England's Dreaming [Deutschsprachige Ausgabe]. Jon Savage
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Malcolm McLaren hatte bereits am radikalen Wind der Zeit geschnuppert und beschäftigte sich mit den Ideen des Südafrikaners Henry Adler. Jamie Reid war mit utopischer Politik aufgewachsen; Robin Scott war einfach auf Randale aus. Was auch immer ihre Beweggründe waren, alle beteiligten sich an einem Sit-in, das in Croydon eine Woche nach der berühmten Hornsey Art School Aktion stattfand. Am 5. Juni verbarrikadierten sich die Kunststudenten im Anbau in South Norwood und stellten unmöglich zu erfüllende Forderungen auf.
»Wir entwarfen eine Art Abschlussklassenmanifest über das Einreißen der Trennwände. Die meisten Forderungen richteten sich an den Lehrkörper; darüber ging es nicht hinaus«, sagt Robin Scott. »Wir fanden, dass die Wände zwischen Autoritäten und Studenten abgerissen werden sollten. In Hornsey gab es schlimmere Missstände als bei uns, aber wir befanden uns in einer apathischen Situation, Langeweile war das größte Problem. Es war an der Zeit, das System auf die Probe zu stellen und die Grenzen auszuloten.«
Die Aktion war vor allem ein Medienereignis: Die Studenten verschickten Pressemitteilungen und besetzten die Telefone. Am 12. Juni kam das Sit-in in die Zeitungen. »Unsere Lösung des ganzen Geredes über vernetzte Strukturen, wechselnde Jahrgänge und Abteilungen war einfach, die Trennwände einzureißen. Also machten wir das«, sagt Jamie Reid. Aber nachdem die ursprüngliche Begeisterung verflogen war, blieb die Frage, wie man weitermachen wollte. »Ich wurde zum Interessenvertreter der Studenten gewählt,« sagt Robin Scott, »und sollte dem Lehrkörper gegenübertreten. Mich hat das nicht interessiert, aber die Zeit lief uns davon.«
Als die Sommerferien begannen, hatte sich das Sit-in aufgelöst:
»Es war ein Wochenend-Picknick«, sagt Scott, »der Spaß war vorbei. Ich glaube auch nicht, dass Malcolms Absichten ernsthafter waren, denn als es zum Zusammenstoß kam, als es darum ging, etwas Konstruktives zu sagen oder zu tun, hatte er nichts zu sagen. Es war sogar so, dass er sich verpisste, als sich die Gelegenheit ergab, das System an der Croydon School of Art tatsächlich zu ändern.«
Jamie Reid hat eine andere Erinnerung: »McLaren und ich waren die Anstifter beim Sit-in, wurden von der Polizei unter Druck gesetzt und festgenommen. Einmal versuchte die Schulbehörde sogar, McLaren in eine Irrenanstalt einliefern zu lassen.« Das Sit-in öffnete Reid die Augen: »Ich entwickelte mich vom Studenten, der sich in seiner kleinen Nische Sorgen macht, in jemanden, der sehr bewusst wahrnimmt, was in anderen Teilen der Welt passiert – in Paris, der Aufstand in Watts, L.A.«
Das war die Kurzfassung des 68er-Mythos. Obwohl keiner der Studenten aus Croydon während der Unruhen in Paris war, behaupteten sowohl Malcolm als auch Jamie Reid, sie wären dagewesen, dabei besuchten sie Paris erst später in diesem Jahr: es passte perfekt zum radikalen Mythos der Sex Pistols. Für den Umgang mit ihm ist ihre tatsächliche Anwesenheit oder Abwesenheit unwesentlich. Beide fühlten sich durch den Augenblick verwandelt. Nachdem sie einmal von dem Elixier getrunken hatten, wollten sie nicht einfach nur das Gefühl aufrecht erhalten, sondern dafür sorgen, dass es wieder passierte.
Die Unruhen von 1968 trafen mit einer Umwälzung der Wahrnehmung zusammen. Als die erste »Medien«-Generation nach dem Krieg das Erwachsenenalter erreichte und sah, wie die Welt funktionierte, stellte sie fest, dass sie nicht mit ihren Erfahrungen übereinstimmte. Die spielerischen Techniken der Situationistischen Internationale (SI) trugen nicht nur zum Ausbruch der Unruhen bei – das von den Situationisten inspirierte Über das Elend im Studentenmilieu hatte den Studentenprotesten in Nanterre Zündstoff geliefert –, sondern bestimmten auch den paradoxen Stil der Graffiti und Poster.
»Ich hatte im radikalen Milieu von den Situationisten gehört«, sagt McLaren. »Man ging zu Compendium Books. Wenn man nach Literatur fragte, musste man einen Blicktest bestehen. Dann bekam man diese wunderschöne Zeitschrift mit dem spiegelnden Umschlag in verschiedenen Metallicfarben: gold, grün und mauve. Der Text war französisch: Man versuchte, sich durchzukämpfen, aber es war sehr schwer. Immer, wenn man sich zu langweilen begann, gab es eine dieser wunderbaren Abbildungen, und die brachen die ganze Sache auf. Wegen ihnen habe ich sie gekauft, nicht wegen der Theorie.«
Ebenso wie die psychedelischen Grafiken in den englischen und amerikanischen Underground-Magazinen zeigten diese Slogans und Poster, die die Praktiken der Medien sowohl parodierten als auch angriffen, dass Leuten, die selbst nicht Zeugen der Ereignisse waren, eine Vorstellung von deren Möglichkeiten vermittelbar war. Als der aggressive rhetorische Stil mit dem Maoismus der Zeit verschmolz, traten die verwirrenden Wahrnehmungstricks der SI, ebenso wie der Anarchismus, zunächst in den Hintergrund – bis sie durch entsprechend veränderte Bedingungen wieder reaktiviert wurden.
Wie Michèle Bernstein 1964 schrieb: »Die Situationistische Internationale wurde 1957 auf einer Konferenz in Italien von Künstlern aus verschiedenen europäischen Ländern gegründet. Einige kamen aus den um 1950 entstandenen Avantgarde-Bewegungen, die damals aber noch völlig unbekannt waren: COBRA in Nordeuropa und der Lettrismus in Paris. Zu Beginn bestand das Ziel darin, über die künstlerische Spezialisierung hinauszugehen – über die Kunst als getrennte Aktivität.«
»In der Anfangsphase«, schrieb Peter Wollen in Bitter Victory, »entwickelte die SI eine Reihe von Ideen, die ursprünglich aus der Lettristischen Internationale kamen, von denen die bedeutendsten der urbanisme unitaire, die Psychogeographie, das Spiel als freie und kreative Aktivität, das derive (Umherschweifen) und das detournement (Entwendung) sind. Künstler sollten die Trennung zwischen individuellen Kunstformen überwinden, um Situationen zu schaffen, konstruierte Begegnungen und kreativ gelebte Momente in urbanen Umgebungen, Augenblicke eines veränderten Alltagslebens.«
Dies war ein ehrgeiziges, aber dynamisches Projekt. Pinot Gallizios pittura industriale – mit Malmaschinen und Sprühpistolen nach dem Zufallsprinzip bearbeitete Papierrollen – konnten eine ganze Stadt bedecken und gleichzeitig einen bissigen Kommentar zur Industrialisierung der bildenden Kunst abgeben. 1959 stellte Asger Jorn seine Modifications aus, Kitschkunst, die auf Flohmärkten gekauft und übermalt wurde.
In den frühen 60er Jahren wurde die Situationistische Internationale zunehmend vom theoretischen und dogmatischen Guy Debord dominiert. 1967 veröffentlichte er Die Gesellschaft des Spektakels, ein Buch, das sich bei Philosophen wie Sartre, Lefebvre und Lukács, sowie Urbanisten wie Lewis Mumford bediente. Mittels dieser brillanten Collage aus avantgardistischer Kunst, marxistischer Theorie und existentialistischer Anstößigkeit gestaltete Debord eine Sprache, eine Art negatives Mantra, mit dem das Unbewusste bearbeitet wurde.
Das Buch bringt die Kritik des Alltagsleben auf den neuesten Stand und beschreibt die Nachkriegsbedingungen, durch die Menschen mittels gleichgeschalteter Medien – Fernsehen, Zeitungen, Popmusik und Kultur – versklavt werden. »Die durch und durch zur Ware gewordene Kultur«, schrieb Debord in These Nummer 193, »muss auch zur Star-Ware der spektakulären Gesellschaft werden. [...] In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts (wird die Kultur) die treibende Rolle in der Wirtschaftsentwicklung spielen, die in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts vom Automobil und in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts von der Eisenbahn gespielt wurde.«
In den 60er Jahren dominierte Debords Persönlichkeit die SI, was sowohl die Dynamik der Bewegung beeinflusste – ablesbar an den Spaltungen und Ausschlüssen – als auch die Verbreitung der Produkte und Ideen der SI im Vereinigten Königreich forcierte. Bereits 1960 fand eine SI-Konferenz in Großbritannien statt, an der auch die britischen Mitglieder teilnahmen, wie der Maler Ralph Rumney und der schottische Dichter und Beat-Autor Alex Trocchi. Abgesehen von Trocchis utopischer »Sigma«-Bewegung übersprang Großbritannien größtenteils die erste, konventionell-künstlerische Phase