Ein herrliches Vergessen. Petra Häußer

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Ein herrliches Vergessen - Petra Häußer Lindemanns

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er ihrem Weg eine Richtung geben und sie wird nicht aufhören, den Tag zu preisen, an dem sie ihn geboren hat.

      Als um die Mittagszeit Hélène Pannier leise Georgs Kammer betrat und sich vorsichtig neben Käthe aufs Bett setzte, das Kindchen hochnahm, wie um Zwiesprache mit ihm zu halten, schreckte Käthe auf.

      „Wie isch das nun, hat er was getrunken, unser Prinz?“

      Käthe wusste es nicht. Sie sollte es nur immer wieder versuchen, sie sollte mit ihm reden, sollte ihm Lieder singen, das wäre wichtig, sagte die Hebamme.

      „Wir wollen doch nicht, dass er es sich noch einmal anders überlegt, n’est-ce pas?“

      Am Nachmittag, als die Dunkelheit sich in Georgs Kammer ausbreitete, klopfte es zaghaft an der Tür und Wilhelmine streckte ihren Kopf herein. Käthe war aufgestanden, hatte Ordnung gemacht im Zimmer, hatte die Windeln ausgewaschen und eine Schnur gespannt zwischen der Stuhllehne und dem Fensterkreuz, darüber die nassen Tücher gebreitet, voller Dankbarkeit für alles, was die Pannier ihr brachte, die winzigen Hemdchen, die weichen Moltontücher, die kleine Mütze aus zarter Lammwolle und die Zellstoffeinlagen.

      „Ich nehme dich mit, Käthe, mit zu uns nach Hause. Der Friedrich hat’s erlaubt. Er hat sowieso in der nächsten Woche Nachtdienst, da kann er tagsüber hier in Georgs Kammer schlafen. Allez, wir packen alles zusammen.“

      So kam es also, dass der kleine Wilhelm Georg oder Willi, wie man ihn bald schon nennen würde, seinen ersten Wohnsitz an seinem zweiten Lebenstag schon verließ und umzog in den nächsten. In seinem Pass stand Geburtsort Straßburg. Einfach nur der Name der Stadt, dieser wunderschönen Stadt, die bis zum Ende des Deutschen Reiches noch dort hineingehörte, sodass er nicht als Franzose, wie man heutzutage denken könnte, sondern als Reichsdeutscher geboren wurde.

      5

      Käthe wurde aufgenommen von Wilhelmine und Friedrich in ihren zwei Zimmern mit Küche im Hinterhof der Boulangerie Chopard, so als ob sie ein Familienmitglied wäre. Diese Selbstverständlichkeit, mit der beide, Mine und Fried, wie sie sich nannten, Käthe annahmen und ihre Sorgen auch gleich mit übernahmen, rührte Käthe zu Tränen. Bevor Fried seinen Dienst antrat, aßen sie zu dritt auf dem großen Bett im Schlafzimmer und betrachteten den winzigen Willi, bestaunten jedes Zucken in seinem Gesicht.

      „Die Pannier hat gesagt, wenn er nicht bei dir trinkt, müssen wir versuchen, ihm einen Milchschleim zu kochen. Kuhmilch verdünnen, ein bisschen Haferflocken aufkochen, nur einen Teelöffel voll in einen halben Liter. Was meinst du Käthe, soll ich das versuchen?“

      Der Kleine kam Käthe schwach vor. Alle paar Minuten hielt sie ihr Ohr an seine Lippen, um die flachen Atemzüge wahrnehmen zu können. Ihre Sorge wuchs und wuchs und es wurde ein dickes schwarzes Gespenst daraus, das sich ihr bei Einbruch der Dunkelheit auf die Brust legte und sie davon abhielt zu schlafen.

      Nachts noch versuchten die beiden Frauen, ihm die gekochte Milch einzuflößen. Er trank in guten festen Zügen. Ganz ausgehungert kam er ihnen dabei vor. Aber dann ruckelte er mit dem Kopf und plötzlich schoss die Milch in hohem Bogen wieder aus dem winzigen Mund. Das Kind röchelte und hustete, Mine riss ihn Käthe aus der Hand und hielt ihn senkrecht, ging mit ihm herum mit energischen Schritten und sprach dabei beruhigend auf ihn ein.

      „Gell, gell, es wird alles gut, mein Kleiner, alles wird gut.“

      Aber es wurde erst gut, als Fried am übernächsten Tag eine Ziege mitbrachte, als sie nach einem von der Pannier empfohlenen besonderen Verfahren Ziegenmilch verdünnt, aufgekocht und wieder abgekühlt hatten. In Grammportionen flößten sie dem Kind die wässrige Flüssigkeit ein, hielten es aufrecht dabei, nach jedem Trinken warteten sie auf sein Aufstoßen und freuten sich darüber so, dass es ihnen die Tränen in die Augen trieb.

      Nach zwei Wochen, die einerseits verflogen wie im Sturmwind, andrerseits aus vielen bleischweren Minuten bestanden, die gestemmt werden mussten, eine nach der anderen, nach diesen ersten Wochen nickte Hélène Pannier und gab ihr d’accord. Es sieht jetzt gut aus. Weiter so, sagte sie. Und dann aber doch: „Lasset ihn bald taufen, auf alle Fälle jedenfalls.“

      Zu diesem Zeitpunkt hatte Käthe etwas gelernt, was sie in eine Maxime verwandelte: Man muss alles versuchen, wirklich alles, was nur irgend möglich ist, bevor man verzweifelt oder aufgibt. So viele Wege führen zum Ziel, wenn der eine nichts ist, dann versucht man eben den nächsten.

      6

      Diese Maxime wurde auch für Georg wichtig. Aber prinzipiell neigte Georg nicht dazu, sich Maximen zuzulegen. Er entschied viel lieber spontan und ganz dem Augenblick verpflichtet. So passten die beiden eben einerseits zusammen und andrerseits wieder nicht, so wie es den meisten Paaren ergeht, und man muss irgendeinen Weg finden. Wechselseitiges Nachgeben. Streit bis zur Überzeugung oder Überredung eines Partners durch den anderen. Rückzug eines jeden auf seine Position, Rücken gegen Rücken stehen. Oder gar auseinandergehen. Für eine Zeit, eine kurze, eine lange, für den Rest des Lebens.

      Georg sah Käthe wenig in diesen Tagen. Wenn er kam, nahm er den Kleinen auf den Arm, er machte es beherzt und geschickt, so als ob es eine Selbstverständlichkeit für ihn wäre, und das gefiel Käthe an ihrem Mann, dieses Zupackende. Er war vernarrt in seinen Sohn. Die Sorge, dass er zu schwach sein könnte, um zu bleiben, kannte er nicht oder er verbarg sie so tief in seinem Inneren, dass sie noch nicht einmal einen Anflug von Schatten auf sein Gesicht werfen konnte.

      Eine Woche, zwei, drei. Wie sollte es jetzt weitergehen? Bald war März, das war der Zeitpunkt, wo man spätestens wissen sollte, wo man im Sommer arbeiten würde.

      „Der Albert hat mir geschrieben. Er hat was für uns, Käthe. Drüben überm Rhein, in Badenweiler. Kurhaus. Also keine schlechte Adresse. Der alte Pächter macht’s vielleicht nicht mehr lang. Wir wollen uns das anschauen, mit Blick auf die Zukunft, verstehst du? Es ist eine Riesenchance.“

      Käthe hatte wirklich gehofft, dass sie über den Rhein zurückgingen, mehr in die Nähe seiner Familie. Sie hatte gehofft, den Kleinen dort unterzubringen, jedenfalls in den Stunden, in denen auch sie wieder arbeiten wollte und musste. Und so stellte sie nun fest, dass Georg schon Pläne hatte, die er nicht mit ihr, sondern mit seinem Bruder geschmiedet hatte.

      Georg und sein Bruder Albert waren ein Gespann, von frühester Kindheit an.

      Schon zu Hause rückten sie zusammen, nachdem der kleine Johann Jakob, der zwischen ihnen geboren wurde, starb mit nur drei Jahren. Als die Mutter den kranken Bruder aus dem Bett nahm, das er mit Albert teilte, schlüpfte Georg hinein in die Hitze seines Fiebers und kuschelte sich an den Rücken des zwei Jahre älteren Bruders. Da waren sie zwei und vier Jahre alt. Von da an waren sie unzertrennlich. Georg half mit beim Wegsammeln der Grumpen, der nicht brauchbaren Blätter der Tabakpflanzen, als die Eltern das von Albert verlangten. Weg mussten sie, damit sie nicht nass dort liegen blieben, schimmelten und die Sandblätter verdarben, die edleren, größeren, die später als Umblätter für die Einlagen dienen würden und das meiste Geld brachten. Georg tat es vor allem, um dem Bruder nah zu bleiben. Zu diesem Zeitpunkt war er sechs und Albert acht Jahre alt.

      Seit Generationen verdienten sich die Hugs ihr Brot als Tabakbauern, lebten recht und schlecht davon, so wie fast alle im Dorf, dort in der Ebene, nahe dem Rhein, wo man im Sommer manchmal meinen konnte, man wohne in Afrika. Manches Kindchen starb an einem Mückenstich, der sich von einem kleinen rosa Punkt in einen tellergroßen harten scharlachroten Plätzer mit rotem Stiel verwandeln konnte, eine giftige Quaddel, schwanger mit einem Todeskeim. Das nämlich war dem kleinen Johann Jakob passiert, dem Jaköble, wie sie ihn genannt hatten; alle, die Eltern, der Ernst, der David und der Albert, der gerade die ersten selbständigen Schritte getan hatte, waren sie begeistert um das neue

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