Ein herrliches Vergessen. Petra Häußer

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Ein herrliches Vergessen - Petra Häußer Lindemanns

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der auf einem Fußschemel davor saß und malen durfte. Immer wieder stand er auf, ging auf Wanderschaft, neugierig stellte er sich zwischen all die in der Küche umhereilenden schwitzenden Menschen und als die kleine Küchenhilfe Annegret an ihn stieß und die ganze Schüssel mit heißem Grießbrei fallen ließ, blieb Käthe fast das Herz stehen. Was würde Georg dazu sagen? Nichts sagte er, denn das Schlamassel wurde schnell und gründlich beseitigt. Dass es genau am 24. Dezember war, noch im Jahr 1920 und kurz vor seinem sechsten Geburtstag, das würde Willi sich merken. Denn mit dem Hinweis auf dieses Missgeschick wurde er schon früh am Abend in die Villa gebracht, in sein Bett, noch bevor man das große Diner servierte.

      „Jetzt schlaf schön. Wir kommen bald“, sagte seine Mutter und verschwand wieder. Schloss die Haustür von außen ab, nahm den Schlüssel mit.

      Schlafen konnte Willi nicht. Es gab so viele Geräusche rings um ihn her. Die Fensterläden ratterten, wenn der Wind sie streifte, der Dielenboden knackte, so als ob unsichtbare Füße über ihn tappten. Es knisterte, kleine unregelmäßige Klopftöne kamen näher und verloren sich wieder in der Ferne und eine Kutsche rollte draußen vorbei, die Peitsche knallte, die Räder knirschten über Sand und Kieselsteine und das Pferd blies seine heiße Atemluft durch die Nüstern, nein, das konnte nicht sein, er konnte das nicht gehört haben, das Pferd war weit weg, alle Rollläden zu, das Haus stand einige Meter zurück von der Straße. Willi zog die Decke über den Kopf und lauschte seinem Atem, bis ihn auch der erschreckte. Dann hatte er plötzlich genug von dem ganzen Spuk. Er wollte nicht, dass all das geschah und er selbst bewegungslos inmitten der geisterhaften Geschehnisse saß, wie von einem Zauber gebannt.

      Mit einem Ruck warf er die Bettdecke von sich. Auf dem Stuhl neben dem Bett lagen seine Kleider. Er streifte sie über, schlich vorsichtig zur Tür und suchte mit der Hand den Lichtschalter. Ein bisschen musste er sich danach strecken. Dort hing sein Mantel an einem Haken, die Mütze, der Schal. Er zog auch das alles an, schloss die Knöpfe, schlüpfte in seine dunkelroten Lederstiefelchen, band eine Schleife, so wie er es kurz vor seiner Abreise von Mamamine gezeigt bekommen hatte, öffnete sachte die Tür und lauschte hinaus. Dann betrat er den Flur und suchte dort den Lichtschalter, tapste weiter von Raum zu Raum und machte alle Lichter an im Haus. Im großen Salon zog er sich einen Stuhl vors Fenster, öffnete es und löste den Haken der Klappläden. Stieß die beiden Holzbretter mit der herzförmigen Öffnung weg, schloss das Fenster wieder. Ging nun weiter von Fenster zu Fenster; überallhin, wo es ihm gelang, öffnete er die Verschläge. Damit er die Sterne am Himmel sehen konnte und den Mond, eine schmale Sichel zwischen den Tannenwipfeln. Jetzt suchte er nach Kerzen. In der Küche, in allen Schränken, im Flur, im Badezimmer. Da fand er sie endlich, fein säuberlich nebeneinandergelegt in einem kleinen Korb auf der weiß lackierten Kommode neben den Handtüchern und Waschlappen. Die grauen Halter aus Email aufeinandergestapelt, ordentlich wie immer, wie alles, was die Mutter versorgte. Die Streichhölzer daneben. Mit leichtem Druck steckte er die erste Kerze in einen Halter. Richtete sie aus, ganz gerade, ließ sich Zeit dabei, betrachtete sie von oben, von der Seite. Jetzt! Anzünden. Konnte er das denn? Konnte er ein Streichholz anzünden? Er durfte es nicht und hatte es doch oft schon versucht, weil er das Geräusch mochte und das Aufflammen des hölzernen Stäbchens. Den schweflichen Geruch. Ein, zwei Hölzchen zerbrachen, bevor es ihm gelang, eine Flamme zu entzünden. Die erste Kerze brannte, die zweite trug er zuerst an einen anderen Ort, dann machte er auch sie an. Dann die dritte und alle anderen. Verteilte sie im Haus. Schließlich kam er ins Wohnzimmer, wo der Baum stand, eingepasst in einen schweren eisernen Ständer. Soweit hatte es der Vater noch geschafft am Vortag. Die Kartons mit den silbernen Kugeln lagen daneben. Aufgeklappt. Das Lametta, die Kerzenhalter, die man an die Zweige stecken musste, als ob es Wäscheklammern wären. Zuerst schmückte Willi die unteren Zweige, dann zog er sich einen Stuhl heran und hängte die nächsten Kugeln auf. Das mit den Kerzenhaltern war schwieriger, die dicken weißen Kerzen aus dem Badezimmer passten nicht hinein. Andere Kerzen fand er nicht. Was für ein Glück! Denn wohin hätte das wohl geführt.

      Er ging wieder zurück, freute sich an all dem Licht, dem stillen, flackernden Leuchten in dunkler Nacht. Merkte schließlich, dass er fror. Trotz der milden Temperaturen in diesem Winter hatten die Schwarzwaldnächte ein eiskaltes Kleid an. Weihnacht 1920. Er hatte sie sich hell gemacht. Ganz alleine. Und er war jetzt müde. Mit all seinen Kleidern, dem Mantel, der Mütze, dem Schal legte er sich in sein Bett. Schwer waren seine Lider. Dass er sie offen halten wollte, dachte er, dass er warten wollte auf seine Eltern, die doch bald schon kommen würden, daran klammerte er sich, während ihm die Augen endgültig zufielen.

      Als Käthe und Georg zu später Stunde mit müden großen Schritten den Berg hinaufgingen, sahen sie von Ferne schon den flackernden Lichtschein hinter den Fensterscheiben. Hatten sie denn nicht die Läden vorgeklappt? Sie schauten einander an und beschleunigten ihre Schritte. Atemlos schlossen sie die Tür auf und standen im hell erleuchteten Haus, rochen die Kerzen, einige von ihnen waren schon abgebrannt. Die Eltern eilten hinauf ins Kinderzimmer und sahen ihn dort liegen, ihren Sohn, seine ihm Schlaf aufgelösten Züge. Die Mütze neben das Bett gefallen.

      „Das ist doch ...“

      Bevor Georg weitersprechen konnte, sagt Käthe: „Eine frohe Weihnacht. Die wünsch ich dir und ihm und mir.“

      Sie sah ihn an mit weit geöffneten Augen und zusammengepressten Lippen. Georg hielt diesen Blick nicht aus. Er schlug die Augen nieder. Dann stand er auf und verließ wortlos den Raum. Käthe zog Willi vorsichtig den Mantel aus und die Stiefelchen. Er war zu erschöpft gewesen, um sie aufzuschnüren, dachte sie, und ihr Herz tat weh dabei. Sie strich ihm das Haar aus der Stirn, nahm den Kerzenhalter, in dem gerade der letzte Rest des Dochtes verglühte, und beim Hinausgehen schaltete sie das Licht aus.

      13

      Willis Geburtstag. Die Mutter hatte ihm eine eigene Torte gebacken, sie mit kleinen Marzipanhasen und Mohrrübchen verziert, Büschelchen aus Minzeblättern darum dekoriert und mittenhinein die sechs kleinen goldenen Kerzen gesteckt, die er mit einem Atemzug ausblasen sollte, das bringt nämlich Glück, und wer kann das nicht brauchen? Jeder brauchte das doch, sonst gelang nichts im Leben. Aber eigentlich war das nur ein Moment, ein winziges Loch in der Zeit. Die Routine des Hoteltages verschlang diesen Glückssplitter und machte ihn fast ungeschehen. Wäre die kleine braune Ledertasche nicht ab jetzt in Willis Zimmer auf dem Korbsessel gelegen, das Schwämmchen nicht an ihr heruntergebaumelt und hätte es sich nicht immer wieder sachte bewegt, wenn man beim Vorbeigehen ein bisschen Wind machte, dann hätte er geglaubt, er hätte diesen Geburtstag nur geträumt. In der Tasche lag das große Kuvert mit vielen Zeitungsausschnitten von Fried und Mine, die ihn an den Bodensee erinnern sollten, auf dass er ihn nicht vergessen möge. Die Schultasche hatten die beiden von Frieds Bruder fertigen lassen aus weichem Kalbsleder, das herrlich roch.

      Zwischen Weihnachten und Ostern verflogen die Wochen. Der kalte Westwind brachte ergiebige Schneefälle. Es schneite so sehr, dass man keinen Hund vor die Tür schickte. An Schlittenfahren war nicht zu denken, jedoch es gab so viel zu sehen und zu erleben im Hotel. Die vielen Menschen im Haus. Denn wenn auch nur wenige Kurgäste im Winter kamen, so musste doch der Betrieb laufen und dazu wurde eine ganze Mannschaft verschiedener dienstbarer Geister gebraucht. Ständig gab es einen, der dem kleinen Bub die Haare zerzauselte oder ihm einen kleinen Klapps hintendrauf gab, ganz freundschaftlich, versteht sich, aber er stand eben auch oft im Weg herum, war ein ins Räderwerk geratenes Sandkorn, das man loswerden musste, wenn die Maschinerie laufen sollte.

      Dann kam die Sonne und man konnte Schlitten fahren. Einmal ging sogar der Vater mit, kurz bevor es dunkel wurde, in der Zeit, bevor er sich zum abendlichen Service umziehen musste. Er lachte beim Schlitteln! Er hielt seinen Arm fest um seinen Sohn geschlungen und Käthes Augen leuchteten, als sie die beiden den Abhang heruntersausen sah. Ihre Hände hatte sie im Muff versteckt, mit den Füßen trappelte sie hin und her, weil die Kälte in ihre Zehen biss. Willi schloss die Augen und lachte auch.

      Die Tage wurden bald wieder länger, der Schnee taute und plötzlich war der große Tag da.

      „Ach

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