Grenzgänger. Klaus Mertes

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Grenzgänger - Klaus Mertes

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von Paris über die Frage, ob das Saargebiet wieder unter deutsche Hoheit kommen sollte. Mein Vater war dafür, meine Mutter auch. In dieser Hinsicht gab es also kein Problem mit der Familie meiner Mutter. Aber meine Mutter erzählt gerne die Geschichte, dass mein Vater von ihrer Familie zunächst ein bisschen skeptisch betrachtet wurde; die Eifel galt im vergleichsweise weltläufigen Saarbrücken als ziemlich rückständig. Doch als mein Vater sich dann ans Klavier setzte und Schubert-Lieder sang, war das Eis gebrochen.

      Mein Vater war ein herzlicher Mensch. Die Familie war sein Refugium, sein Zufluchtsort. Deswegen war ihm auch Harmonie in der Familie wichtig. Das konnte dazu führen, dass Konflikte in der Familie, die nicht ausbleiben, von ihm eher als emotionale Belastung empfunden wurden. Da war eine seiner Grenzen. Meine Mutter war da stärker. Sie konnte emotionale Konflikte auf ihren sachlichen Kern zurückführen und so entschärfen.

      Eine oft wiederkehrende Meinungsverschiedenheit meiner Eltern bezog sich darauf, dass mein Vater durch seinen Beruf oft außer Haus und für die eigene Familie kaum da war. Viel später habe ich das, obwohl ich sehr stolz auf meinen Vater war, auch als einen Mangel empfunden. Ich erinnere mich, dass er mich zwei, drei Wochen nach meinem mündlichen Abitur fragte, wann ich denn eigentlich mein Abitur mache. Das hat mich nicht verletzt, sondern es hat mich eher belustigt. Wenn ich heute die narzisstischen Festspiele rund um das Abitur sehe, muss ich sagen: Das ist ja auch nicht mehr normal. – Die Ferne des Vaters war sicher ein wichtiger Punkt. Andererseits war er, wenn er dann einmal da war, so stark präsent, dass es vielleicht auch gut war, dass er nicht zu oft im Hause war.

      Mein Vater und meine Mutter haben sich geliebt, ganz sicher. Das war für uns in der Familie ohne Zweifel. Aber: Es war diskret.

      Die Mutter – Im entscheidenden Augenblick Leben retten

      Meine Mutter – sie ist jetzt 88 Jahre alt – stammte aus einer katholischen Saarbrücker Familie. Ihr Vater war, wie gesagt, Arzt. Meine Großmutter mütterlicherseits war eine gute Pianistin. Eine Erfahrung mit meiner Mutter war prägend: Einmal spazierten wir, in der Pariser Zeit, durch den Bois de Boulogne. Da fiel meine Schwester in den See. Meine Mutter ist, ohne zu zögern, in ihren Kleidern ins Wasser gesprungen und hat sie gerettet. Das ist ein unauslöschliches Bild der Erinnerung: dass sie im entscheidenden Augenblick Leben rettet.

      Meine Mutter ist eine Frau, die sich nicht gerne in der Öffentlichkeit zeigt. Positiv gesagt: Sie ist nicht eitel. Sie ist zurückhaltend. Sie hat immer Wert darauf gelegt, dass wir Kinder „normal“ bleiben, dass wir uns nicht als die scheinbar tolle Familie inszenieren, nicht protzig auftreten. Darauf achtete sie. Es war ihr eher unangenehm, wenn mein Vater voller Stolz seine Kinder in jeder Kirche, in die wir reinkamen, präsentierte, und sagte: „Wir können auch gerne gregorianische Choräle während des Gottesdienstes singen.“ Da war sie zurückhaltend, ja scheu.

      Sie brachte die Themen in die Familie ein, die meinem Vater fremd waren. Nachdem mein Vater in die Politik gegangen war, machte sie eine Ausbildung in der Telefonseelsorge und hat dann dort auch praktisch gearbeitet. Dabei ist sie natürlich auf Lebensthemen gekommen, die in unserer Familie zuvor gar nicht groß debattiert wurden. Zuvor ging es um Außenpolitik, Philosophie, Thomas von Aquin*, Guardini, Luther und „renouveau catholique“*. Für Fragen wie Sexualität, Homosexualität, voreheliche Beziehungen, zerbrochene Ehen hatte meine Mutter ein Ohr. Deswegen wurde sie für mich über Jahre hinweg eine sehr wichtige Gesprächspartnerin. Ich konnte mit ihr Fragen besprechen, die meinen Vater – so sehe ich es im Nachhinein – überfordert hätten.

      Wenn mein Vater einmal eine Illustrierte, eine „Quick“ oder einen „Stern“ kaufen musste, weil dort ein wichtiger politischer Artikel stand, dann hat er diesen Artikel ausgeschnitten und den Rest wegen der Bikini- und Nacktbilder gleich in den Müll geworfen. Manchmal lagen wir Geschwister abends vor dem Fernseher und guckten uns irgendeinen Film an. Dummerweise kam mein Vater immer bei den Stellen rein, wo sich Mann und Frau knutschten, und sagte: „Müsst ihr euch so etwas angucken?“ Er lebte in den Diskretions- und Schamgrenzen seiner Zeit, die immer mehr zu schwinden begannen.

      1985 ist mein Vater ganz plötzlich, drei Tage nach einem Schlaganfall, gestorben. Selbstverständlich war das für uns alle ein Einschnitt. Was der Tod eines Vaters bedeutet, begreift man erst langsam, im Laufe von Jahren. Direkt danach beschäftigten uns viele Fragen. Die ganze Ernte dieses Lebens wurde für uns angesichts seines Todes auf einmal sichtbar: Die vielen Kondolenzschreiben, die Besuche, das Bemühen, das Erbe meines Vaters zu sichern. Wir haben das Requiem gemeinsam vorbereitet. Die Sprache des Glaubens der katholischen Kirche hat uns dabei die Vorlage gegeben.

      Meine Mutter ist dann relativ bald aus dem großen Familienhaus in Wachtberg-Pech bei Bonn ausgezogen in eine Wohnung in Bad Godesberg. Das empfand ich immer als einen starken Ausdruck für ihre Auffassung, dass das Leben weitergeht. Sie trauerte, aber sie haderte nicht. Sie konnte mit Dankbarkeit auf alles Gute zurückblicken, das sie im gemeinsamen Leben mit meinem Vater erfahren hatte.

      Die Religiosität meiner Mutter ist, wie die des es Vaters war, ganz tief. Sie ist aber zugleich angefochtener. Und darin ist sie mir dann auch wieder näher.

      Die Religiosität meines Vaters hatte bei allem intellektuellen Problembewusstsein doch eine ganz tiefe Unangefochtenheit. Sie wurde aber in den Siebziger-, Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts auch bedroht. Es war für ihn, den Verteidiger der Nachrüstung, eine bittere Erfahrung, mit dieser Position auf Kirchentagen auftretend, dafür beschimpft zu werden. Das – und anderes in jener Zeit – hat ihn in tiefe, innere Krisen geführt. Kirche war für ihn nicht mehr nur Heimaterfahrung, sondern wurde nun auch ein Ort, an dem er infrage gestellt wurde. Das hat ihn emotional verunsichert.

      Glück und Erfahrung der Grenze

      Zusammenfassend, viele Einzelheiten auslassend, kann ich sicher sagen: Ich hatte eine glückliche Kindheit. Es gab natürlich auch die Brüche und Abbrüche. Ich bin auch an Grenzen gestoßen. Die glücklichen Erfahrungen haben auch Erwartungen an „Familie“ geweckt, die einfach zu hoch waren. Ich lernte später, dass ich eine Verantwortung für mein Leben hatte, die ich nicht der Familie aufbürden durfte.

      Irgendwann musste ich dann die Kindheit mit der Wirklichkeit des Erwachsenseins abgleichen. Das war ein sehr schmerzlicher Prozess. Die relativ späte Ablösung von dieser kindlichen Identifikation mit der Familie hat mich Kraft gekostet. Ich musste lernen: Was kann ich heute als Erwachsener von der „alten“ Familie erwarten und was und wo ist da jetzt meine „neue“ Familie, der Jesuitenorden, die Menschen, die mir neu begegnen werden? Ich lernte, eigene überzogene Erwartungen zurückzunehmen.

      Wachsende Interessen – Berufswünsche

      Eine spannende Sache im Kindheits- und Jugendalter ist die Frage nach dem Berufswunsch. Interessanterweise war bei mir schon sehr früh das Thema „Mönch“ gegenwärtig. Auf den vielen Reisen durch Frankreich haben wir oft Benediktinerklöster besucht. Die Mönche und ihr Gesang haben mich tief berührt. Dann gab es in Frankreich damals auch neue geistliche Bewegungen. In ihnen herausragende Gestalten, die auch meine Eltern faszinierten, wie Charles de Foucauld*, wie Madeleine Delbrêl*. Große Namen – nicht nur für die Eltern, auch für mich. Denen habe ich mich angenähert. Ich fand ihr Eremitsein faszinierend.

      Begeistert war ich auch von der Begegnung mit der russischen Literatur, von der russischen Frömmigkeit. Von den Starzen* zum Beispiel. Ich spürte: Religion hat auch etwas zu tun mit radikalen Lebensentwürfen.

      In der nachträglichen Reflexion spielt auch etwas anderes eine große Rolle: In den Ostertagen war es in unserer Familie üblich, dass auf dem Grundig-Plattenspieler die Vertonung der Ostergeschichten von Heinrich Schütz* erklang. Da wurde Jesus mit einer Doppelstimme gesungen, Bariton und Falsett-Tenor. Ich

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