Ein herrliches Vergessen. Petra Häußer
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Jenny schaffte es besser als die Eltern, ihm zuzuhören, auch wenn er einfach so auftauchte mitten am Tag, ohne darauf zu achten, womit sie gerade beschäftigt war. Meist saß sie im Büro und hatte Berge von Papieren vor sich liegen oder sie schrieb viele kleine Zahlen untereinander in ein dickes Buch, mit gestochen schöner Schrift. Die konnten nicht zusammenfallen wie Käthes Soufflé, oder kalt werden wie der Rôti de Jour, den es schnell aufzutischen galt. Und manchmal brauchte nicht er Jenny, sondern sie brauchte ihn. Als Begleitung zum Einkaufen. Sie nahm ihn mit in die schönen Modegeschäfte, er musste sich auf einen Stuhl setzen und warten, bis sie sich in einer kleinen Kabine ein Kleid aus der Auslage angezogen hatte, sich vor ihn stellte und ihn erwartungsvoll ansah.
„Und? Wie steht mir das? Wie sehe ich aus?“
Dann durfte man nicht einfach „schön“ sagen, obwohl sie das war. Sie war immer schön! Man musste sich Mühe geben, das zu umschreiben.
„Diese Farbe passt gut zu deiner Haarfarbe. Man kann deine schönen seidenen Strümpfe sehen, das gefällt mir. Das graue Kleid mit dem Pelzrand sieht eleganter aus als das grüne. Die Perlen am Halsausschnitt glitzern so fröhlich wie deine Augen.“
Bald hatte er eine Anzahl schöner Sätze parat, die Jenny glücklich machten. Wenn sie schon weder mit Albert noch mit einer Freundin einkaufen gehen konnte wie damals zu Hause in München, dann musste Willi ihr doch ein guter Ersatzkamerad sein. Aber meistens sagte Jenny dann eben diesen Satz, dass sie es sich noch einmal überlegen müsste. So war das Einkaufen ein Spiel mit Möglichkeiten und ein herrlicher Zeitvertreib. Besser war es allerdings, sich bei der Rückkehr nicht von der Mutter erwischen zu lassen, weil es sie ein bisschen nervös machte, wenn er seine Zeit mit Jenny verbrachte, und weil sie eigentlich wollte, dass er endlich wieder mit den Buben aus seiner Klasse spielen ging. Ein Kind gehörte unter Kinder.
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Als es wärmer wurde, ließ er sich also von Amir Komarowski abholen zum Fahrradfahren oder zum Ballspielen auf der Lichtenthaler Allee, dann später zum Tennisbälle Einsammeln an den Plätzen, wo die Herren der großen Villen am Hang sich nach und nach einfanden, da war dann auch der Hermann dabei, der Sohn vom Pfarrer, und der Kurt, der Sohn vom Kurarzt. Am Ende eines langen Nachmittags steckte man jedem der Buben eine Münze zu, einen Zehner, einen Fünfziger oder einmal sogar eine Mark-Münze. Das Geld wanderte in die Zigarrenkiste und sammelte sich dort an. Manchmal legte Willi alles auf seinen Schreibtisch nebeneinander, dann zählte er die Münzen, notierte sie nach Wert, addierte am Schluss und unterstrich diese Summe, indem er sein hölzernes Lineal zu Hilfe nahm, das letzte Weihnachtsgeschenk von Mine und Fried. Diese Summe gab ihm Anlass, beim Einschlafen über Anschaffungen nachzudenken und sich auszumalen, wie der Erwerb dieser Dinge sein Leben verändern könnte.
So und ein bisschen anders ging es weiter. Willi brauchte neue Hosen, weil die anderen zu kurz geworden waren und der Hosenbund spannte, er brauchte neue Stiefel, er schrieb nicht mehr auf die Schiefertafel, sondern in richtige Hefte aus Papier. Die Mutter durfte ihn nicht mehr küssen, wenn der Hermann und der Amir ihn abholten, er brachte Jenny eine Rose mit, als sie Geburtstag hatte – nach langem Hin und Her: sollte er sie einfach abpflücken, dort in der Anlage, wo so unzählig viele nebeneinander standen und eigentlich doch keiner eine besondere Bewunderung zukam, eine der Art, wie Jenny sie zollen würde, davon war er überzeugt, oder war das eventuell Diebstahl und könnte er von einem dicken Polizist am Jackenkragen gepackt und ins Gefängnis gezerrt werden? Also wäre es nicht besser, diese Rose mit eigenem Geld, das er doch hatte, in einem Blumenladen zu kaufen? Dabei fühlte er sich dann wohler, er hätte keine Entschuldigung gehabt für den Diebstahl, das wäre das größte Problem gewesen.
An einem Abend im November, als er nicht allein nach Hause gehen wollte und sich deshalb bis spät in die Nacht noch auf der Lauer befand, wann die Eltern wohl endlich Schluss machen würden und er mit ihnen zusammen zurückgehen könnte in das kalte, leere dunkle Haus am Hang, vertrieb er sich die Zeit damit, so viele halb leere Weingläser an der Theke auszutrinken, dass ihm schwindelig davon wurde und er in die große Bodenvase taumelte, sie umriss, sodass sie zerbrach und das Wasser sich über den spiegelglatten Marmorboden der Eingangshalle ergoss.
Der Vater kam gerannt mit allen anderen, die den Lärm hörten, stemmte die Hände in die Hüften und polterte: „Was ist denn da los“, griff sich seinen Sohn, schnupperte an ihm und dann begann er zu lachen, er lachte noch immer, als Käthe Willi an der Hand nahm und wegzog und dabei ein sehr böses Gesicht machte.
Man konnte eigentlich nie sicher sein, wie etwas ausgehen würde, am besten man war immer auf alles gefasst und überlegte schon mal, was man tun könnte, wenn ...
„Wir leben noch“, sagte Amir immer. Er sagte eigentlich wir „läbben noch“. Und das sei das Wichtigste. Alles andere lasse sich irgendwie richten, solange man noch seine Arme und Beine habe und vor allem seinen Kopf auf dem Hals.
Inzwischen war Willi zehn Jahre alt geworden und würde bald nach Weihnachten schon elf Jahre alt sein.
Am 12. November kam Herr Schupp, der Klassenlehrer, eines Morgens ins Klassenzimmer und teilte ein Blatt aus, ein Formular, das sie den Eltern geben sollten. Es ging um die mögliche Überleitung in eine andere Schule. Nicht alle bekamen dieses Blatt, in Wirklichkeit waren es sogar nur wenige, aber Willi war dabei. Zunächst hatte er keine Ahnung, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war.
Da auch der Kurt und der Hermann solch ein Formular bekommen hatten, wendete er sich an sie und sie erklärten ihm, dass es hier um eine „höhere“ Schule gehe, eine, in der man Mathematik und fremde Sprachen lernen könnte. Nur die guten Schüler, die besten genaugenommen, dürften dorthin gehen. Am Samstag müsste man sich anmelden.
Zu Hause las er sich das Formular durch und trug ein, was er wusste. Name des Vaters, Adresse, Beruf. Seinen Namen, sein Geburtsdatum, die Noten in Rechtschreiben, Rechnen, Heimatkunde, Sport. Am Samstag zog er sich seinen Anzug an, die besten Stiefel, nachdem er sie noch einmal mit einem weichen Tuch poliert hatte, dann machte er sich auf zu der neuen Schule, Kurt und Hermann hatten ihm den Weg genau erklärt.
An der großen, schweren Tür klebte ein Plakat mit dem Hinweis auf das Zimmer 27, erster Stock links. Dort heute Anmeldung der Sextaner. Willi stapfte die Treppe hinauf und klopfte an der Tür. Am Pult saß ein Herr mit einem Zwicker.
„Ja?“
Willi trat ein und näherte sich dem Pult, streckte die Hand aus und beugte zackig den Kopf, so wie es Mine ihm erklärt hatte. Dann setzte er sich auf einen der beiden Stühle vor dem Pult, nachdem er zuerst das Formular aus seiner Hosentasche gezogen, auseinandergefaltet und vor den Herrn auf die Tischplatte gelegt hatte.
„Ich komme zur Anmeldung.“
Der Mann reckte das Kinn, nahm das Formular und begann, es zu lesen.
„Du bist der Willi Hug? Dein Vater ist im Hotel Krokodil tätig als ... äh ...“
„Mein Vater, meine Mutter, der Onkel Albert und die Jenny, die machen das zusammen. Das Hotel. Die sagen den anderen, wie’s gemacht wird. Alles. Das Kochen, das Tischdecken, die Getränke. Auch die Zimmermädchen, der Portier, der Liftboy, alle müssen tun, was mein Vater sagt.“
„Trotzdem, mein lieber Willi,