen Eltern dachten sie an Arzt oder Rechtsanwalt. Ihre Kunden waren das Wichtigste in ihrem Leben. Es waren jüdische Männer mit Geschäften oben im Norden, und sie erzählten: ›Mein Sohn hat seine Zulassung als Anwalt bekommen. Und was macht Ihr Sohn?‹ Meine Eltern sagten dann: ›Einer arbeitet in einem Männerbekleidungsgeschäft.‹ Das war ich. Malcolm hatte SCHWARZE FREUNDE! Er trieb sich mit allerlei Gesindel herum. Er wurde in Südfrankreich wegen Vagabundierens verhaftet. Wie hätte meine Mutter, die sich doch in Monte Carlo mit Charles Clore vergnügt hatte, das tolerieren sollen? Also verstieß sie ihn. Die einzige Verbindung zur Familie lief über die Großmutter, und das waren geheime Treffen. Sie bedeuteten immer, dass er in der Klemme steckte und Geld brauchte, und sie gab ihm Geld. Das ging so weiter, bis er schließlich bei Vivienne Westwood seinen Platz gefunden hatte.«
»Ich habe eine Art eingebaute Perversion«, sagt Vivienne, »eine Art eingebaute Uhr, die stets auf alles Orthodoxe reagiert.« Persönlich kann Vivienne Westwood zielstrebig bis zur Besessenheit sein. Verbal verhält sie sich ähnlich wie McLaren, ändert oft mitten im Satz ihre Meinung. Ihrer Logik kann man nur schwer folgen, aber sie macht nach einer Weile durchaus Sinn. Oft erklärt sich ihr Verhalten durch ihre aktuellen Projekte. Hinter ihrer offensichtlichen Schüchternheit hat sie sehr klare Ansichten von der Welt, und sie ist verwirrt, wenn Leute sie nicht teilen.
Das ist der ihr eigenen moralischen Autorität geschuldet – eine Mischung aus radikaler Gewissheit und einem Klassenbewusstsein, das der kleinlichen, polarisierenden Überzeugung einer Mrs Thatcher entspricht. Im April 1989 posierte Westwood in »verblüffender Ähnlichkeit« mit Mrs Thatcher auf dem Cover des Tatler. Westwood und Thatcher sind Spiegelbilder desselben nationalen Archetyps, ein Eindruck, der durch Viviennes Faszination von der Königin als nationalem Symbol – sowohl negativ (1977) wie positiv (1987) – bestätigt wird. Als Modedesignerin hat Westwood immer Wert darauf gelegt, dass ihre Kleidung einen Bezug zur englischen Psyche hat.
Geboren am 16. April 1941 war Vivienne das erste Kind von Gordon und Dora Swire und wuchs in Hollingworth, einem kleinen Dorf in der Nähe von Snake pass in Derbyshire auf. Ihr Großvater war sehr jung gestorben, und ihre Großmutter führte ihr ganzes Leben lang einen Gemüseladen. Dora (geborene Ball) war Weberin in einer Baumwollspinnerei und heiratete während des Krieges Gordon Swire, der Flugzeugmunition herstellte. Nach dem Krieg führten sie die Postfiliale in Tintwistle und zogen schließlich in den späten 50er Jahren nach Harrow.
Vivienne hatte eine behütete Jugend, geprägt vom calvinistischen Beharren auf harter Arbeit. »Meine Eltern waren nicht ungebildet«, sagte sie 1990, »beide waren sehr helle, clevere Menschen mit großem Unternehmungsgeist.« Alle drei Kinder der Swires – Vivienne, Olga (1943 geboren) und Gordon (1946 geboren) – bekamen eine höhere Ausbildung an Kunsthochschulen und Universitäten, wenngleich Viviennes Weg nicht so geradlinig verlief wie der ihrer Geschwister.
Nachdem sie die Schule verlassen hatte, arbeitete Vivienne als Aushilfe in einer Erbsenfabrik im Ort. Sie trug bereits sehr individuelle Kleidung und hatte Gefallen an einem Nachtleben gefunden, das im Juli 1962 zu einer Ehe mit Derek Westwood führte. »Mein Vater leitete mit seinem Bruder und ein paar Freunden Clubs in verschiedenen Orten,« erzählt ihr Sohn Ben Westwood. »Meine Mutter kümmerte sich um die Garderobe, mein Onkel stand an der Tür. Sie heirateten, bekamen mich und ließen sich 1966 wieder scheiden.«
Bevor Ben geboren wurde, hatte sich Vivienne in die Harrow Art School eingeschrieben, um das Silberschmiedhandwerk zu studieren, brach aber nach einem Semester wieder ab. Ihre eigentliche Liebe galt der Malerei. Nachdem sie in einer Fabrik gearbeitet hatte, um sich die Sekretärinnenschule zu ermöglichen, wollte sie Lehrerin werden. Nach einer Weile am St. Gabriels Teacher Training College in Camberwell verließ sie Derek Westwood und kehrte 1965 mit Ben nach Harrow zurück.
In dieser Zeit traf sie Malcolm McLaren und begann laut Fred Vermorel, ernsthaft zu arbeiten. Westwood behauptet etwas anderes. McLaren interessierte sich mehr für sich selbst und seine romantische Vorstellung von Kunst als Lebensweise: Bei seiner starken Bindung an die Großmutter war er mit 20 noch immer Jungfrau. 1966 schrieb er sich an der Schauspielschule ein, nahm dort Klavierstunden und studierte die Musik Bartóks. Malcolm begegnete Vivienne in einem von Dereks Nachtclubs.
»Ich teilte mir ein Haus mit einem Freund aus Harrow«, erzählt er, »mit Viviennes Bruder Gordon Swire und einem Haufen Amerikaner, die sich vor dem Wehrdienst drücken wollten und alle auf die Filmschule gingen. Vivienne lief ihrem Ehemann davon und lebte bei uns, sehr zu meinem Entsetzen, weil ich die Vorstellung verabscheute, Mädchen in diesem Haus wohnen zu lassen. Es waren nur Jungs, und so weit es mich betraf, würde es mit Mädchen fürchterlich unanständig aussehen. Ich trieb ihr Tränen in die Augen, und sie hatte dieses kleine Kind, das ich hasste und das ich ebenfalls zum Weinen brachte. Ich hatte sie beinahe überredet, wieder zu gehen, aber wegen ihrer nordischen Sturheit beschloss ich stattdessen, so zu tun als sei ich krank. Ich war neugierig darauf, im Bett einer Frau zu liegen, obwohl ich einundzwanzig war. Gott weiß, warum ich nicht schon vorher dran gedacht hatte. Ich beschloss, es mit Vivienne zu versuchen. Ich hatte das Gefühl, mit einer Lehrerin im Bett zu liegen, und das war sie auch. Diese ganze