Ein herrliches Vergessen. Petra Häußer
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Karl von Wedel war ein pensionierter General, der sein Leben lang seine Pflicht getan hatte, ganz dem alten hierarchischen Staatskonzept verpflichtet. Vor allem war er ein Ehrenmann von altem Schlag und ein guter Christ. Jeder Mensch, wo immer er stand, und mochte man das auch oben und unten nennen, hatte für ihn einen Wert an sich. Als Geschöpf Gottes, als Mitgeschöpf, das die Achtung jedes anderen Menschen verdient. Wieviel mehr noch verdiente ein armes Menschenkind, ein verkrüppelter Mann, Rücksicht – ach, es brachte ihn zum Schäumen, wenn er die Berichte der Vorfälle nachlas. Der gehbehinderte Schustergesell Jacques Taillier hatte Forster nicht schnell genug entkommen können, als dieser einen Auflauf von Fabrikarbeitern, die sich gegen die deutschen Frechheiten wehrten, zerstreuen ließ und dabei eifrig mithalf. Taillier wurde vom Säbel des Leutnants niedergestreckt und dabei schwer am Kopf verletzt. Statt die Rechte dieses armen geschundenen Menschen zu verteidigen, wurde nun vom Gericht Forsters Handeln sanktioniert. Wedel hatte zuvor schon dringend empfohlen, den Störenfried und Aufrührer Forster wegzukommandieren und damit die Keimzelle der Unruhen auszumerzen. Er hatte hinter verschlossenen Türen sicher noch mehr erklärt und appelliert an das Verständnis derjenigen, die mit ihm auf Augenhöhe sprachen, dem Regimentskommandeur von Reuter, dem Kommandierenden General von Deimling und anderen, deren Namen verschwunden sind, aber diese waren kaisertreu in jeglicher Hinsicht. Sie glaubten, einer großen Sache zu dienen, und es kam ihnen gelegen, sich Karl von Wedel, der ihre möglicherweise schwelenden eigenen Gewissensbisse inkarnierte, vom Hals zu schaffen.
Friedrich war ein aufgeschlossener Mensch, er gab gerne Auskunft über das, was er dachte, was er für richtig hielt oder falsch. Seine Meinung richtete er aus nach derjenigen seines von ihm sehr verehrten und wertgeschätzten Dienstherrn. So ergab sich eins zum anderen und als Karl von Wedel seinen Posten abgeben musste, war Friedrich, sein Schatten und Sprachrohr, mit ihm eine Unperson geworden. Da kam die Rettung durch Mine, seine ihm angetraute Ehefrau seit sieben Jahren. Sie brachte ihn unter in dem Hotel, wo sie lange schon als Mädchen für alles ein stilles kleines Regiment in den Wäsche- und Abstellkammern führte, schmerzlich vermisst an jedem ihrer freien Tage. Friedrich begann im Bristol als Hausdiener, nur wenige Monate bevor Georg dort seinen Dienst antrat.
Wenn man nun noch wusste, dass Wilhelmine Frei, geborene Ponard, aus La Petite-Pierre stammte, einer Verbindung des ortsansässigen Schreiners Ponard mit einer jungen schönen Frau aus Meersburg am Bodensee entsprossen, die das Schicksal als Kind einer Ferienfamilie in das idyllische Burgstädtchen gelockt und so dem jungen Ponard ans Herz gelegt hatte, dann kannte man auch Mines Herkunft. Ihre Tante Monique väterlicherseits hatte sie als Dreizehnjährige in die Hauptstadt des Reichslandes mitgenommen und im Bristol untergebracht, zuerst nur um Gemüse zu schälen.
So trafen sie also in Straßburg zusammen, die vier Menschen, die für die ersten Jahre des kleinen Willi die wichtigsten waren. Wie einen Kieselstein rieben sie ihn sanft zwischen sich, schliffen ihn zu einer noch groben und unklaren Form, deren Unverwechselbarkeit jedoch mit jedem seiner Lebenstage deutlicher wurde.
Sie waren sich in vielem einig. In ihrer Achtung vor anderen Menschen, wie gering oder auch wie hoch oben sie angesiedelt sein mochten auf der gesellschaftlichen Pyramide. Sie hassten den Krieg, das Hurra-Schreien der Soldaten und Offiziere. Sie liebten den geschmeidigen Ablauf der vielen ineinander greifenden täglichen Verrichtungen des Hotelpersonals. Die große Halle, die glänzend gewienerten Gänge, die flutenden vorderen Treppenaufgänge und die gewundenen engen Stiegen im Hinterhaus, das ausgelegte Silber, die steif gestärkten Servietten, den Tischdamast, die Kerzen, oh ja, die vielen schönen herrlich duftenden Kerzen in den Leuchtern; das ganze Räderwerk des Hotels, das war ihre Welt. Das war die Luft, die sie brauchten zum Leben, alle vier.
Sie liebten äußere Ordnung, ein gutes Essen zur Mittagszeit. Sie liebten es, Pläne zu schmieden, und sie konnten dabei leicht ihren Horizont beliebig dehnen über das augenblicklich Sichtbare hinaus. Nun hatten sie noch ein viel größeres gemeinsames Interesse: das Kind. Sie liebten den kleinen Willi, jeder auf seine Weise. Genug Liebe umfing ihn also, genug Pflege bekam er auch. Deshalb hob er bald schon sein Köpfchen, auf dem ihm ein weißblonder Flaum wuchs, der zu Kringeln und Wellen neigte so wie die goldbraunen Haare seiner Mutter; auch seine Augen nahmen die melancholische Ernsthaftigkeit des mütterlichen Blickes an, seine Gliedmaßen blieben zart. Er kam zum Sitzen, zog sich an Stühlen hoch und stellte sich auf seine Beinchen, und dann eines Tages ließ er den Halt los, drehte sich um und stolperte schwankend in Mines Arme, die vor Glück aufjauchzte.
Alle vier waren aufgeschlossen, kontaktfreudig, liefen mit offenen Augen und Ohren durch die Welt, nie verlegen, sich ein eigenes Urteil zu bilden und Lösungen zu sehen, wo andere nur Probleme vermuteten.
9
Willi war hineingeboren worden in die letzten Seufzer einer Epoche, die man eines Tages die Wilhelminische nennen würde. Schnell verging sein erstes Lebensjahr. Das Zwischenspiel in Badenweiler dauerte nur einen Sommer lang. Käthe und Georg kehrten beide ins Bristol zurück, standen aber erneut in Verhandlungen für das kommende Jahr.
Der Angriffskrieg an der Westfront hatte sich in einen Stellungskrieg in den Schützengräben verwandelt. Reichskanzler Bethmann-Hollweg warnte in Berlin vor einem unbeschränkten U-Boot-Krieg, ein Lieblingsprojekt des Kaisers. Was für schreckliche Auswüchse die ungebremste Renommiersucht noch einmal trieb, erfüllte vor allem Georg mit heißer Wut, als man eines Tages an einem hellen Frühlingsmorgen im Mai überall in den Zeitungen lesen musste vom Untergang der Lusitania. Ein U-Boot der kaiserlichen Marine hatte sie vor der Südküste von Irland versenkt und 2000 Menschen ertranken nach schrecklichem Todeskampf in den grauen Wassern des Atlantik. Der Kanzler machte nun deutlich, dass damit ein Eingreifen der Amerikaner wohl unumgänglich werde. „Man wird uns erschlagen wie einen tollen Hund!“, so formulierte er es bildhaft.
Und obwohl der Kaiser den uneingeschränkten U-Boot-Einsatz für beendet erklärte, konnte er das Kriegsgeschick nicht mehr wenden.
Das würde Georg immer wieder erzählen. Diese unbewältigte Wut, die Zerstörungssucht der Mächtigen, die sich um „Wilhelm Zwo“ scharten, löste ihm immer wieder die Zunge. Aber dass das schöne Schiff ein so schmähliches Ende gefunden hatte, stand dabei am Anfang jeder derartiger Geschichten. Danach verlor sich sein Blick irgendwo in einer unsichtbaren Ferne und er begann zu erzählen vom Salondeck, den Lüsterlampen, die von der mehrere Stockwerke hohen Decke hingen und das glänzende dunkle Holzpaneel zum Leuchten brachten, so als ob dort kleine Feuer brennen würden. Das Orchester, das bis spät in die Nächte hinein spielte, die Gespräche der Herren, die hinter den aromatischen Duftwolken kubanischer Zigarren verborgen alles besprachen, was die Welt in Bewegung hielt. Das perlende Lachen der Damen, ihre Federfächer, ihre aufgetürmten Frisuren, die Colliers, und wie sie ihn anschauen konnten, wenn sie sich den ersten kleinen Happen einer besonders schmackhaften Süßspeise mit dem zierlichen Silberlöffel in einer zarten Hand im glänzenden Satinhandschuh zwischen die schönen Lippen schoben – es mochte eine aufgefächerte exotische Frucht mit Meringensplitter sein oder –, wenn er hier nicht recht weiter wusste, sprang ihm Käthe dann zur Seite und half ihm die verrücktesten Kaltschalen zu zitieren, beiden wurde der Mund wässrig dabei, während der kleine und größer werdende Sohn sich vor allem an einem erfreute,