500 Jahre Reformation: Bedeutung und Herausforderungen. Группа авторов

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      Luthers Frömmigkeit und Denken blieben stets tief geprägt von seiner Erfahrung als Mönch. Auch wenn Luthers befreiende «reformatorische Entdeckung» die spätmittelalterliche Bußfrömmigkeit völlig umkrempelte, so war es die Frage der persönlichen Aneignung bzw. Zueignung der göttlichen Gnade, die das bleibende Gravitationszentrum seines Verständnisses des Evangeliums bildete. Sein Verhalten im Abendmahlsstreit, seine Katechismen und seine sehr zurückhaltenden Vorschläge zur Reform des kirchlichen und gottesdienstlichen Lebens beweisen dies.

      Zwinglis Beschreibung des Evangeliums stellt nicht zufällig nicht den Rechtfertigungsbegriff ins Zentrum, sondern spricht von Versöhnung und vom göttlichen Willen, die beide in Christus zu finden sind.

      Versöhnung bedeutet aber: Wiederherstellung der Gemeinschaft. Für Zwingli ist die Gemeinschaft der Menschen mit Gott untrennbar verbunden mit einer «versöhnten» Gemeinschaft von Menschen, gestaltet durch den in Christus bekannt gemachten göttlichen Willen, mit einer christlichen Gemeinde. Zwinglis Sorge als «Leutpriester» (Volkspfarrer) war weniger sein persönliches Seelenheil als das Heil bzw. die Gottesnähe der ihm anvertrauten Gemeinde. Nicht zufällig hatte Zwingli als zusammenfassendes Motto seiner Verkündigung Mt 11,28 auf das Titelblatt seiner Schriften drucken lassen: Christus, der die Menschen zu sich, in seine Gemeinschaft ruft: «Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.» (Mt 11, 28)

      Eine wichtige theologische Folge ist, dass die leitenden Begriffe aus der Schweizer Reformation nicht Gesetz und Evangelium sind, sondern Erwählung und Bund. Der Jurist Calvin entwickelte bekanntlich später im Anschluss an den von Zwingli beeinflussten Martin Bucer den Gedanken der «Erwählung» weiter, als Gottes Recht auf seine ihn ehrende Gemeinde. Heinrich Bullinger war demgegenüber mehr besorgt, dass die göttliche Liebe als Grund seines Gemeinschaftswillens nicht verdunkelt wird. Dass Gott will, dass alle Menschen gerettet werden (1Tim 2, 4), war für ihn ein wichtiger Gedanke, für den er auf logische Spekulationen zu |93| verzichten bereit war. Er stellte den «Bund» Gottes mit den Menschen ins Zentrum und wurde so zum Vater der reformierten Bundestheologie.

      Entsprechend könnte man formulieren: Der Ort von Zwinglis Botschaft ist nicht der Beichtstuhl, sondern die öffentliche Volksversammlung. Das Evangelium zielt auf Gemeinschaft und wird vor allem in der Gemeinschaft erfahrbar. Es konstituiert so notwendig christliche Gemeinde und gibt ihr zugleich eine besondere, «evangelische» Gestalt. Auf drei Aspekte soll hier hingewiesen werden.

      2.2 Die Kirche als Gemeinschaft des Lernens

      Eine bekannte Einrichtung der Zürcher Reformation war die sogenannte Prophezei. Sie wurde 1525 eingerichtet. Täglich außer freitags und sonntags wurde im Chor des Großmünsters ein Bibeltext aus dem Alten Testament ausgelegt. Zunächst traten die Exegeten in Aktion und interpretierten den Text auf der Grundlage des hebräischen Urtextes und der griechischen Textversion der Septuaginta. Danach wurden die Ergebnisse der Auslegung in deutscher Sprache der Gemeinde vorgetragen. Die Einrichtung hat symbolischen Wert: Dort, wo vorher lateinische Bibeltexte, die niemand verstand, im Kirchengesang ertönten, wurde nun die Bibel ausgelegt. Und dies so, dass man einerseits möglichst nahe an den Urtext herankommen wollte und andererseits nach dem göttlichen Wort für die Gegenwart fragte. Aus dieser Einrichtung ist dann die Zürcher «Hohe Schule» entstanden. Hier hat man Gelehrte angestellt, die die Theologen ausbilden sollten, vor allem in den biblischen Sprachen und in der Auslegung der Bibel. Aber eigentlich ging es nicht nur um die Schulung von Theologen, sondern um die Bildung einer Volksgemeinschaft in der biblischen Wahrheit. Alle sollten das göttliche Wort kennen und verstehen lernen.

      Auch die Zürcher Bibelübersetzungen sind aus der Prophezei herausgewachsen. Im Jahre 1529, fünf Jahre bevor die Lutherbibel vollständig war, lag die vollständige Zürcher Bibel in sechs Bänden vor. Im Todesjahr Zwinglis (1531) erschien sie als «Froschauer Bibel» in einem Band vereinigt. In den folgenden Jahren wurde eine große Anzahl von verschiedenen Bibelausgaben und Bibelkommentaren gedruckt, sowohl für die Gelehrten als auch für das Volk. Stärker als Bekenntnisschriften, Katechismen oder Schriften von Reformatoren war es die Bibel selbst, die im Zentrum der Schweizer, speziell der Zürcher Reformation stand. |94|

      Im Bestreben, sie mit den besten verfügbaren Methoden auszulegen, griff man dankbar auf die humanistische Bildung zurück. Die Berücksichtigung unterschiedlicher Gattungen biblischer Texte, ihre philologische und rhetorische Analyse und ihre Einordnung in den jeweiligen Geschehens- und Redekontext waren ebenso selbstverständliche Schritte in ihrer Auslegung wie die Berücksichtigung von aramäischen Bibelparaphrasen und der exegetischen Literatur aus der talmudischen Zeit, der Zeit der Kirchenväter und dem Mittelalter. Heinrich Bullinger hat eine Studienanleitung für Theologiestudenten verfasst, in der er eine Bildung in der Literatur der klassischen Antike und ihrer philosophischen, historischen und poetischen Werke zur Voraussetzung für die Auslegung biblischer Texte macht.

      Das Studium und die Auslegung der Bibel waren dabei stets ein gemeinsames Unternehmen. Es gibt keine Zwinglibibel, sondern nur eine Zürcher Bibel. Für die Schweizer Reformatoren und Gelehrten war Teamarbeit eine Selbstverständlichkeit. Dazu gehörte die Diskussion über schwierige Bibelstellen und das Akzeptieren von verschiedenen Interpretationen. Entscheidend war das bessere Argument im Blick auf Philologie und Kontext, und dies galt auch für das Verständnis der Abendmahlsworte, die ihrem Verständnis nach im Kontext der hebräisch-biblischen Tradition und im Zusammenhang mit anderen Jesusworten zu interpretieren waren. In Marburg prallten diesbezüglich zwei unterschiedliche Kulturen aufeinander.

      Viele Schriften Zwinglis und Bullingers enden mit dem Satz: Wenn mich jemand mit der Bibel widerlegen oder eines Besseren belehren kann, so sei er hiermit aufgefordert, dies zu tun! Die Auslegung der Bibel, die Suche nach dem göttlichen Wort für die Gegenwart, war ein gemeinsames Ringen und Lernen. Und alle waren lernbedürftig. Keiner hatte die Wahrheit alleine in Besitz. Zu diesem Verständnis des reformatorischen Priestertums aller Gläubigen passt, dass es in den Kirchen der Schweizer Reformation keine Bischöfe gibt. Bullinger nennt die kirchlichen Amtsträger «remigatores», Ruderknechte.

      2.3 Die Kirche als Gemeinschaft der Versöhnung und des Rechts

      Zwinglis Abendmahlsliturgie sah vor, dass das Brot in der Gemeinde herumgereicht wird und jeder sich ein Stück davon abbricht. Dies war angesichts der zeitgenössischen, im kirchlich-liturgischen Leben wie im Volksempfinden tief verwurzelten Sakramentsfrömmigkeit eine Revolution. |95| Zwingli begründete diesen Brauch wie folgt: Wenn jeder dem nächsten das Brot reicht, dann kann es sein, dass während der Abendmahlsfeier Versöhnung zwischen zwei zerstrittenen Nachbarn geschieht. Und damit hätte das Abendmahl als Versöhnungsmahl etwas Wichtiges bewirkt. Ähnlich hatte Zwingli gegen den Abendmahlsbann argumentiert: Das Abendmahl als Feier der Versöhnung könnte auch der Ort sein, an dem ein unbußfertiger Sünder umkehrt und Buße tut. Deshalb darf man ihn nicht ausschließen. In der Kirche als Ort, an welchem die Versöhnung mit Gott in Christus gefeiert wird, kann es nur um Versöhnung auch zwischen Menschen gehen. Ungeachtet mancher aus heutiger Sicht befremdlichen Züge waren auch das kirchliche Ehegericht in Zürich und Bern ebenso wie das Konsistorium in Genf Gremien, denen es weniger um «Sittenzucht» als um Versöhnung zwischen zerstrittenen Menschen in der Gemeinde Christi ging.

      Versöhnung gibt es aber nicht, ohne dass Unrecht beim Namen genannt und Recht hergestellt ist. Es gehört zur Eigenart der Schweizer Reformation, dass das Evangelium von Anfang an sehr viel mit Politik, Recht und mit Wirtschaft zu tun hat. Die Reformationsmandate der christlichen Obrigkeiten betrafen nicht nur das religiöse Feld. Sie zielten auch darauf, Unrecht zu beheben, die Schwachen zu schützen, Wucher und unrechtmäßige Bereicherung zu verhindern, dafür zu sorgen, dass niemand mehr betteln muss und dass die Kranken versorgt werden. Schon in seinen Disputationsthesen von 1523 hatte Zwingli aus dem wiederentdeckten Evangelium die Forderung an die Obrigkeit abgeleitet: «Darum sollen alle ihre Gesetze dem göttlichen Willen gleichförmig sein,

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