Die Gentlemen-Räuber. Marianne Paschkewitz-Kloss
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Vor Radeks Haus kam der Mann mit quietschender Bremse zum Stehen. Schwungvoll stieg er ab. Ein schlaksiger, älterer Typ, der Butch unweigerlich an den radfahrenden Film-Postboten Jacques Tati erinnerte. Er hielt den Franzosen für den besten Komiker seiner Zeit. Und für einen genialen Kenner ländlichen Lebens. Denn die Meinung des Provinzpostboten, wonach Fortschritt und Rationalisierung in der dörflichen Idylle keinen Bestand haben könne, weil dadurch die persönlichen Beziehungen auf der Strecke blieben, bediente nach Butchs Überzeugung hundertprozentig das Klischee südböhmischer Provinzialität.
Klatsch und Tratsch nährten das Kaff. Der Gemeindebote hatte dabei zweifelsfrei eine Schlüsselrolle inne.
Er beobachtete den sommerlich uniformierten Beamten. Auf seinem rechten Hemdärmel leuchtete das goldene Hornwappen der Gemeinde im Sonnenlicht. Den Brief, den er nun aus einer Seitentasche zog, warf er zu Butchs Verwunderung nicht in den Briefkasten. Er verschwand damit durch Radeks Hoftor, was hieß: persönliche Zustellung. Butch überlegte nicht lange, sondern wuchtete seinen korpulenten Körper die enge Holzstiege hinunter, eilte über den Garagenzugang in die Wohnung, riss das langärmlige Shirt vom Sessel und zerrte es sich im Laufen über die tätowierten Arme und Schultern.
Die letzten Meter von der Haus- zur Gartentür tänzelte er auf den Fußballen und mit eingezogenem Kopf. Es wäre nicht nötig gewesen, denn der Zaun überragte ihn locker um eine Handbreite – mit 1,72 m war Butch ein vergleichsweise kleiner Mann. Tereza hatte ihren Platz unterdessen nicht verlassen. Anerkennend strich er ihr über den Kopf. Gleichzeitig signalisierte er ihr mit erhobenem Zeigefinger, still zu bleiben.
Er spähte durch einen schmalen Spalt zwischen den Holzlatten, versuchte seinen Atem flach zu halten. Drüben fiel die massive Hoftür mit einem lauten Schlag ins Schloss. Schritte näherten sich Butchs Grundstück. Ehe der Bote sich auch bei ihm ungefragt Zutritt verschaffen konnte, schob Butch sich durch das Gatter und zog es seelenruhig hinter sich zu. „Auch schon auf den Beinen?“, begrüßte er den Beamten, vielleicht eine Spur zu freundlich.
„Guten Morgen, Buchmacher“, grüßte der Kurier überrascht, während er sein Fahrrad gegen den verwitterten Zaun lehnte.
In dieser Gegend war es durchaus noch Sitte, sich mit der Berufsbezeichnung anzusprechen. Der Schmied war also auch namentlich der Schmied, der Schuster der Schuster. Und Butch war, weil er sich in der 90-Seelen-Gemeinde so eingeführt hatte, der Buchmacher und nur selten einmal Herr Svoboda. Für Frauen galt diese Regel dagegen nicht. Und wenn, hätte es sich bei Dana keiner getraut. Hartnäckig hielt sich unter den Einheimischen das Gerücht, sie hätte früher, bevor sie ins Dorf gezogen war, als Prostituierte gearbeitet.
Dennoch gab es einen kleinen Unterschied in der Handhabung. Mit Ausnahme ihrer unmittelbaren Nachbarn, Radek und Maria, wurden Butch und Dana vom ganzen Dorf gesiezt, was es unter den übrigen Bewohnern nicht gab. Sogar der Bürgermeister wurde geduzt. Aber Butch und Dana blieben auf Distanz. Selbst nach zehnjähriger Dorfzugehörigkeit.
„Wie hat Ihnen das Endspiel gestern Abend gefallen?“, fragte der Bote, während er ein graues, offiziell anmutendes Kuvert aus der Fahrradtasche zog. „Müll- und Wassergebühren“, erwähnte er beim Aushändigen beiläufig.
„So lala“, erwiderte Butch wortkarg. Sollte er dem Boten auf die Nase binden, wie reizlos das Superturnier nach dem Halbfinale für ihn geworden war? Dass ihn seitdem Albträume quälten? Als der Moderator das WM-Endresultat verkündet hatte, war es an ihm wie ein Regenguss auf einer Öljacke abgeperlt. Jegliche emotionale Anteilnahme war erloschen. Während der Übertragung hatte er eine DVD eingelegt, lieber seinen Lieblingswestern geguckt und dabei tief ins Glas geschaut. Dana war schweigend daneben gesessen. Der Abend war ein routiniertes Besäufnis gewesen, für beide. „The Show must go on“, hatte er ihr noch ins Ohr geflüstert, bevor er eingeschlafen war.
„Bestimmt gingen bei Ihnen jede Menge Wetten ein. Viel Geschäft, was?“, hakte der Bote nach.
„Ich kann nicht klagen“, blieb Butch einsilbig – und stutzte. Täuschte er sich oder versuchte der Schlacks einen Blick über das hohe Holzgatter zu erhaschen? Weshalb verrenkte er sich den langen Hals?
„Ist was?“
„Ja, schon ...“ Der Bote zögerte kurz, dann rückte er mit der Sprache heraus: „Buchmacher, Sie sollten endlich das Hufeisen an Ihrer Haustür richtig herum aufhängen. Es soll doch ein Glücksbringer sein. Erst recht in Ihrem Beruf, nicht wahr! Das Glück kann doch nur hinein, wenn das Hufeisen nach oben offen ist. Wie ein U. Ich glaube, ich habe es schon einmal erwähnt.“ Butch erntete einen vorwurfsvollen Blick.
Nachdenklich rieb er sich den kahlrasierten Kopf. Das Hufeisen hatte ihnen der Dorfschmied zur Hochzeit geschenkt. 2001. Kurz nach ihrem Einzug in das Häuschen. Seitdem hing es, wie es hing.
„Gut, dass Sie mich darauf hinweisen. Wer kann schon aufs Glück verzichten?“, grinste Butch den Boten schief an. In Wahrheit aber fühlte er sich tief getroffen. Hatte er den Schlacks unterschätzt? Wie konnte er ahnen, dass das Glück, selbst wenn es ihn gerade verarscht hatte, sein engster Verbündeter war? Er glaubte daran wie andere an Gott oder das ewige Leben.
„Ja, dann, nichts für ungut, ich muss weiter“, verabschiedete der hagere Mann sich mit einer militärischen Geste. Eine Dienstmütze trug er nicht.
„Schönen Gruß ans Gemeindeamt, die Rechnung wird in diesen Tagen überwiesen!“, rief Butch ihm hinterher, während er den Brief in eine Gesäßtasche schob.
Das Hufeisen. Längst hatte es seinen anfänglichen Glanz verloren, und der immerwährende Schatten unter dem schlichten Säulenvorbau des Häuschens, den überdies ein mächtiger Knöterich überwucherte, machte das verrostete Utensil auf der dunkelbraunen, kassettenartigen Holztür nahezu unscheinbar. Auf dem Weg ins Haus blieb er grübelnd davor stehen. Noch am Hochzeitstag hatte er den Nagel auf Kopfhöhe ins Holz geschlagen und den handgefertigten Pferdebeschlag aufgehängt. Er konnte sich lebhaft daran erinnern, dass Dana ihn regelrecht gedrängt hatte, es rasch aufzuhängen. „Man darf das Glück nicht warten lassen“, hatte sie ihn damals beschwipst belehrt und ihm den Hammer in die Hand gedrückt. Butch nahm sich vor, die Peinlichkeit bei nächster Gelegenheit aus der Welt zu schaffen. Ohne sich weiter damit zu befassen, ging er ins Haus. Tereza folgte ihm mit wedelnder Rute.
Butch musste sich sammeln. Der Bote hatte ihn völlig aus dem Konzept gebracht. Unentschlossen blieb er im Eingangsbereich des offenen, rechteckigen Wohnraums stehen. Gegenüber, überm Kohleofen, der wie ein Grenzstein zwischen der Couchecke zur Rechten und dem Ess- und Küchenbereich zur Linken ruhte, hingen auf einem ausziehbaren Wäschegestänge zwei Geschirrtücher. Auf dem Esstisch lag eine Papiertüte, von der ein rosa Schwein lachte. Um das Papier hatte sich eine rote Lache gebildet. Tereza kratzte an Butchs Hose. „Immer mit der Ruhe“, vertröstete er sie, „zuerst muss ich mich um Peter kümmern.“ Suchend schweifte sein Blick über die altmodisch eichenfurnierte Küchenzeile an der Stirnwand. Zwischen zwei Hängeschränken befand sich, wie tausendfach in dicken Versandkatalogen abgebildet, ein Küchenfenster, das zur Hälfte ein gekräuselter Store mit Plauener Spitze verhüllte. Die Obstwiese, auf die man hinausschaute, gehörte den Söhnen des Dorfschmieds. Wie fast alle jungen Leute aus der Gegend waren sie in die Kreisstadt abgewandert. So fehlte den Birnen- und Apfelbäumen der nötige Schnitt, um kräftige Früchte zu tragen. Ab und zu ging Radek mit der Sense über die Wiese.
Auf dem schmalen Brett unterm Fenster, neben Wurzelbürste und Seifenschale, fand Butch, wonach er gesucht hatte: eine weiße Plastikdose. Seine Finger zitterten leicht, als er den Deckel hochzog und am Inhalt schnupperte – drei Heuschrecken von beträchtlicher Größe. Augenscheinlich wirkten sie noch recht lebendig, doch bei genauerer Betrachtung schien