Ein herrliches Vergessen. Petra Häußer

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Ein herrliches Vergessen - Petra Häußer Lindemanns

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sie weg, wie eine Elfe aus dem Märchen.

      Von da an hatten Willis Tage einen neuen Programmpunkt: Sobald er sich aus dem Dunstkreis der Erwachsenen stehlen oder mit ihrer Erlaubnis und der Aufforderung „geh spielen“ in den Garten begeben konnte, bahnte er sich einen Weg zum Loch im Maschendraht. Bald musste er sich mit einem Stock den Weg freischaffen, weil die Brombeerhecken schlangengleiche Stängel trieben, und mancher Kratzer blieb dabei auf seinen Händen, Armen und sogar in seinem Gesicht zurück. Dann stellte er sich an den Zaun zum Nachbargarten und starrte hinüber zum Nachbarhaus, merkte kaum, dass es dunkel wurde um ihn her, manchmal erlösten ihn erst Mines ängstliche Rufe aus einer traumähnlichen Erstarrung.

      Eines Tages erschien sie wieder. Heli! Da krabbelte er das erste Mal hinüber in den Nachbargarten. Sie spielten mit Helenes Ball, ihren Puppen. Beim nächsten Mal brachte Willi seinen Reifen mit und sie wagten sich auf den Hof des Nachbarhauses, spielten zwischen der Teppichstange und unter den Wäscheseilen. Irgendwann einmal kam ein großes Mädchen dazu, das genau die gleichen Haare hatte wie Helene. Auch sie begrüßte ihn: „Bist du der Willi?“

      Sie lächelte ihn an und schenkte ihm ein Stück Schokolade. Als sie wieder im Haus verschwand, erklärte Helene ihm, dass das ihre Mutter gewesen sei.

      Da wollte er Schluss machen mit dem Versteckspiel. Beim Abendessen, als sich die ganze erweiterte Regelmannfamilie um den Tisch versammelt hatte, erzählte er von seiner Eroberung und merkte lange nicht, dass alle Erwachsenen ihn anstarrten, Messer und Gabel zur Seite legten und aufhörten zu kauen. Er sah nicht, dass sie einander Blicke zuwarfen, und erst als Frau Regelmann hervorstieß: „Da muss man was unternehmen“, bemerkte er die Spannung im Raum.

      Beim Gutenachtkuss, den Mine ihm immer nach dem Beten gab, fing sie an, ihm zu erklären, dass er das nicht dürfe, nicht mit „diesem Kind“ von „dieser Frau“ spielen, weil das kein „guter Umgang“ für ihn sei. Mehr erklärte sie nicht. Man sah ihr an, wie halbherzig ihre Argumente vorgetragen wurden.

      „Was ist Umgang?“

      Mine seufzte.

      „Weißt du, Willi, man muss sehr gut aufpassen, mit wem man sich zusammentut.“

      „Sie ist so lieb und wir spielen so schön zusammen und ihre Mama hat mir einmal Schokolade geschenkt ...“

      „Ihre Mutter, hast du die denn auch gesehen?“

      Wie sollte man einem Kind erklären, dass das Produkt aus einer höchst zweifelhaften Liaison eines ganz jungen Mädchens mit einem verheirateten Mann, einem Herrn von Stand, wie man munkelte, manche behaupteten sogar es sei ein ortsbekannter Politiker, andere sprachen davon, dass er Professor sei an der Universität Tübingen, dass so eine Frucht der Sünde eben einfach kein Umgang ist für ein Bürgerkind, noch dazu eines, das einem anvertraut ist von den Eltern, die sich in der Ferne darauf verlassen wollen, dass ihrem Kind kein Leid geschieht.

      Helene war der erste Grund für unbeugsamen Ungehorsam. Willi ließ nicht ab von ihr, auch nicht, als das Loch im Zaun geschlossen wurde. Willi fand weiter unten im abschüssigen Teil des Gartens eine andere marode Stelle, da konnte er den Maschenzaun mit großer Kraftanstrengung niederdrücken, so weit, dass es ihm gelang, ihn mit Hilfe eines alten Hockers, den er im Keller gefunden hatte, zu überklettern. Mit einem kühnen Sprung landete er genau vor Helenes Füßen und manchmal auch in ihren weit geöffneten Armen. Er sprang direkt in ihr wunderschönes liebes Lächeln hinein. Zurück ging er erhobenen Hauptes aus der Gartentür der Nachbarn, am Zaun entlang zur Haustür des Regelmann Hauses und es war ihm egal, wer ihm öffnen würde. Er überlegte sich allerdings einige passende Erklärungen, die ausreichen könnten, sein Vergehen zu beschönigen. Wenn man sich nämlich genug Mühe gab und sich eine gute Erklärung für seine Handlungsweise ausdachte, dann kam man ganz gut damit durch.

      12

      Die paradiesische Epoche in Willis Leben endete kurz vor seinem sechsten Geburtstag, als er eingeschult werden musste. Von da an wollte Georg seinen Sohn bei sich haben. Seine „Ausbildung“ wollte er bestimmen. Und endlich den großen Abstand zwischen Eltern und Kind beseitigen, denn von Badenweiler aus war es fast eine Tagesreise hinüber zum See.

      Schluss also mit patenten Gedanken. Ade Brombeerhecken, Helene, Weinberge. Den lächelnden Herrn Regelmann und Frau Amalies Speckpfannkuchen mit Rhabarberkompott, all das musste er hinter sich lassen. Und die Mamamine, den Papafried, die beiden liebsten Menschen auch. Das war das Schlimmste. Obwohl die Mutter und der Vater ihm versicherten, er würde sie wiedersehen, oft, nämlich zum Beispiel in den Schulferien. Also wäre es wichtig, sich schnell im Kalender, überhaupt mal in der Zeit, der Woche, den Monaten und dem ganzen Jahr einzurichten, wie eben ein großer Junge das sollte und auch konnte, wenn er brav auf die Schule ginge und dort schön lernte, was man ihm vortrug.

      Georg und Käthe waren wieder einmal nach beruflichen Abstechern in die Umgebung, nach Rippoldsau, Freudenstadt und Baden-Baden in der Kurstadt Badenweiler gelandet. Georgs Lieblingsbruder Albert und seine Verlobte Irmi waren mit von der Partie. Albert als Sommelier, Irmi stand am Empfang mit streng zurückgekämmten kurzen Haaren, knallrot geschminkten Lippen und Perlenohrringen. Die blonde quirlige Irmi hatte sich den anderen zugesellt, nachdem Albert sie aus der Parfümerie Borel in Baden-Baden, in der sie als Verkäuferin angestellt war, gelockt hatte mit seinem Charme und seinem Lächeln, seiner verheißungsvollen Unnahbarkeit. Es knisterte manchmal zwischen Käthe und Irmi. Irmi war schon 39 Jahre alt, unverheiratet und vielleicht kein unbeschriebenes Blatt. Einen eigenen Kopf hatte sie jedenfalls. Aber tüchtig! Und sie lachte den ganzen Tag, schwirrte um Albert herum wie ein Schmetterling; abends verschwand sie ganz ohne Zaudern und Zagen in seinem Zimmer. Wohin sollte das führen? Käthe presste die Lippen aufeinander und eine scharfe Falte grub sich zwischen ihre Augenbrauen. Auch wenn Irmi sich um ihren alten vornehmen Stammgast, den Direktor Rademacher, kümmerte mit Schmeicheln und Zwitschern, sich bei ihm einhängte, als ob sie seine – ja was nun, Tochter oder ... das andere wollte man nicht benennen – wäre, wenn sie ihn morgens vom Lift zu seinem Frühstückstisch begleitete, ihm die Serviette auf den Schoß legte, sich zu ihm beugte, bis ihre Gesichter nur Millimeter weit voneinander entfernt waren, um seine Bestellung aufzunehmen.

      „Das mag er, der alte Herr, glaub’s mir, Käthe. Er ist ganz verrückt nach ihr. Und das ist gut fürs Geschäft.“ Alberts Blindheit, seine Liebste betreffend, beanspruchte Käthes Nerven und erzeugte Spannungen zwischen ihr und Georg, der abwinkte: „Sei doch nicht so kleinlich. Alles, was unseren Betrieb am Laufen hält, ist erlaubt.“

      Unseren Betrieb nannte Georg das. Es war nicht „unser“ Betrieb. Sie waren angestellt für diese Saison und vielleicht auch die nächste, konnten aber jederzeit ersetzt werden. Der eigene Betrieb war nur ein Traum. Nicht mehr als ein langsam wachsender Zahlenspiegel auf der Bank. Ein kleiner Schatz, der wuchs und schwand und wuchs und schwand. Käthe musste ihre Einwände unterdrücken, damit wieder Friede herrschte im Haus. Das kostete sie Kraft. Unseriös nannte sie Irmis Verhalten und eigentlich waren Georg und sie sich doch einmal einig gewesen, dass es gewisse Gesetze gab in ihrem Beruf, ungeschriebene, aber dennoch eherne Gesetze. Bei diesem Mädchen galten die plötzlich nicht mehr.

      Willi reiste also an mit seinem ledernen Koffer, um den Fried einen seiner alten Armeegürtel geschnallt hatte, weil die Schlösser sonst nachgegeben hätten bei all dem Kram, den Willi unbedingt brauchte und mitnehmen wollte. Es war kurz vor Weihnachten. Am ersten Dezember hatten seine Eltern eine gemietete Villa am Hang bezogen. Sie stand in einem großen verwunschenen Garten mit vielen alten Bäumen, Tannenbäumen, wie aus dem Wald herübergewandert und dort stehen geblieben. Ihre Äste breiteten sie aus, Arme in einem dunkelgrünen Gewand, ausgestreckt über die struppigen Reste der Stauden und Gräser, der alten Rhododendren und Azaleen mit ihren herabhängenden traurigen Blättern und den dicken Knospen im Wartestand.

      Am Tag nahm Käthe den Kleinen

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