Ein herrliches Vergessen. Petra Häußer

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Ein herrliches Vergessen - Petra Häußer Lindemanns

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als er sich sein Werk betrachtete. Der Haken war repariert, das Werkzeug wieder dorthin gebracht worden, wo es Fried suchen würde, und die Zeit hatte einen Riesensprung gemacht, schon konnte Willi an den Gartenzaun stehen, die Straße hinunterschauen, gleich würde Mine dort unten erscheinen, an jedem Arm würde sie eine Tasche tragen, aber nicht lange, denn Willi würde ihr entgegeneilen und ihr die eine abnehmen, vor allem, damit sie ihm das Haar aus der Stirn streichen und fragen konnte: „Na, wie war dein Tag?“

      Das gefiel ihm schon besser. Mine hatte genau die richtige Melodie in ihren Sätzen, man merkte, dass sie es wirklich wissen wollte und die Frage nicht nur stellte, um eine Frage zu stellen.

      Willi würde also die Tasche tragen und dabei hochmütig an Frau Klemper vorbeischauen, der Nachbarin, weil er sie nicht mochte, seit er gehört hatte, wie sie sich lang und breit über „die Franzosenwirtschaft“ beschwerte bei Amalie. Die Französin lasse so viel Unkraut stehen am Gartenzaun, den Hahn müsse sie endlich mal schlachten, der krähe schon ganz heißer und die Quitten müssten runter vom Baum, was war denn das für eine welsche Wirtschaft da nebenan. Seiner lieben Mamamine durfte man so nicht hinterherreden. Das hieß, wer das tat, war ein Nichts für ihn. Das hatte ihn Jenny gelehrt. Wie man an einer Person vorbeiging, die man strafen wollte für ungebührliches Benehmen: Man strafte sie mit Nichtbeachten, ließ sie so „in der Kälte stehen“.

      Schon auf dem Heimweg würde er Mine alles berichten, was an diesem Tag wichtig gewesen war für ihn oder zumindest das, was man erzählen konnte. Vom leeren Garten nebenan, von seiner Sehnsucht, Heli zu sehen, von seiner Traurigkeit, hier noch keinen Kameraden gefunden zu haben, außer Flox natürlich, da wollte er nicht undankbar sein, aber von seiner Not, die zähe Zeit verstreichen zu lassen, würde er nicht sprechen, weil Mine das nur traurig machte. Er wusste ja immer, wie man sich was zu schaffen machen konnte.

      Dann kam die Mutter zu Besuch und plötzlich brauchte er sich nichts mehr zu schaffen machen, weil Käthe so viel vorhatte mit ihm. Boot fahren, schwimmen lernen, schöne Steine sammeln; sie zeigte ihm die Marienschlucht und das Echo, zusammen gingen sie in die Meersburg und überlegten sich, ob sie dort gerne hätten leben wollen, sie fuhren mit der Kutsche nach Unteruhldingen und schauten sich die uralten Hütten auf dem Wasser an, wo Menschen „schon vor unserer Zeit“ gelebt hatten.

      „Was ist unsere Zeit?“, fragte Willi und Käthe musste seufzen und überlegen, wie sie das erklären sollte. Jetzt flog sie, „unsere Zeit“. Schließlich kam auch der Vater und blieb über Nacht, am nächsten Tag mussten sie sich von Mine und Fried verabschieden, was Willi gar nicht so schwer fiel. Fröhlich winkte er aus dem Zugabteil und hüpfte dann auf und ab, weil er sich auf die Schule freute, den Völkerball, das Kopfrechnen und auch auf Jenny, Imogen, Herrn Kuppinger, den Pförtner, und Herrn von Majakovsky, den Stammgast. So einen gibt es immer und überall. Und diesen neuen liebte er besonders, denn er unterhielt sich immer gern mit Willi, stellte ihm Fragen, erzählte ihm Witze, half ihm bei den Hausaufgaben und schenkte ihm Klebebildchen.

      18

      Wie schnell wurde es dann stürmisch! In der Gönneranlage gab es fast keine Rosen mehr, von den alten Bäumen in der Lichtenthaler Allee fielen die handtellergroßen bunten Blätter. Eines Tages brachte der jüngste Sohn der Birons ein kleines Fahrrad, das ist für Willi und seine Mutter lässt fragen, ob Käthe am nächsten Sonntag wieder einmal zum Kochen kommen kann. Dann brauchte Willi neue Stiefel und einen Schal und ein dicker Adventskranz wurde in der Eingangshalle aufgehängt.

      Seinem Vater wäre es recht gewesen, wenn er sich mit Joseph Warminger angefreundet hätte. Dessen Vater war der Dirigent vom Kurorchester und auch ein Stammkunde, ein gerne gesehener Gast, besonders wenn er die Solokünstler und ihre Entourage mitbrachte, abends nach den Konzerten. Da wehte durch die Halle ein ganz besonderer Wind, der Georg an die Zeit auf der Lusitania erinnerte oder vielleicht sogar ans Adlon, wenn dort die adligen Herren mit Damen am Arm erschienen, die ihre Nasen und Münder diskret hinter langhaarigen Pelzkrägen verbargen, sodass ihre Augen darüber wie Magnete wirkten, in deren Bann man nicht geraten durfte, weil man sonst seine Position vergessen konnte, dass man nämlich ein Niemand war, ein namenloser Schatten, ein Hintergrund, vielleicht ein angenehmer, wenn man seine Sache gut machte, einem weichen Teppich vergleichbar.

      Im Advent nahm die Hektik zu und Willi mit seiner Wuseligkeit, seiner Neugier, seiner Energie war wieder einmal überall im Weg.

      „Ach Gott, was soll ich sagen, es wird Zeit, dass du mal allein bleibst droben im Haus, es kann dir dort doch nichts passieren und du weißt doch, dass wir dann auch nach Hause kommen.“

      „Aber nein, meine liebe Frau Hug“, Herr von Majakovsky verstand, dass das Kind nicht oben in der Villa bleiben wollte. Allein! Er kannte dieses Gefühl des Alleinseins, es war nicht gut, wenn das schon ein Kind verspüren musste. Also bat er um die Erlaubnis, Willi unter seine Fittiche zu nehmen, dann und wann einen kleinen Ausflug mit ihm zu machen.

      „Ja, also wenn er Sie nicht stört.“

      Nein, im Gegenteil.

      So zogen also diese beiden los und Willi wusste nicht, wie ihm geschah, als er mit Herrn von Majakovsky plötzlich in einer großen Halle voller Menschen saß, direkt neben einem Mann, der Klavier spielte, und es dunkel wurde und vorne auf einer großen Fläche Bilder entstanden, die sich bewegten, und sie eintauchen konnten in eine andere Welt, ihre eigene Bedingtheit, ihre Sorgen, die quälenden Unzulänglichkeiten ihres realen Lebens vergessend.

      Es war eine aufregende spannende Geschichte von einem kleinen Jungen und einem Mann, die sich zufällig treffen. Der Mann ist Glaser, aber keiner in der Stadt braucht neue Fenster. Da haben sie zusammen eine rettende Idee: Der Junge wirft Steine in die Fenster und rennt schnell weg. Daraufhin kommt der Mann und bietet an, sie zu reparieren, was nun gerne jeder annimmt. Als ein großer dicker Polizist den beiden auf die Schliche kommt, wollte Willi aufstehen und gehen. Gott sei Dank blieb er dann doch sitzen bis zum guten Ende.

      Tagelang sah er die Bilder immer wieder vor sich, erinnerte sich an die Geschichte, plagte die Mutter, noch einmal mit ihm dorthin zu gehen zum Kinematographen, aber sie hatte einfach keine Zeit dazu, das musste er doch verstehen. Jenny ließ sich schließlich von ihm gewinnen mitzukommen. Der Mann an der Kasse erinnerte sich noch an ihn, weil Herr von Majakovsky ihn förmlich vorgestellt hatte, „der Kleine aus dem ,Krokodil‘ “, sagte er und der Mann an der Kasse nickte Verstehen.

      „Na, mein Freund, hat’s dir so gut gefallen?“, begrüßte er ihn lächelnd. Und Willi nickte.

      Von da an machte er sich regelmäßig auf nach dem Mittagessen, wenn die Hausaufgaben fertig waren, und schlenderte hinüber ins Aurelia Kino zu Herrn Beck, so hieß der Besitzer, sein neuer Freund, nur um ihm guten Tag zu sagen oder vielleicht um die Prospekte in der Eingangshalle zu sortieren, die abgerissenen Eintrittskarten und die Bonbonpapiere vom Boden zu sammeln oder auch alles, was die Damen und Herren so zwischen die Stuhlreihen hatten rutschen lassen, für Herrn Kammerle, den Pianisten, die Noten zu sortieren, ihm sein Bier und seinen Wurstweck zu bringen, und dies und das.

      Kurz vor Weihnachten rief Herr Beck Willi zu sich und hielt ein kleines grünes Blatt in der Hand.

      „Weißt du, was das ist, Willi?“

      Nein, er wusste es nicht.

      „Das ist ein kleines Wunder. Es ist ein Geldschein, ein ganz neuer. Eine Rentenmark. Die kriegst du jetzt von mir für alle deine Arbeit, die du für mich hier geleistet hast. Wer arbeitet, hat verdient, bezahlt zu werden. Schau sie dir an, diese neue Mark. Sie ist klein, aber fein. Auf die werden wir uns wieder verlassen können.“

      Willi steckte das Papier ein und zeigte es niemandem. Eine Weile trug er es in der Hosentasche, kruschtelte es immer wieder heraus und betrachtete es. Dann legte

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