Sozialfirmen. Lynn Blattmann
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Erwerbsarbeit ist ein zentrales sinnstiftendes Element in unserem Leben. Eine reguläre Stelle zu haben ist eine unverzichtbare Voraussetzung für die gesellschaftliche Teilhabe. Ein Arbeitsplatz hat nicht nur eine existenzsichernde Funktion, Arbeit zu haben bedeutet auch, eine Aufgabe zu haben, gebraucht zu werden und einen Beitrag zu einem größeren Ganzen zu leisten. Die meisten Menschen finden Sinn in ihrer Arbeit und leiten ihre persönliche Identität maßgeblich von ihrer Erwerbsarbeit ab. In unserer Gesellschaft kommt der Erwerbsarbeit ein besonders hoher Stellenwert zu, unbezahlte Familien- oder Erziehungsarbeit oder andere unbezahlte Beschäftigungsformen genießen ein weitaus geringeres gesellschaftliches Ansehen. Vollbeschäftigung gilt immer noch vielerorts als erstrangiges sozialpolitisches Ziel. Am Glauben an den zentralen Stellenwert der bezahlten Arbeit haben auch große Wellen der Arbeitslosigkeit nichts geändert. Schlagworte wie »Vollbeschäftigung als oberstes Ziel« prägen die europäische Wirtschafts-und Sozialpolitik nach wie vor. So wurde im deutschen Wahlkampf 2009 die Vollbeschäftigung von links bis rechts als »nicht unrealistisches Ziel« bezeichnet, und auch die Schweiz richtet ihre Sozialpolitik immer noch am Ideal der Vollbeschäftigung aus. Diese Vorstellung mag zwar heute noch leitend sein für die Sozial-und Wirtschaftspolitik der EU und vieler europäischer Landesregierungen, dennoch verkennt er die aktuellen Entwicklungen. Vollbeschäftigung ist für die meisten Länder zu einer Utopie geworden.
Es sind nicht nur die konjunkturellen Schwankungen, die das Ziel einer Vollbeschäftigung als utopisch erscheinen lassen. Die Produktionsverschiebungen im Zusammenhang mit der Globalisierung haben dazu geführt, dass fast alle europäischen Länder heute eine gewisse Sockelarbeitslosigkeit aufweisen, die auch während konjunktureller Hochs nicht abgebaut werden kann. Ganze Bevölkerungsgruppen (unter anderem ältere Langzeitarbeitslose, Unqualifizierte und Menschen mit nicht konstanter Leistungsfähigkeit) haben heute kaum noch Chancen, wieder in den Erwerbsprozess im Ersten Arbeitsmarkt4, also in die freie Wirtschaft, aufgenommen zu werden. Dies hat nur zum einen mit der Produktionsverlagerung zu tun, die auch in Hochkonjunkturzeiten viele ungelernte Hilfskräfte arbeitslos macht. Zwei weitere Gründe sind viel gewichtiger: Erstens der Technologieschub der letzten Jahre, der dazu geführt hat, dass die fachlichen Anforderungen an die Arbeitnehmer deutlich gestiegen sind. Es gibt markant weniger Stellen für ungelernte Arbeitskräfte als noch vor einigen Jahren, und selbst von Hilfskräften werden immer häufiger auch Computerkenntnisse gefordert. Als zweiter Grund ist der deutlich erhöhte Druck am Arbeitsplatz zu nennen. In den letzten 15 Jahren haben unzählige Reorganisationen stattgefunden, im Zuge derer jede einzelne Stelle unter dem Blickwinkel der Rentabilität beurteilt wurde. Durch diese Umstrukturierungen, denen in den letzten Jahren nicht nur große Unternehmen, sondern auch die Verwaltung und nicht profitorientierte Unternehmen ausgesetzt waren, sind unzählige Nischenarbeitsplätze5 als nicht rentabel eingeschätzt worden und somit verschwunden. Wer die gestiegenen Leistungsanforderungen nicht mehr erfüllen konnte, verlor seine Stelle und hatte in der Regel große Mühe, wieder eine Beschäftigung zu finden.
Heute sind jedoch nicht nur die Arbeitsplätze von Schlechtqualifizierten bedroht. Gewissermaßen im Schatten der sozialpolitischen Hoffnung auf Vollbeschäftigung haben sich prekäre Arbeitsbedingungen verbreitet. So kennen paradoxerweise auch Länder mit einem vergleichsweise guten Arbeitnehmerschutz die Problematik der wachsenden Zahl von sozial schlecht abgesicherten Arbeitsplätzen. Dazu gehören die Leiharbeit sowie andere befristete Stellen oder die sogenannten Minijobs6 . In Deutschland beispielsweise beruhte das Jobwunder der letzten 15 Jahre hauptsächlich auf diesem Phänomen. In vielen europäischen Ländern ist eine Art Einkapselung der sozial abgesicherten Angestellten festzustellen, während rundherum die Anzahl der sozial schlecht abgesicherten Stellen, die flexibel auf-und abgebaut werden, massiv ansteigt. Nur noch knapp 70% aller deutschen Arbeitnehmenden arbeiten in unbefristeten Arbeitsverhältnissen.7
Prekäre Arbeitsverhältnisse gehören heute in vielen Ländern auch für junge Hochschulabsolventen zum Normalfall. In Deutschland, Italien, Österreich und Frankreich hat sich in den letzten Jahren eine eigentliche »Generation Praktikum« herausgebildet, also ein ganzes Heer von jungen Leuten, die sich nach der Hochschulausbildung von einer befristeten und schlechtbezahlten Praktikumsstelle zur nächsten hangeln, in der Hoffnung auf einen definitiven Einstieg in die Berufswelt. Auch gegenüber jungen Ausbildungsabsolventinnen und -absolventen zeichnet sich eine Abschottung der Stellenbesitzenden ab; besonders die Freien Berufe haben Regelungen geschaffen, die junge Leute in lange, schlechtbezahlte Praktikumsphasen zwingen, um die etablierten Freiberufler vor der jungen, frischausgebildeten Konkurrenz zu schützen.
Obschon der Begriff »Prekariat« zur Bezeichnung von sozial schlecht abgesicherten Arbeitenden erst seit einigen Jahren zum Wortschatz der Wissenschaft und der Medien gehört, gab es immer schon prekäre Arbeitsverhältnisse. Allerdings waren diese meist an den unteren Rändern der Gesellschaft zu finden, in der ungelernten Unterschicht, dem Taglohnproletariat. Heute sind diese Ränder überall, selbst die Zugehörigkeit zur Mittel- oder Oberschicht schützt nicht mehr vor unstabilen Arbeitssituationen.
Dieser Umstand hat Auswirkungen von großer volkswirtschaftlicher Tragweite, denn unsere Sozialversicherungssysteme fußen auf der Vorstellung einer relativ stabilen Wirtschaft, in der jeder seinen mehr oder weniger sicheren Platz hat. Die Arbeitgeber haben zwischen den 1880er und 1980er Jahren große Anstrengungen unternommen, um die Beschäftigung zu stabilisieren, und sie waren in diesem Bestreben so erfolgreich, dass wir erst wieder lernen müssen, dass die relative Stabilität in der Zeit des Nachkriegswirtschaftswunders die Ausnahme und nicht die Regel war. Ungeachtet dieser Tatsache wurden die sozialen Sicherungssysteme in der sozialen Marktwirtschaft auf stabile Wirtschaftsmodelle hin ausgelegt. In den letzten 30 Jahren ist diese Stabilität jedoch so stark erodiert, dass die Vorstellung, das Leben und die berufliche Karriere planen zu können, für breite Bevölkerungskreise ins Wanken geraten ist. Die Idee einer lebenslangen Anstellung im selben Betrieb – für die Generation unserer Väter noch eine Selbstverständlichkeit – ist in den Hintergrund getreten, Laufbahnen ohne Brüche und Lücken werden seltener. Die Sozialversicherungssysteme versuchen hier aufzufangen, was möglich ist. Sie stoßen jedoch an ihre finanziellen Grenzen, da sie auf stabile Wirtschaftssysteme mit kurzfristigen Ausfällen ausgerichtet sind. Langfristige Abkoppelungen von ganzen Bevölkerungsschichten vom Arbeitsmarkt können sie finanziell nicht verkraften. Hinzu kommt, dass die einzelnen Sicherungssysteme kaum miteinander vernetzt sind; dadurch entstehen kostspielige Paralleladministrationen, die rasche zielorientierte Maßnahmen erschweren.
Vor dem Umstand massenhafter und langfristiger Arbeitslosigkeit müssen die sozialen Sicherungssysteme, wie wir sie heute kennen, kapitulieren. Seit einigen Jahren sind in ganz Europa Bestrebungen im Gang, die Leistungen der Sozialversicherungssysteme zu reduzieren, die finanziellen Absicherungen im Falle längerer Arbeitslosigkeit zu senken und die Unterstützungszeiträume kürzer zu gestalten, um damit Kosten zu sparen.
In der Schweiz ist diese Entwicklung erst im Ansatz spürbar. Hierzulande kennt man die in Deutschland zu beobachtende Entwicklung der Einkapselung der sozial sehr gut abgesicherten Arbeitsplätze in einem Meer von kaum abgesicherter Arbeit weniger. Der Kündigungsschutz ist auch für Tariflohnbeschäftigte (Beschäftigte, die unter einem Gesamtarbeitsvertrag stehen) deutlich schwächer ausgebaut als in Deutschland, Beschäftigungsgarantien sind wenig verbreitet. Wer eine Stelle hat, kann diese auch wieder verlieren. Selbst Anstellungen im öffentlichen Dienst sind beidseitig kündbar, Beamtenstellen auf Lebenszeit gibt es nicht mehr. Die Kündigungsfrist beträgt in der Regel zwei bis sechs Monate. Die Schweiz kennt weniger soziale Absicherung zum Erhalt eines Arbeitsplatzes als Deutschland, zudem ist das Gefälle der sozialen Sicherung zwischen den verschiedenen Anstellungsformen deutlich geringer.
Die Gründe für diesen markanten Unterschied liegen in der Geschichte. Während die Schweiz seit dem Zweiten Weltkrieg vergleichsweise wenig mit Beschäftigungseinbrüchen zu kämpfen hatte und immer wieder lange Perioden der Vollbeschäftigung kannte, war Deutschland mit massiven Arbeitslosenwellen konfrontiert. Drohende Arbeitslosigkeit war viel bestimmender für die deutsche Sozialpolitik als für die schweizerische: