Ein herrliches Vergessen. Petra Häußer

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Ein herrliches Vergessen - Petra Häußer Lindemanns

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zahnlosen Mund in einem breiten Lächeln zu öffnen, und als es schließlich in ein Lachgrunzen ausbrach, wenn man ihm mit den Fingern auf dem Bauch herumdrückte oder am Ohrläppchen zog. Es war für die älteren Söhne der Hugs, so als ob sie zurückschauen könnten und in ihm die eigene Vergangenheit sähen, eine paradiesische Zeit, in der Mutter und Vater ihr Lächeln und ihre Sanftheit auch auf sie verschwendet hatten, so wie jetzt auf ihn und später dann auf den kleinen Georg, den Johann, die Katharina und noch später auf das neue Jaköble, das auch nur ein paar Wochen bei ihnen blieb. Die Tränen der Sorge und die schluchzende Verzweiflung beim Tod Jakobs des ersten verschaffte den anderen Söhnen von Johann Michael Hug und seiner Frau Catharina Barbara eine Ahnung davon, wieviel auch sie ihren Eltern bedeuteten. Denn das auszusprechen, dazu reichte die Zeit nie, fehlten die Energie, der Frohsinn, die Lebensleichtigkeit.

      Trotz dieses frühen Arbeitseinsatzes bestand Frau Hug darauf, dass ihre Söhne Kinder waren und blieben, bis ihre Stimmen zu krächzen begannen und ihre Kinne kantig, die Rücken breiter wurden. Die Mutter wollte, dass jedes ihrer Kinder ein Paar Schuhe hatte, damit es von Oktober bis März in die Dorfschule gehen konnte. Jeder. Die Lederstiefel wurden am Samstagabend geputzt und gewachst, damit sie in der Kirche Gottes Wohlgefallen fanden und damit sie eines Tages weitergereicht werden konnten auf das nachkommende Kind, auch auf die kleine Maria Frieda, die zur großen Befriedigung der Mutter kam und blieb. Eines Tages würde sie in der Küche neben der Mutter stehen und wer weiß, vielleicht musste sie später den alten Eltern den Haushalt führen, wenn ihre Rücken sich gekrümmt und die Gelenke sich schmerzhaft versteift hatten. So geschah das nämlich schon seit Generationen. Ob es gut war oder schlecht, das fragte man nicht. Es war eben so.

      Die beiden Jaköble hatten viel zu früh herauswollen aus dem warmen Bauch der Mutter und dann die andere Wärme und die Hitze des frühen Sommers einfach nicht gemocht. Nicht genug Luft zum Atmen hatten sie wohl, als die Schwüle kam. Die Mutter weinte still vor sich hin in ihrem Bett, in dem sie ihr totes Kind einen ganzen Tag lang betrauerte, bis man es ihr gewaltsam wegnahm, bis ihr Mann ihr von seinem kostbaren Zwetschgenschnaps ein und ein zweites und noch zwei weitere Gläser voll einflößte und sich eine Weile zu ihr setzte, Hand in Hand mit ihr auf die Ruhe der Einsicht in diese so alltägliche Auflad’ wartend. Der Herrgott gibt’s und nimmt’s halt wieder. Wir Menschen sollten nicht zu viel Getue um den Einzelnen machen. Das Leben ist doch hart genug. Man muss es einfach hinter sich bringen.

      Die Schuhe und die feinen Westchen für den Sonntag, die schön gestrickten Pullover mit den raffinierten Mustern, die sie unverwechselbar machten. Der Strich einer Bürste über jedes der braunen Köpfchen, bevor es am Sonntag in die Kirche ging, das alles und dann die Erzählungen der Catharina Barbara aus der Zeit, als sie beim Oberamtsrichter Eichrodt im Haushalt angestellt war, das waren Georgs und Alberts gemeinsame Erinnerungen.

      Der Eichrodt’sche Haushalt erschien in vielen Geschichten, die Catharina ihren Kindern erzählte. Seine Familie, inklusive der Dienerschaft, versammelte der Herr am Sonntagnachmittag um sich und las ihnen seine Gedichte vor. Beobachtete scharf ihre Reaktion und – darauf schwor die spätere Frau Hug einen heiligen Eid – veränderte sie, wenn man nicht lachte oder nicht das Gesicht staunend verzog, gerade so, wie er es eben wollte und sich erhoffte.

      „Was ist die Gotteswelt doch schön, wenn man gerade Glieder hat, gut hören tut und richtig sehn, so schön ist es in keiner Stadt.“

      Das konnte die Mutter auswendig, das konnten auch Georg und Albert auswendig und sagten es sich vor, manchmal, wenn es sie in eine große Stadt verschlug, nach Paris, nach Berlin, nach London, und sie sich ein bisschen einsam fühlten, ein bisschen aufgeweicht von Heimweh nach den Rheinauen und dem Geratsche der Schwäne oder dem Klackern der jungen Kröten im sumpfigen Gras.

      7

      Badenweiler, also. Heimatluft fast gar, obwohl weiter drinnen gelegen, schon am Rand zu den Tannenhängen hin, am Saum der Weinberge, inmitten der Zwetschgenbäume vielleicht, ein nobles Haus mit Ausblick? Nein, das nicht. Eher mittendrin, nämlich im Kurhaus Restaurant, denk dir bloß.

      Für uns sagte Georg. Wie stellte er sich das denn vor?

      „Der Albert hat uns im Paket angeboten, Dich, mich und sich selbst. Sommelier, Maître de Salle und Kaltmamsell.“

      „Und der Kleine?“

      „Ich habe mit Fried gesprochen. Er und Mine würden ihn hier behalten. Wir würden sie dafür bezahlen. Sie bekommen Hilfe von Lorchen Freitag, dem Küchenmädchen, und auch die Pannier wird ihn stundenweise übernehmen können, wenn die anderen beiden beschäftigt sind. Er ist ja noch so klein, nicht mehr als ein kleines Hündchen. Was er braucht, ist einfach nur, dass man ihn füttert und sauber macht. Es ist doch nur für zwölf Wochen. Schau ihn dir an, wie zufrieden er aussieht, wenn die Mine ihn hält. Er lacht genauso, wenn sie ihn nimmt, wie wenn ich oder du ihn nehmen. Er braucht nur gute Pflege, egal von wem.“

      Egal von wem? Käthe war verärgert. Verbittert sogar. Achtete er die Mutterschaft so gering? Was bedeutete ihm sein Sohn eigentlich? War er nur ein kleiner Fortsatz seiner selbst, etwas, das er irgendwo ablegen konnte, wo es gut gepflegt wurde, so wie er seine Kleider richten und seine Schuhe wichsen ließ?

      Sie musste darüber schlafen. Musste sich an die Idee gewöhnen, ihren Sohn herzugeben, nicht so auf dem Arm rumtragen und neben sich ins Bett legen zu können, wie sie es jetzt tat. Wie oft würde sie kommen können, um ihn zu sehen? Einmal im Monat allenfalls. Sie bräuchte einen ganzen Tag dafür und wie oft hat man einen ganzen freien Tag?

      „Ach“, sagte Mine und ein strahlendes Lächeln breitete sich aus auf ihrem kleinen runden Gesicht, „ ich würde ihn hegen und pflegen wie mein eigenes.“

      Daran gab es nichts zu zweifeln. Sie hatte es schon bewiesen und Fried stand an ihrer Seite, man konnte es deutlich sehen.

      In Käthes Zögern hinein erzählte sie nun wieder einmal von ihrem großen Kummer, dass sie seit Jahren schon wartete auf ein eigenes Kindchen, das sich einfach nicht einstellen wollte. Und so hatte sie das Gefühl, mit dem kleinen Willi machte das Schicksal ihr ein Angebot.

      Sie rechneten und dachten nach, dann legten sie die Pläne weg, so als ob man sie auf ein Papier geschrieben hätte, und werkelten weiter vor sich hin.

      Inzwischen führte Käthe den Haushalt, kochte für alle, zauberte etwas aus dem, was Mine und Fried und manchmal auch Georg mitbrachten aus der Küche des Bristol und dazukauften in der Fressgasse. Nicht nur Desserts, das war klar, sie kochte auch Baeckeoffe, Gaisburger Marsch, Linseneintopf und irgendwann ein herrliches Boeuf Bourguignon, da aßen sie drei Tage davon. Georg kam so oft er konnte und sah zufrieden aus. Für ihn lag die Zukunft klar voraus. Die Berichte von der Front irritierten ihn nicht. Mit dem Krieg hatte er nichts zu tun. Es war immer noch nicht sein Krieg. Auch Fried brauchte sich nicht zu fürchten. Er hatte sich an den falschen Herrn gehängt, einen, der im deutschen Heer keine gute Reputation mehr hatte, Fried hatte zu deutlich gezeigt, wie sehr er ihn respektierte und bewunderte, damit war er im Heer nicht mehr erwünscht.

      8

      Friedrich kam aus Konstanz am Bodensee. Er war dort als Sohn eines angesehenen und talentierten Schusters geboren worden. Leider hatte Friedrich, der älteste Sohn, das Talent des Vaters nicht geerbt. Dennoch besaß er den umgänglichen Ton des alten Frei und dazu eine Begabung zu Respekt und Loyalität. Ein Zufall bescherte ihm eines Tages eine Stelle als Hausdiener beim Fürsten Hermann Ernst zu Hohenlohe-Langenburg, der mit seiner Frau, der badischen Prinzessin Leopoldine, und den Kindern am schönen Seeufer in der Sommerfrische weilte und sich die Jagdstiefel neu besohlen ließ. Das war gerade zu der Zeit, als dieser 1894 als Nachfolger Chlodwigs zu Hohenlohe-Schillingsfürst zum Statthalter des Reichslandes Elsass-Lothringen berufen wurde. Mit seinem Amt übergab der Langenburger dann im Jahr 1907 auch seinen Burschen Friedrich Frei an seinen Nachfolger,

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