Ein herrliches Vergessen. Petra Häußer

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Ein herrliches Vergessen - Petra Häußer Lindemanns

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bestimmen kannst, was mit dir geschieht.“

      „Aber ich bin schon zehn und werde im Januar schon elf“, versuchte es Willi noch einmal. Es half nichts, das sah er schon am Gesicht des Herrn mit dem Zwicker, der ruhig blieb und freundlich, als er ihm sein Formular wieder entgegenstreckte.

      „Wir sind noch eine weitere Stunde hier. Geh und hole deinen Vater, dann werden wir dich hier anmelden können.“

      Nun gab Willi Fersengeld. Rannte ins Hotel, wo war der Vater? Er erwischte ihn, kurz bevor er in seinem Büro verschwinden wollte und hielt ihn am Ärmel fest.

      „Vater, du musst mit mir kommen zur Schulanmeldung.“

      Georg nahm das Formular und las es durch.

      „Mein lieber Herr Sohn, was hast du da für großspurige Pläne? Willst du ein Pfaffe werden oder ein Kurpfuscher oder ein Rechtsverdreher?“

      Er machte eine Pause. Willi ahnte, dass Schwierigkeiten auf ihn zukommen würden.

      „Ich bin ein guter Schüler, ich darf auf die höhere Schule gehen. Da lernt man ...“

      „Ein guter Schüler, mein Herr Sohn. Das ist schön. Aber wozu muss ein guter Schüler auf eine andere Schule als diejenige, die ihn dazu gemacht hat, zu einem guten Schüler?“

      Der Vater packte das Formular in beide Hände und zerriss es.

      „Schlag’s dir aus dem Kopf, mein Lieber. Für so etwas haben wir kein Geld. Das brauchen wir nicht. Deine Mutter und ich sind auch nicht auf eine höhere Schule gegangen und hier sind wir und verdienen unser Geld. Gutes Geld. Wir sind jetzt bald unser eigener Herr, Willi, wir sind dabei ein eigenes Hotel aufzubauen. Deine Mutter und ich. Jeden Pfennig sparen wir dafür, verstehst du das? Dann bist du der Sohn vom Hotelier Hug. Das ist besser als höhere Schule. Bildung, mein Lieber, Bildung gibt es anderswo zu holen. Sperr deine Augen und Ohren auf, dann weißt du, wie das Leben läuft. Und das ist wichtig. Wir wollen keinen Bücherwurm und Stubenhocker. Das wird man dort in dieser Anstalt. Also hopp hopp jetzt, raus hier, ich habe noch zu tun.“

      Geld also, es ging dem Vater also darum, dass es Geld kostete! Entschlossen rannte Willi hinaus, lief hoch zur Villa, holte den versteckten Hausschlüssel unter dem umgedrehten Blumentopf hervor, schloss die Tür auf und trappelte die Treppe hinauf in sein Zimmer. Er zog die Zigarrenkiste unter seiner Matratze hervor, prüfte, ob das dicke Gummi hielt, dann sauste er wieder hinunter, schloss die Eingangstür ab, versteckte den Schlüssel und eilte zurück ins Hotel. Dort ohne zu zögern zum Büro des Vaters, direkt zu seinem Schreibtisch und bevor der Vater ein Wort sagen konnte, hatte Willi die Zigarrenkiste vom Gummi befreit, sie geöffnet und ihren Inhalt ausgekippt. Er stemmte beide Hände in die Hüften und sah den Vater herausfordernd an.

      20

      Hermann Kieferle kam nun in eine Schule in den südlichen Schwarzwald, in der er auch wohnen würde und dort würde man ihn jetzt schon darauf vorbereiten, eines Tages wie sein Vater Pfarrer zu werden. Auch Amir Komarowsky ging nicht mit Willi und Kurt Heidelberger in die neue Schule. Damit ging eine Epoche zu Ende, und erst im Rückblick wurde ihnen allen klar, wie schön und wie wichtig diese für sie gewesen war.

      Ihr Klassenlehrer, Herr Schupp, hatte die vier immer das „Quartett“ genannt, er hatte ihre Zusammengehörigkeit erkannt, und so waren sie eine Art offizieller Körper geworden, sie bildeten eine Bande.

      Eine Bande gibt nicht so schnell auf, wenn sich die persönliche Situation ihrer Mitglieder verändert. Also ordnete Willi an – als Präsident der Bande konnte, ja musste er das tun: anordnen wie ein Chef – er ordnete an, dass eine Hütte gebaut werden musste. Sie begannen, Baumaterial zu sammeln, und Willi verbrachte viele Abende damit, einen Bauplan zu erstellen, noch bevor sie einen geeigneten Standort fanden. Das hielt sie noch eine Weile zusammen. Obwohl die Hütte nie gebaut wurde, dazu fehlte ihnen nach der Trennung der rechte Schwung, machten sie sich immer wieder auf die Suche nach geeignetem Material. Holzstücke, abgerissene Äste, leere Behälter, Körbe, aller Art rostige und verbogene Nägel und Schrauben, alles, was sie am Wegrand fanden, was besitzerlos vom Fluss an seine Ufer gespült wurde, lasen sie auf und häuften es unter einen alten Weidenbaum, dessen herabhängende Zweige einen Hohlraum umschlossen, eine Art Naturhütte.

      Nicht nur die Organisation des Baumaterials, sondern auch die Organisation der Bande bereitete dem Präsidenten viel Kopfzerbrechen; es galt, Listen anzulegen, Terminpläne zu erstellen, daneben hatte er auch noch seine Schulaufgaben ordentlich zu erledigen, musste ab und zu unter den Augen der Eltern auftauchen und das zur jeweils richtigen Zeit, einer Zeit, in der sie ihn auch wahrnahmen und nicht einfach übersahen wie meist. Dass die Eltern dauernd unter der Anspannung standen, ihren Betrieb am Laufen zu halten, dass der „Laden“, wie Georg es immer wieder bezeichnete, wichtiger war als der nun nicht mehr so kleine Sohn, erkannte dieser und nutzte diesen Zustand für sich. Hinter den abgewandten Blicken seiner Eltern öffnete sich für ihn ein Raum großer Freiheit, den er neugierig und selbstbestimmt abzumessen begann, als er sich seiner verschiedenen Stärken mehr und mehr bewusst wurde. Er spürte, dass er die feinen Unterschiede im eigenen Verhalten nicht nur erkennen, sondern auch willkürlich steuern konnte, wusste immer besser, wie man sich einer oder der anderen Person am besten näherte, selbstbeherrscht und vorsichtig wie eine Katze, aufmerksam, konzentriert auf den anderen wie ein Hund. Höflich, freundlich gar wie ein guter Ober. Wenn man nach oben schauen musste, hinauf in jeder Hinsicht, weil der andere nicht nur älter, sondern auch klüger und möglicherweise sogar noch höflicher war als man selbst, galten andere Regeln, als wenn man nach unten schaute, wenn es sich um jemanden handelte, auf den man herabsah, was nicht immer eine Frage der Körpergröße sein musste. Dann war eine tiefe Stimme, energisches Auftreten, Unerbittlichkeit angesagt. Franz Schäferle und Wendelin Gerber, das Walross, oder auch Amir, der alte Amir, bevor er Willis Freund wurde, diese Rotznasen, Stümperkicker, Versager im Rechnen und am Reck, diese lauten, stinkenden Lumpenstengel, die versucht hatten, ihn einzuschüchtern, damals als er der Neue war in seiner Klasse, noch in der alten Schule, wenn man diesen Vogelscheuchen formvollendet begegnen wollte, musste man sich auf einen unsichtbaren Sockel stellen, breitbeinig und mit blitzenden Augen, zusammengepressten Lippen, damit sie auch ohne ihre Fäuste nur zu ballen, verstanden, dass es keinen Sinn haben würde, sich mit ihm anzulegen, da er ihnen überlegen wäre, und wenn er dazu den Vater als Schreckgespenst hinter sich hätte aufbauen müssen, genauso unsichtbar und zudem ohne Hoffnung, diese Drohung wahr machen zu können, was sie ja nicht wussten. Aber der Vater wäre wohl der Letzte gewesen, der sich in die Händel seines Sohnes hätte einmischen wollen. Es kam eben vor allem darauf an, es ihnen glaubhaft darzustellen. Das war Willi gelungen. Ohne jeglichen Kratzer hatte er sich den Respekt dieser Schlägertypen verschafft, nun ging er ihnen aus dem Weg. Amir aber, der ein bisschen schlauer war als die anderen und ein gutes Herz hatte, hatte sich verbündet mit ihm, war sein Kumpel geworden und jetzt waren sie Freunde.

      Die besondere Freiheit hinter dem Rücken der vielbeschäftigten Eltern koppelte Willi weitgehend ab vom Geschehen im Hotel. Er hielt die Stunden der Mahlzeiten ein, er kam zur rechten Zeit heim, nie hatte bisher der Vater oder die Mutter einen Besuch beim Lehrer machen müssen, denn es gab keinerlei Beanstandung über sein schulisches Verhalten oder seine Leistungen, alles lief wie geschmiert. Seine Ausflüge in die Aurelia-Lichtspiele mit Herrn von Majakowski waren erlaubt. Inzwischen ging er jedoch auch ohne seinen alten Freund und Herr Beck nahm ihn mit in den Vorführraum, erklärte ihm die Maschinen, ließ ihn einige Male überblenden, stand neben ihm, das nächste Mal brauchte Willi Herrn Beck nicht mehr. Die großen Rollen zu stemmen, sie sorgfältig einzulegen, den rechten Zeitpunkt abzupassen, die Überblendung nicht zu früh, nicht zu spät anzustoßen, all das hatte Willi so viele Male schon beobachtet, dass er nichts mehr falsch machen konnte, es konnte nicht schiefgehen, das wusste er, er war sich ganz sicher.

      „Mein Assistent“ nannte ihn Herr Beck inzwischen.

      „Was

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