Ein herrliches Vergessen. Petra Häußer
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Ein herrliches Vergessen - Petra Häußer страница 13
Alles klappte hervorragend. Er war der Beste im Kopfrechnen und das erste Diktat ergab eine glatte Eins. Beim Völkerball im Schulhof wurde er von beiden Mannschaftskapitänen angefordert, sie stritten regelrecht um ihn. Und mittags nach der Schule hüpfte er beschwingt zum „Krokodil“ zurück, weil er dort etwas zu essen bekam.
Irgendwo wurde wieder ein kleines Fleckchen leergeräumt, dort stand dann dampfende Suppe oder ein Stück Fleisch mit Soße, ab und zu Dampfnudeln mit Weinschaum. Weinschaum? War denn das was für einen Sechsjährigen? Also bitte, darum konnte man sich nicht auch noch kümmern, ein Kind musste eben ...
„... mitlaufen? Willst du das sagen? Ich kann’s nicht mehr hören, Georg. Wir haben ihn doch gewollt, wir haben uns gefreut über ihn, als er kam.“
„Ja, ja, ja. Aber das sind schwere Zeiten. Da müssen Kinder sich dünn machen. Es ist gut, wenn sie das schnell begreifen.“
Käthe wusste, woher diese Meinung kam. Das hatte Georg so machen müssen, schnell begreifen, wie das Leben lief. Er hatte sich seinen Platz suchen müssen, der kleine Bub, damals zwischen den Brüdern, auch draußen zwischen den Tabakpflanzen und im Winter dann in der engen Bauernhausstube. Dagegen war Käthe ein Einzelkind gewesen. Der Mittelpunkt ihrer kleinen Familie. Wenigstens eine Zeit lang. Vater, Mutter, Kind. Wenigstens bis der Vater krank wurde und dann mehr und mehr die Aufmerksamkeit der Mutter beanspruchte. Bis er starb, bis dann die Mutter krank wurde und sich daraus eine neue Nähe ergab für die beiden, die Mutter und das heranwachsende Mädchen.
„Käthe, hier kommen die frischen Erdbeeren, der Bote will gleich das Geld haben.“
Lang konnte Käthe sich niemals den anderen Gedanken hingeben, denjenigen, die sich nicht um die täglichen Routinen des Hauses drehten. Sie ging an die Theke und suchte die vielen Scheine zusammen, die es brauchte, um diese Schuld zu begleichen.
Manchmal konnte Georg seine kleine Familie auch überraschen mit ausgefallenen Ideen. Aus dem Blauen heraus nahm er Willi eines Tages bei der Hand, setzte ihn an einen leeren Tisch, dessen Damast glitzerte unter den gläsernen Tropfen der Lüster. Schnipste mit den Fingern und ließ ihm auftischen, seinem Sohn. François, der Chef de Salle, wurde herbeizitiert. Er zog sich die weißen Baumwollhandschuhe an, knöpfte sie über dem Puls zu und räkelte alle zehn Finger in ihrer Verhüllung. Dann ging es los. Zwei Teller übereinander. Zwei Gabeln links, zwei Messer rechts, ein größerer Löffel, ein kleinerer Löffel und eine kleine Gabel hinter dem Teller, jedes einzelne Teil noch einmal liebevoll gestreichelt, so sah es aus, wenn die Besteckteile erneut in den behandschuhten Händen zu ihrem makellosen Glanz gerüstet wurden. Die Serviette aus steifem Leinen wurde neben das Gedeck gelegt. Ein kleines Tellerchen mit kleinem Messer links, drei Gläser rechts hinterm Teller. Wieder schnipste der Vater und hielt plötzlich eine Tasse mit zwei Henkeln in der Hand. Wartete dann wortlos, bis Willi endlich verstand, dass er die Serviette vom Tisch nehmen musste, und sie auf seinen Schoß breitete. Die Suppe roch nach Fisch. Willis Magen revoltierte gegen diesen Geruch.
„Bon appétit.“
Das kannte er, diese Zauberformel. Er griff sich den kleinen Löffel, aber bevor er ihn in die Suppe tunken konnte, schleuderte ein schneller scharfer Schlag der väterlichen Hand den Löffel quer über den Tisch. Jetzt kam ein langer Vortrag, wann was wie zu benutzen wäre. Das war der Dessertlöffel, der Suppenlöffel lag hier. Und immer zwischendrin die Lippen mit der Serviette abtupfen. Der Vater ließ die Gläser füllen, nacheinander. Wasser, weißer Wein, roter Wein, ließ die Speisen auftragen. Schon im Mund wurde alles dick und dicker und wollte dann nicht hinunter in den Magen rutschen. Willis Ohren glühten, er schlenkerte mit den Beinen, um seine Nervosität abzuleiten.
Da rief es von hinten und der Vater wurde gebraucht. Willi ließ Gabel und Messer fallen. Gott sei Dank musste er nicht weiteressen, er wollte es nicht und er würde es nicht tun. Er schlich sich hinaus auf die Straße und marschierte los, dabei rannen ihm die Tränen über die Wangen. Irgendwann drehte er um, versuchte seinen Weg zurückzufinden, es dauerte lange, wurde schon dunkel und ihm war kalt. Jetzt würde er noch geschimpft, dass er sich aus dem Haus bewegt hatte, davor graute ihm schon. Aber keiner hatte ihn vermisst. Als er an der Theke auf den Vater traf, lächelte der ihn an und sagte: „Na, Lektion gelernt?“
Da wunderte sich Willi sehr und lächelte zurück. Georg zwinkerte ihm zu, schob ihn in die Küche und ermahnte ihn: „Hausaufgaben nicht vergessen. Käthe, hier kommt dein Sohn, er braucht dich.“ Dann war er verschwunden wie der Zauberer im Märchen. Die Mutter zog ihn in eine Ecke, schob Töpfe und Teller zur Seite und stellte eine Schale mit „Krämalamande“ vor ihn. Die kannte er, die liebte er, die löffelte er schnell. Dann ließ er den Kopf auf die Arme sinken und einen Augenblick später war er eingeschlafen.
Das Gute ist gut oder böse, das Böse kann böse oder gut sein. Das Helle dunkel, das Schwarze grau oder bunt werden. Nichts ist sicher. Aber er wird nicht in einen Bären verzaubert, er weiß, dass Rumpelstilzchen so heißt, dass man der Hexe nicht in ihr Haus folgen darf und nicht in den roten Apfel beißen. Man muss immer auch für den dreizehnten Gast ein Gedeck und einen Stuhl parat haben, und wenn die Hecke riesengroß ums Haus wachsen sollte, dann nimmt man sich eben eines der scharfen Messer aus der Küche und schlägt drauf auf die stacheligen Zweige, bis man wieder einen Weg hinaus gefunden hat. Gott sei Dank hatte er sich alles gut gemerkt, was Mamamine ihm abends im Bett vor dem Einschlafen vorgelesen hatte.
17
Die Sommer kamen in diesen Jahren schnell, Mine holte Willi ab, nahm ihn mit an den See und nach wenigen Tagen war Willi eingetaucht in das andere Leben, in dem die tagtägliche Wiederkehr bekannter Ereignisse und Erlebnisse seinen Erwartungen ein zuverlässiges Muster gab.
Er saß neben Herrn Regelmann auf der Terrasse und schaute den Bienen zu, die sich zwischen den Geranienblüten tummelten, es gab wieder einen Hund im Haus, einen kleinen Schnauzer, der furchteinflößend giftig bellte. Willi warf ihm Stöckchen und sagte dann „aus“, energisch wie ein Offizier – so hatte es Fried ihm beigebracht –, bis Flox das Stöckchen fallen ließ. Das konnte man endlos wiederholen. Es fühlte sich wunderbar an, das warme weiche Fell zu streicheln und dabei in der Sonne zu sitzen, Flox anzusehen, zu spüren, dass er nur darauf wartete, weiterspielen zu können, dass er bereit dazu war, jederzeit. Das macht so zufrieden, dachte Willi.
Heli begegnete er nicht, obwohl er immer wieder ins Gebüsch kroch und sich am Maschendrahtzaun entlangarbeitete, bis das Nachbarhaus in Sicht kam. Die Läden waren alle zugeklappt, die Gartenstühle an den Tisch gekippt, die Blumenkästen leer, in der Wiese blühten überall dicke gelbe Löwenzahnpflanzen und Büschel von Gänseblümchen. Was hatte das zu bedeuten?
„Na, wie gefällt es dir denn in deiner neuen Schule?“, fragte ihn Frau Amalie.
„Gut“, antwortete er knapp und schaute sie nicht an dabei.
Er nahm ihr den Eimer mit den in Haferflocken eingeweichten zerstoßenen Eierschalen ab und brachte ihn zu den Hühnern. Das Gatter war schwer zu öffnen, der Klapphaken ganz verbogen. Das konnte doch so nicht bleiben. Willi wusste, wo Fried sein Werkzeug hatte. Er holte eine Zange und versuchte, den Haken zu biegen. Als das nicht gelingen wollte, holte er sich einen Hammer, zuerst einen großen, der ihm nicht gehorchte, daraufhin den kleineren, den er schließlich in beide Hände nahm. Am Anfang traf nur jeder fünfte Schlag auf den Haken. Willi schwitzte, seine Zunge fuhr zwischen den verkrampften Lippen hin und her. Er ließ nicht locker, die Schläge wurden kräftiger, schneller und schließlich traf er fast jedes Mal und konnte deutlich sehen, dass der Haken sich dorthin bog, wo er gebraucht wurde, um später in seinem Anker zu landen, sicher, genau,