Grenzgänger. Klaus Mertes

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Grenzgänger - Klaus Mertes страница 6

Grenzgänger - Klaus Mertes

Скачать книгу

aktiv waren, in einer Weise mit marxistischem Vokabular umgingen, die seinen ideologiekritischen Maßstäben widersprach. Er hatte zudem noch 1968/69 ein Sabbatical in Harvard absolviert und dort im Seminar bei Henry Kissinger* geforscht und gelehrt. Dass die lateinamerikanische Theologie und die dortige Kirche die USA für die Lage in Lateinamerika verantwortlich machten und Kissinger umgekehrt die Jesuiten für gefährlich hielt, brachte ihn in Loyalitätskonflikte – so meinte ich es jedenfalls manchmal zu spüren.

      Mein Vater rief mich gelegentlich an, und wir sprachen dann auch über solche Spannungen. Ich hatte dabei das Gefühl, dass er mir sein theologisches Vermächtnis übergeben wollte. Das bestand im Kern darin, mir die Relativität von Politik und die Relativität dessen, was Politik leisten kann, vor Augen zu führen. Ein wichtiger Gedanke, den er letztlich von Augustinus und Luther geerbt hatte, war, dass es gar keine Möglichkeit gibt, als Politiker „ohne Sünde“ zu entscheiden, weil die Dilemmata der Politik so sind, dass man am Ende nur noch die Hände falten und auf die Barmherzigkeit Gottes hoffen kann – aber trotzdem entscheiden muss. Das war ein „Schlüssel“, den er mir immer wieder in die Hand gegeben hat und den ich bis heute mit mir trage. Das stimmt ja auch.

      Ich habe von meinem Vater auch das Wissen geerbt, dass es wirklich schwierige ethische Dilemmata gibt, ausweglose Situationen, insbesondere dann, wenn man selbst in verantwortlichen Positionen steckt. Und dass alle, die meinen, man kann sie auf eine einfache Formel bringen, danebenliegen.

      Aber in der radikalisierten Sprache der Achtzigerjahre war eine Eindeutigkeit drin, die ihm Sorgen machte.

      Die Entscheidung für die Jesuiten war intuitiv

      Zurück zum Eintritt in den Orden. Ich bin eingetreten, ich war da, und meine Entscheidung war gefallen. Punkt! Das ging sogar so weit – das Noviziat ist ja dazu da, dass man sich zwei Jahre prüft, ob man die Gelübde ablegen will oder nicht –, dass ich gar keinen Anlass sah, mich zu prüfen, ob meine Entscheidung richtig war oder nicht. Sie war für mich klar.

      In den Großen Exerzitien des Ignatius von Loyola*, des Gründers des Jesuitenordens, werden drei Wahlzeiten, das heißt: drei Weisen der Entscheidung genannt: Die erste ist intuitiv. Bauchgefühl. Die zweite besteht in der bewussten Abwägung von Emotionen: Wo empfinde ich mehr Freude, wo empfinde ich mehr Traurigkeit? In der dritten Wahlzeit werden Pro und Contra rational gewichtet. Bei mir war es wohl die erste Wahlzeit: Bauchgefühl. Ich bin dann zwar ganz schnell in massive Verunsicherungen hineingeraten. Sie stellten aber überhaupt nicht für mich infrage, dass meine Entscheidung richtig war.

      Der Eintritt in den Jesuitenorden war für mich alles andere als ein Abschluss. Er war der Beginn eines neuen Weges, der mich in mich völlig überraschende, neue Welten hineingeführt hat.

      Ein total bunter Haufen – Befremdliche Erfahrungen

      Ich bin aus traditionsbejahenden Gründen Jesuit geworden. Und trat dann in einen Jesuitenorden ein, der gerade dabei war, die Traditionen, eine nach der anderen, abzuräumen. Mir sind im Noviziat Typen begegnet, denen ich bisher noch nie begegnet war oder die für mich der Inbegriff des Schreckens waren. Zum Beispiel langhaarige, gitarrespielende Wilhelm-Wilms-Lieder singende Freaks. Seufz! Ich war ja eher hochkirchlich geprägt, auch von der Orthodoxie her. Für mich war schon, wie auch für meinen Vater, die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils auch mit Abschiedsschmerzen verbunden gewesen. Mir war das conferenciérartige Auftreten von Priestern, die „da vorne“ Traditionen abschafften, ein Gräuel. Da fielen Traditionen, die meine Eltern und mich geprägt hatten, einfach weg. Auch musikalisch. Ich war ja eher noch bei Mozart und Heinrich Schütz. Die Melodien der neuen geistlichen Lieder und oft mehr noch die Texte waren mir sehr fremd, vor allem im Kontext von Gottesdienst. Befremdend war für mich auch das Erlebnis von charismatischen Gottesdiensten, waren Mitbrüder, die in der Charismatischen Bewegung* engagiert waren und mit großer Überzeugung behaupteten, dass sie den Heiligen Geist erfahren hätten. Für meine intellektuell geprägte Frömmigkeit war es irritierend, wenn Gottesdienstteilnehmer plötzlich anfingen, in Zungen zu reden. Mit anderen Mitbrüdern, die das ähnlich empfanden, bin ich abends zusammengesessen, und wir haben darüber abgelästert, um überhaupt mit dieser Fremdheit zurechtzukommen. Inzwischen habe ich oft für dieses hochmütige Lästern nachträglich um Verzeihung gebeten.

      Der Orden war zu jener Zeit ein total bunter Haufen. Der Noviziats-Jahrgang, der vor mir eingetreten war, war bis auf zwei Mitbrüder komplett ausgetreten. Die traten dann auch noch eine Woche vor der Ablegung der Gelübde aus, sodass vor uns plötzlich alles leer, niemand mehr da war. Ich spürte: Da ist eine tiefe, tiefe Verunsicherung.

      Ich hatte mich eher auf einen monastisch gegliederten Tagesablauf gefreut. Das Gegenteil war der Fall! Es gab natürlich eine Ordnung: Tägliche Messe, Instruktionen und so. Aber ansonsten war das eine bunte Truppe. Das große Thema, das unser Novizenmeister immer wieder aufbrachte, hieß „Eigenverantwortung“, oder Freiheit, Sich-nicht-Unterwerfen unter eine sakralisierte Lebensordnung. Er gehörte der Generation der Reformer nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil an und ließ alle Debatten zu. Ganz schnell bekam ich ein Autoritätsproblem. Ich forderte ihn auf: „Jetzt sag’ doch mal, wie wir’s machen sollen, und dann machen wir es so!“ „Nee“, sagte er. Wir mussten uns täglich zusammenraufen, mussten über Fragestellungen sprechen, die ich einfach ärgerlich fand. Stundenlang haben wir beim Abendessen zum Beispiel darüber diskutiert, ob in der Fastenzeit Bier getrunken werden darf oder nicht. – Es war im Grunde eine WG-Situation, in der man das Rad des Zusammenlebens mehr oder weniger neu erfinden musste. Heute bin ich meinem Novizenmeister für seinen Widerstand gegen mein Drängen nach autoritären Klärungen sehr dankbar.

      Sehr schön war im Noviziat, dass direkt nebenan das Altersheim war. Da schlurften die ganz alten Mitbrüder rosenkranzbetend durch den Park. Die kamen dann manchmal zu uns Jungen und sagten, dass sie sich Sorgen machten über den liberalen Kurs, den der Orden nun eingeschlagen hatte. Ich konnte denen innerlich schon Zuneigung und Zustimmung entgegenbringen.

      Den Rosenkranz hatte ich als Kind und Jugendlicher auch gebetet. Wenn wir in Gerolstein waren und es ein Gewitter gab, dann haben wir die Rollläden zugemacht, eine Kerze angezündet und den Rosenkranz gebetet. Das war eben unsere Welt. Viele von meinen Mitbrüdern fanden es hingegen unverständlich, Rosenkranz zu beten. Es wurden Dinge abgeschafft, die ich gern hatte, die ich geliebt habe. Die waren einfach plötzlich weg. Da habe ich mich dann innerlich auch manchmal zu den älteren Mitbrüdern geflüchtet. Ich habe das Väterliche gesucht. Aber ich wusste auch: Das ist ja nicht die Zukunft! Das waren ja alte Männer, zum Teil auch pflegebedürftig, jedenfalls nicht meine künftigen Gefährten.

      Im Noviziat wurde für mich einfach alles infrage gestellt. Unter den Novizen waren auch welche, die schon Theologie studiert hatten. Die redeten in einer Sprache, die ich überhaupt nicht verstand. Ich fühlte mich intellektuell nicht anschlussfähig. Dann schleppte mich plötzlich mal einer von ihnen mit zu einer Vorlesung von Johann Baptist Metz* in Münster. 1977 kam auch gerade sein Buch Zeit der Orden? heraus, in dem er die prophetische Funktion der Orden hervorhob. Propheten, das waren für mich bisher die großen Propheten der Bibel gewesen. Dass es heute Propheten gibt und dass wir es sogar sein sollten, das lag mir völlig fern.

      Das Noviziat war für mich eine große Konfrontation mit einer mir bisher völlig fremden Welt. Aber ich verlor dennoch nie die Gewissheit, dass ich mit meiner Grundentscheidung richtig lag. Die Entscheidung war gefallen. Bis heute. Letztlich nie mehr grundlegend angefochten. Es hat Krisen gegeben. Ich war immer auf der Suche nach Beziehungen im Orden, nach Freundschaften, nach Nähe. Ich konnte ja nicht nur in Konflikten leben! Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte habe ich auch ganz viel geschenkt bekommen. Es sind Freundschaften auch im Orden und auch mit anderen Ordensleuten entstanden, auch mit Nichtordensleuten, mit Mitstudierenden, mit ehemaligen Schülerinnen und Schülern. Heute bin ich sehr dankbar für die vielen Menschen, die zu mir gehören und zu denen ich gehören darf.

Скачать книгу