Sozialfirmen. Lynn Blattmann
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Eine zweite Quelle bildeten die hohen Einkommen aus Kapitalgewinnen; »Aktiensparen«, wie das Geldverdienen durch Börsenspekulation etwas irreführend genannt wird. Dieses erfreut sich gerade in höheren Einkommensklassen in den letzten Jahren immer größerer Beliebtheit. Hinzu kam eine dritte sprudelnde Geldquelle, die besonders in den oberen Einkommensschichten zu einem massiven Einkommens- und Vermögenszuwachs führte: die Erbschaften. Die Zahl derjenigen, die ihr Arbeitseinkommen mit beträchtlichen Erbschaften aufstocken konnten, ist in den letzen Jahren in den reicheren Ländern Europas markant gestiegen. Das Ausmaß und die Anzahl der Erbschaften sind in den europäischen Industrieländern seit den 1990er Jahren in eine bis dahin ungekannte Höhe geschnellt, zudem sind vorgezogene Erbschaften zum Normalfall geworden. Allein in der Schweiz wurden im Jahr 2000 35 Milliarden CHF (rund 23 Milliarden EUR9 ) vererbt, das sind rund zehnmal mehr als die Gesamtkosten für die Sozialhilfe.10
Während in den oberen Einkommensligen Schwankungen der Zusatzeinkommen zum Risiko gehören und dank der hohen Erwerbseinkommen auch ausgesessen werden können, sind Menschen mit tieferem Erwerbseinkommen auf stabilere und kontinuierlichere Einkommen angewiesen. Außerdem können sie die Zusatzeinkommen der oberen Lohnklassen meist gar nicht nutzen. So gibt es meist nur wenige oder sehr kleine strikt gewinn- und somit konjunkturabhängige Boni für niedrige Einkommensstufen. Wer wenig verdient, hat statistisch eine weitaus geringere Chance auf eine Erbschaft als jemand, der gut verdient. Arbeitnehmende mit niedrigen Einkommen können auch nicht das Geld für sich arbeiten lassen; für das Aktiensparen fehlt ihnen häufig nur schon das Startkapital. Naturgemäß müssen sich Arbeitnehmende aus tieferen Lohnklassen meist mit einer Absicherung ihres Arbeitseinkommens begnügen. Aufstocken können sie es nur, wenn es ihnen gelingt, noch eine Zusatzbeschäftigung zu finden. Allerdings schaffen es nur die stärksten und engagiertesten Geringverdiener, über längere Zeit zwei Stellen zu bekleiden. Menschen, die mit den wachsenden Anforderungen der Erwerbswelt nicht mithalten können, haben diese Möglichkeit nicht. Sie werden oft mehrmals im Leben entlassen; und selbst wenn sie sich nach jeder Kündigung wieder mit voller Kraft für einen neuen Arbeitsplatz engagieren, wird die Hürde zur Wiederbeschäftigung mit jedem Mal höher. In vielen Fällen helfen jedoch auch größte Anstrengungen nicht mehr, da die Voraussetzungen für eine Stelle nicht mehr erfüllt werden können. Selbst für Hilfsarbeiter ist das Anforderungsprofil gestiegen. Neben körperliche Belastbarkeit und Zuverlässigkeit tritt die Anforderung der Flexibilität und der ständigen Lernbereitschaft.
Diese Gründe führen dazu, dass Personen mit Leistungsschwankungen oder schwächere Arbeitnehmende über Jahre hinweg ohne Erwerbsarbeit bleiben. Sie müssen damit rechnen, dass sie zu Sockelarbeitslosen werden, die kaum mehr Chancen haben, je wieder eine Stelle im Ersten Arbeitsmarkt zu finden. So ist es denn verständlich, dass sie versuchen, eine zusätzliche Absicherung für ihren Lebensunterhalt zu bekommen, und über eine Sozialversicherung an eine Rente gelangen möchten, die ihnen ein garantiertes regelmäßiges Einkommen beschert und sie von der meist aussichtslosen und frustrierenden Stellensuche entlastet.
Hier haben jedoch die Sozialversicherungen, die in der Schweiz Renten oder Taggelder zahlen an Personen, die aus arbeitsmarktlichen, körperlichen oder psychischen Gründen nicht mehr oder nicht mehr voll erwerbstätig sein können, einen Riegel geschoben. Für schwer Vermittelbare ist es aufgrund verschiedener Gesetzesrevisionen erheblich schwieriger geworden, zumindest vorübergehend mit Taggeldern der Arbeitslosenversicherung oder auf Dauer mit einer Rente der Invalidenversicherung (IV) aufgefangen zu werden.
Seit dem Jahr 2003 ist in der Schweiz die Zahl der Neurenten bei der IV um ein Drittel zurückgegangen. Die IV-Gesetzesrevision, die 2008 in Kraft getreten ist, wird diesen prohibitiven Prozess weiter verstärken. Die Sozialhilfe wird so für immer mehr Menschen zum langfristigen Auffangnetz. Die Gesamtkosten für soziale Sicherheit betrugen 2007 in der Schweiz rund 138 Milliarden CHF (rund 90 Milliarden EUR). Davon machen die Kosten für die Sozialhilfe nur einen Bruchteil, nämlich rund 3,2 Milliarden CHF (rund 2,1 Milliarden EUR), aus.11 Die Kosten sind jedoch deutlich steigend, und sie bestimmen die sozialpolitische Debatte stets von neuem. Die Sozialhilfe ist in der Schweiz als vorübergehende subsidiäre finanzielle Hilfe in Notlagen eingeführt worden. Die aktuelle Entwicklung geht jedoch in eine andere Richtung: Für immer mehr Menschen wird die Notlage zur Dauersituation. Obwohl viele konjunkturabhängig immer wieder einen Einstieg ins Erwerbsleben finden, bleibt ein Sockel zurück, eine wachsende Gruppe von Menschen, die dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen bleiben. In den schweizerischen Arbeitslosenstatistiken werden diese Personen nicht mitgezählt, da sie keinen Versicherungsschutz durch die Arbeitslosenversicherung mehr genießen. Gemäß der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) werden jährlich rund 250 000 Personen durch finanzielle Leistungen der Sozialhilfe vor Armut bewahrt, darunter eine große Anzahl Kinder und Jugendliche. Wenn man davon ausgeht, dass rund ein Drittel dieser Personen erwerbsfähig ist, aber keine Stelle mehr im Ersten Arbeitsmarkt bekommt, dann gibt es im Moment circa 83000 Personen in der Schweiz, die zumindest teilerwerbsfähig sind und die durch das soziale Hilfssystem in der Schweiz meist zur Untätigkeit verdammt sind.
Die Invalidenversicherung hat im Jahr 2007 rund 11,7 Milliarden CHF (rund 7,7 Milliarden EUR) für die Absicherung der Erwerbsunfähigkeit in Folge einer Invalidität ausgegeben. Im Januar 2008 wurden 295 000 Renten ausbezahlt. Hochgerechnet auf die Einwohnerzahl der Schweiz bedeutet dies, dass 5,3% aller Einwohner im erwerbsfähigen Alter eine IV-Rente beziehen.12 Die Arbeitslosenquote beträgt 3,5%, und etwa 4% sind ausgesteuert und leben von den Geldern der Sozialhilfe. Zusammengezählt kann man also auch in der Schweiz davon ausgehen, dass deutlich über 10% der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind.
In Deutschland betrug die Arbeitslosenquote im Januar 2009 8,3%, also rund 3,8 Millionen Personen, dazu kommen über sieben Millionen Personen, die über Hartz IV finanzielle Unterstützung erhalten.13 In den EU-Ländern lebten 2004 rund 100 Millionen Arme, also Menschen mit einem Einkommen, das weniger als 60% des europäischen Durchschnittseinkommens beträgt. Diese Zahl umfasst 22% der Gesamtbevölkerung der EU. Die Armut ist in der EU zwar hauptsächlich in den neuen Beitrittsländern wie Polen oder Estland vordringlich, aber auch in Deutschland leben 13% aller europäischen Armen, deutlich mehr als in Großbritannien, Spanien oder Frankreich. Armutsbedrohung korreliert stark mit Erwerbseinschränkungen, so ist laut der europäischen Armutsstudie in allen europäischen Ländern die Armutsbedrohung in vier Bevölkerungsgruppen am größten:
— Alleinerziehende im erwerbsfähigen Alter
— alleinstehende, nicht erwerbstätige Personen über 65 Jahren
— allein lebende Arbeitslose
— Familien mit nur einer erwerbstätigen Person.
Der Staat kann es sich nicht leisten, Arbeitslosigkeit nur zu verwalten
Die sozialpolitischen Systeme der europäischen Staaten haben sich national recht unterschiedlich entwickelt, und die Wissenschaftler sind sich noch uneinig, welche Typeneinteilung der verschiedenen Ausprägungen der Sozialstaaten in Europa wirklich zutreffend ist. Generell kann man sagen, dass sich entlang der drei wichtigsten politischen Strömungen auch drei Typologien von Wohlfahrtssystemen herausgebildet haben. So gibt es sozialdemokratisch, liberal und konservativ geprägte Systeme, die von unzähligen nationalen und historischen Eigenheiten des jeweiligen Landes spezifisch überformt wurden. Die europäischen Wohlfahrtssysteme entwickelten sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu ihrer Blüte. Bis zur Mitte der 1970er Jahre kann man in Westeuropa von einem goldenen Zeitalter der Wohlfahrtsstaaten sprechen. Unzählige soziale Absicherungen wurden eingeführt, diversifiziert, ausgebaut, gesetzlich verankert und allgemein zugänglich gemacht. Nach den Entbehrungen und Schrecken des Zweiten Weltkriegs sollten die Sicherungssysteme soziale Risiken wie Alter, Armut, Krankheit, Unfallfolgen oder Arbeitslosigkeit finanziell mildern.