Sorge dich nicht!. Samira Zingaro
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Gibt umgekehrt nicht gerade der Glaube vielen Hinterbliebenen Halt?
Manche Trauernde werden religiöser nach einem Todesfall.Andere wiederum verabschieden sich vollständig von der Kirche. Obwohl ich Pfarrer bin, habe ich in den Selbsthilfegruppen immer gesagt, der liebe Gott spiele hier keine Rolle.
Sondern?
Auch für Gläubige muss einsichtig gemacht werden, dass Gott kein Lückenbüßer ist, dem die Verantwortung für das Unbegreifliche zugeschoben werden darf.Wenn Gott Liebe ist, dann kann diese Gottheit nicht gewollt haben, dass der nun Tote so verzweifelt war, dass nur noch der Suizid sich als Ausweg für ihn erwies. Diese Gottheit litt mit dem Leiden der Ausweglosen so, wie sie mit der Trauer der Hinterbliebenen leidet. Um aber mit solchen theologischen Überlegungen kirchlich nicht sozialisierte Mitmenschen nicht zu belasten oder zu frustrieren ist es wichtig, Gott auf dem schwierigen Weg der Trauer aus dem Spiel zu lassen.
Dass sich Ebo Aebischer als Theologe so engagiert zum Thema Suizid äußert, wäre vor noch nicht allzu langer Zeit unvorstellbar gewesen. Die Haltung der Kirche zu Selbsttötungen war lange gespalten, die ablehnende Einstellung beeinflusste Philosophen und Gelehrte jahrhundertelang und letztlich auch die gesellschaftliche, abendländische Einstellung gegenüber Suizid. Während sich das frühe Christentum offener gegenüber Suizidhandlungen zeigte, wie etwa bei Frauen, die als Märtyrerinnen ihr Leben opferten, verschärfte sich die Haltung ab dem 5. Jahrhundert. Radikale Stimme dabei war der Kirchenlehrer Augustinus (354-430), der das biblische Gebot: ›Du sollst nicht töten!‹ wenig kompromissbereit interpretierte. Für ihn stellte Suizid eine Sünde dar, Gott allein herrsche über unser Leben, und nur ihm stehe es folglich zu, Leben zu beenden. Zudem vernichteten Suizidenten das von Gott geschenkte, heilige Leben – ein für Augustinus deutliches Zeichen für Ungläubigkeit. Im 6. Jahrhundert beschlossen die Konzilien, dass durch eigene Hand Gestorbene nicht kirchlich bestattet werden durften – diese Praxis wurde bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts vollzogen. Die Leichen wurden deshalb, analog zu Schwerstkriminellen, außerhalb der Friedhofsmauern beigesetzt. Ab dem 12. Jahrhundert galt Suizid für die Kirche als Todsünde. Das Rechtsbuch des katholischen Kirchenrechtes (CIC) verurteilte den Suizid, der entsprechende Kanon wurde erst Anfang der 1980er-Jahre gestrichen.1 Vertreter der Katholischen Kirche betonen inzwischen, dass sie nicht die Suizidenten verurteilt, sondern die Handlung, auch wenn eine Selbsttötung unter anderem der Liebe zum lebendigen Gott widerspreche.2
Die christliche Kirche stand Suizidhandlungen lange Zeit nicht sonderlich verständnisvoll gegenüber.
Das ist richtig, und bis heute äußert sich die katholische Kirche zum Thema Suizid kritisch. In der Tat fühlen sich aber gewisse Standesvertreter dazu berufen, ihre Ansichten und ihren Glauben als Standard auszugeben. Meiner Meinung nach wird das Gottesvolk immer mehr von Ansichten der Oberen vor den Kopf gestoßen. Die mitunter geäußerten Meinungen zeugen von einer alarmierenden Unkenntnis der Ur-Kunde des Glaubens – sowohl des jüdischen als auch des christlichen. Kaum jemand von diesen Personen hat je zur Kenntnis genommen, dass im Alten Testament der Bibel von einer Tötung auf Verlangen und von acht Suiziden die Rede ist. Kein einziger dieser ›außergewöhnlichen Todesfälle‹ wird auch nur mit einem impliziten – geschweige denn expliziten – negativen Kommentar gewürdigt. Im Gegenteil. Einige der durch eigene Hand Verstorbenen wurden ›im Grabe ihrer Väter‹ beigesetzt – der höchstmöglichen Würdigung, die einem Verstorbenen zu biblischen Zeiten zuteilwerden konnte.
Wie kamen Sie als ausgebildeter Chemiker dazu, Theologie zu studieren?
Kurz nach unserer Heirat brachen meine Frau und ich nach Indien auf. Dort reisten wir während drei Monaten vor allem mit öffentlichen Verkehrsmitteln.Auf der Reise durch dieses riesige Land,zusammen mit einfachen Menschen und oft ihren Ziegen und Hühnern im Abteil, kamen wir in enge Verbindung mit den Glaubensvorstellungen der Mitmenschen.Wir erlebten aus nächster Nähe das Leben und Sterben der Bewohner unseres Gastlandes. Sehr vereinfacht könnte ihr Leben unter folgende Formel gestellt werden: ›Geboren, erzogen und religiös sozialisiert werden – den Verdienst des Lebensunterhalts erlernen – eine eigene Familie gründen – das Anerzogene und Gelernte weitergeben – die Heiligen Schriften studieren und sich vorbereiten auf den Tod.‹ Wir waren von dieser Gesamtschau eines Lebens so fasziniert, dass wir uns damals sagten, auch für uns wäre es sinnvoll, die Heiligen Schriften zu studieren und uns auf den Tod vorzubereiten. Wir gründeten in Folge eine Familie und ein medizinisch-diagnostisches Dienstleistungslabor und nutzten eines Tages die Möglichkeit,dieses florierende Geschäft zu veräußern. Als der skeptische amerikanische Käufer fragte, was ich wohl nun zu tun gedenke, antwortete ich spontan: ›Theologie studieren.‹
Als nach dem Abschluss des Theologiestudiums die Frage nach der Doktorarbeit aufkam, entschloss ich mich, mich vertiefter mit dem Sterben und dem Tod auseinanderzusetzen.
Warum ausgerechnet das Thema Suizid?
Ich wurde mit dieser extremsten Möglichkeit des menschlichen Handelns seit meiner Jugendzeit immer wieder konfrontiert und versuchte deshalb, Antworten darauf zu finden. Beim ersten Mal befand ich mich in der Ausbildung zum Laboranten, ich bekam einen Gerberlehrling zugewiesen, der einen Einblick in elementare, chemische Verfahren erlernen wollte. Eines Tages hieß es, er habe sich das Leben genommen. Ich konnte das damals im wahrsten Sinne des Wortes weder verstehen noch irgendwie nachempfinden. Immer wieder nahmen sich in den darauffolgenden Jahren Menschen in meinem Umfeld das Leben, Personen, von denen ich glaubte, sie gut gekannt zu haben. Nichts hätte mich vermuten lassen, dass sie eines Tages so weit gehen würden.Weder vermochte ich diese Suizide in mein Weltbild einzuordnen, noch war ich fähig, mich nach dem Ergehen bei den nächsten Hinterbliebenen zu erkundigen. Nach längerer Zeit besuchte ich in einem Fall schließlich doch die Eltern einer Bekannten. Ich bat ihre Mutter und ihren Vater um Verzeihung für mein langes Schweigen. Sie sagten mir, ich müsse mich nicht entschuldigen, es sei nach dem Tod ihrer Tochter niemand gekommen, um mit ihnen darüber zu reden. Diese Begegnung war für mich der Auslöser für meine späteren Aktivitäten auf diesem Gebiet.
Sie gründeten und leiteten Selbsthilfegruppen für Zurückgelassene nach Suizid.
Mich interessierte die Frage der seelsorglichen Begleitung Hinterbliebener nach dem Suizid eines Nächsten besonders. In einer Selbsthilfegruppe teilen die Anwesenden ihr Schicksal, müssen keine Ausreden suchen und stellen fest, dass sie nicht die Einzigen mit dieser Last sind. Um mit diesen Trauernden in Kontakt zu treten, gelangte ich an ›Regenbogen‹ – eine der ersten Selbsthilfeorganisationen der Schweiz. Dort bekam ich die Gelegenheit, den Ablauf einer offenen Selbsthilfegruppe kennenzulernen. Da es sich bei diesem Verein um Hinterbliebene handelt, die ein Kind durch Suizid verloren hatten, wurde ich gewahr, dass es nichts dergleichen für Hinterbliebene nach dem Verlust einer Partnerin oder eines Partners durch Suizid gab. Auch die Funktionsweise der Gruppen schien mir nicht optimal. So begann ich Menschen um mich zu sammeln, denen die Verarbeitung eines Partnerverlustes durch Suizid ein Anliegen war.Von Anfang an achtete ich darauf, dass eine Gruppe mindestens sechs und höchstens zehn Teilnehmende umfasste und dass die regelmäßigen Zusammenkünfte sich über ein ganzes Jahr erstreckten. Sensible Daten, wie Geburtstage oder Weihnachten, werden dann miteinander erlebt.
In den Gruppen werden Themen wie Schuld, Scham, Sexualität oder Partnersuche angesprochen. Zudem erhalten die Betroffenen die Möglichkeit, ihre persönliche Geschichte zu erzählen. Es geht darum zu teilen, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: Sich mitzuteilen, also miteinander etwas teilen. Unter meiner Leitung zündeten wir jeweils eine Kerze an, und die Teilnehmenden konnten ihre Geschichte schildern, sie anschließend zu Hause niederschreiben und an einer folgenden Zusammenkunft erneut vortragen. Diese Praxis wird zum Teil bis heute betrieben. Die Verschriftlichung hat einen weiteren Vorteil: Liest man die