Ein herrliches Vergessen. Petra Häußer
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Irmi kam mit dem ihr eigenen Aufwand, kurz bevor Käthe Willi endlich aus der Tür zog, vorbei und spuckte ihm auf den Kopf, sagte dazu „Toi-toi-toi“ und streichelte ihm dann die Locken aus der Stirn. Sie rannten im Schweinsgalopp hin zur Schule und Käthe kniete sich vor ihren Sohn, bevor sie ihn zu den anderen Kindern ließ, streichelte über die angeklebten Haare und sagte: „Das meiste, was du dort hörst, wird dich interessieren. Wenn dir etwas nicht gefällt, versuch, es nicht so ernst zu nehmen. Vor allem, denk dran, die Schule ist nie wichtiger als wir, dein Papa und deine Mama und dein Zuhause.“
Sie dachte verzweifelt darüber nach, ob sie irgendeinen wichtigen Gedanken vergessen hatte, denn sie bekam eine Gänsehaut angesichts der Tatsache, dass das nun ein historischer Augenblick im Leben ihres Sohnes war, von dem viel für seine Zukunft abhängen würde. Und insgeheim wusste sie, dass sie gerade geschwindelt hatte. Wie wichtig ist die Schule für das ganze Leben. Und um wie viel mehr Zeit würde er dort verbringen als zusammen mit seinen Eltern.
14
Da Willi es nicht gewöhnt war, sich mit einer größeren Anzahl Gleichaltriger zu vergnügen, wurde er nur wenig abgelenkt durch die Dummheiten seiner Klassenkameraden und wandte einen Großteil seiner Aufmerksamkeit dem Herrn Lauble zu, seinem Klassenlehrer.
Herr Lauble war eigentlich Musiker, sowohl ausgebildeter Organist als auch ein sehr guter Geiger. Er verfügte über einen angenehmen Bariton und Sang und Klang bedeuteten ihm ebenso viel wie die Luft zum Atmen. Jeder Schultag begann und endete mit einem Lied. Einfache Weisen, die er die Kinder zuerst nur summen ließ. „Im schönsten Wiesengrunde liegt meiner Heimat Haus“ stimmten sie zusammen an. Mit den Händen sollten sie die Veränderungen der Tonhöhe darstellen, mit den Füßen dazu den Takt schlagen, eine akrobatische Leistung, die nur wenigen von Anfang an gelang. Aber immerhin ließen sie sich darauf ein, es zu probieren, und somit erzeugte Herr Lauble ganz ungezwungen Konzentration, wo sein Kollege Achenbach schon am ersten Tag den Stock zückte. Herr Lehrer Lauble beschäftigte die klugen, fleißigen Schüler mit Aufgaben, denen sie gerade eben gewachsen waren, und widmete sich dann verstärkt denjenigen, die wohl nie mehr als ihren Namen und ihre Adresse würden schreiben können. Er lobte viel, sein schlimmster Tadel war ein verkniffener Mund, ein lippenloses Verbeißen seiner Enttäuschung und seines Unmutes über das, was nicht gelingen wollte oder konnte. Während des Unterrichtens ging er beständig zwischen den Reihen und Bänken auf und ab, brachte sich so in einen direkten persönlichen Bezug zu jedem einzelnen Kind, sprach es unmittelbar an, sodass es sich ernst genommen und in eine persönliche Verantwortung hineingezogen fühlte.
Mit weniger Worten gesagt, er war ein pädagogisches Naturtalent und ein ausgeglichener, optimistischer Mensch. Sein einziger Schwachpunkt war die Tatsache, dass er vor jedem Eintrag in das Klassenbuch den kopiersicheren Stift an die Zunge führte, damit, was er schrieb, in schönem glänzenden Violett erstrahlte und nicht fadenscheinig gräulich daher käme. So bekam er bis zum Ende des Vormittags eine tief dunkelblaue Zunge, was ihn dem geheimen Spott seiner Schüler aussetzte. Der kleine Friedrich Mager, der schräg hinter Willi saß, kicherte darüber und sagte eines Tages auf dem Pausenhof zu Willi: „Schau mal, heute hat der Blaule Aufsicht.“
Willi brauchte einen winzigen Augenblick, bis er zu grinsen begann und einen anerkennenden Lacher ausstieß. Pfiffig, dieser Friedrich, dachte er.
Wenige Tage darauf fehlte Willis Tischnachbar Adalbert. Da drehte er sich zu Friedrich um, ruckelte einladend mit dem Kopf und Friedrich schnappte sich seine Schiefertafel, das Säckchen mit den Kreiden, der Fibel und seinem Pausenbrot, kletterte über den Tisch und ließ sich neben Willi in die Bank gleiten. So fanden die zwei zusammen, die ohnehin am Rand standen. Willi, der hier nicht geboren war, und Friedrich, von dem man nur wusste, dass er samstags nie in die Schule kam, weil er da beten musste. Beide waren anders und in ihrer Andersartigkeit möglicherweise schwächer als die anderen. Beide wurden häufig von Herrn Lauble wegen ihrer schönen Schrift und der gewissenhaft ausgeführten Hausaufgaben laut gelobt. Das Unbehagen über dieses Herausheben aus der Masse ertrugen sie besser zu zweit.
So waren sie auch zu zweit, als sich der Unmut der anderen Klassenkameraden ballte und eine Horde von fünf oder sechs Burschen ihnen auf dem Nachhauseweg nachschlich. Der Überfall kam plötzlich an einer unbelebten Straßenecke. Friedrich lag schnell am Boden und blutete heftig. Willi wurde von einer brennenden Wut erfüllt. Er stürzte sich auf die Angreifer, sodass sie sich von Friedrich abwandten und ihn in die Mangel nahmen. Er biss in alles, was in die Nähe seiner Zähne kam, kratzte, stieß mit Fäusten und Füßen, schrie dabei wie eine Hyäne.
„Wie eine Hyäne habe ich geschrillt“, erklärte er später, als er neben Friedrich auf einem Hocker in der Hotelküche saß und sich von seiner Mutter das Blut aus dem Gesicht wischen ließ.
„Geschrien, Willi, es heißt geschrien“, warf Imogen ein, die sich gleichzeitig um Friedrichs Blessuren kümmerte.
„Auweia, das wird noch lang zu sehen sein“, sagte sie, als sie ein kaltes nasses Handtuch auf Friedrichs Schläfe drückte.
„Du bist tapfer wie Prinz Eisenherz, weißt du das“, liebevoll strich Imogen Friedrich eine blutige Haarsträhne aus der Stirn.
Da kam plötzlich Georg in die Küche gestürmt.
„Was ist denn hier los? Ist das ein Lazarett? Raus hier aus der Küche.“
Mit flinken Fingern packten die beiden Frauen die kleine Waschschüssel, die Tücher, die Salbentiegel und bedeuteten den Buben mit einem Kopfnicken, sie sollten ihnen folgen. Käthes Lippen waren fest aufeinandergepresst, man konnte sie fast nicht mehr sehen.
Draußen im dunklen Gang wurde der Samariterdienst fortgesetzt. Dann holte Käthe zwei schöne dicke Krapfen aus der Küche und hielt sie den Buben hin.
„Es hat mich gefreut, dass ich jetzt den Friedrich auch mal kennengelernt habe. Du bist also dem Willi sein Freund?“
Friedrich nickte mit vollem Mund und dann sahen die beiden Buben einander an und grinsten.
Am Abend kam der Vater in Willis Zimmer und hielt ihm eine lange zornige Rede. Über die Küche, die ein heiliger Ort der Sauberkeit ist, die Keimzelle von „Gedeih und Verderb“, wie er es ausdrückte. Dass der Sohn des Maître d‘Hôtel und der Leiterin der Kaltküche, oder vielmehr vielleicht der Sohn eines zukünftigen Hotelbesitzers, das solle er sich nur mal merken, dahin strebten sie nämlich, die Mutter und er, und diesen Weg würden sie sich vom Sohn nicht vermasseln lassen, dass solch ein Bub besser wissen muss als alle anderen, was richtig und was falsch ist. Er solle sich gefälligst Respekt verschaffen bei seinen Klassenkameraden. Man lasse sich nicht blutig prügeln. Nicht sein Sohn. Beim nächsten Mal, wenn er verprügelt würde, bekäme er am Abend vom Vater noch was obendrauf, das würde ihn dann vielleicht lehren, so dazustehen, dass keiner es wage, ihn anzurühren. Willi wollte am liebsten weinen. Er sah den Rücken des Vaters stumm mit aufgerissenen Augen und fest aufeinandergepressten Lippen an, als er aus dem Zimmer ging. Da kam die Mutter. Sie nahm ihn in den Arm und erklärte ihm, der Vater meine es nur gut, aber er könne es eben nicht