Insight - Martin Gore und Depeche Mode. André Boße
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Die schwarz lackierten Fingernägel, mit denen er später auf den Tisch vor ihm trommelt, sind die augenfälligste Gemeinsamkeit zwischen dem Martin Gore unserer letzten Begegnung und dem von heute, 47 Jahre alt. Als wir sein kleines, schmuckloses Zimmer betreten, steht er am Fenster, in dämmeriges Licht gehüllt, und blickt hinaus auf den Innenhof des Hotels. Gore sieht einen Biergarten ohne Gäste; Regenwasser, das von den Schirmen auf die Tischdecken rinnt und von den Tischdecken auf den Boden. Irgendwo bellt ein Hund, irgendwo hupt ein Auto. Dann dreht er sich um und lächelt zögerlich. »Hallo«, sagt er mit sonorer Stimme und weichem englischem Akzent. Zehn Jahre Kalifornien, und Gore klingt doch immer noch wie der hüftsteife Bankangestellte aus Basildon, der sich 1979 von seinem Bankangestelltengehalt den ersten Synthesizer kaufte – die eigentliche Grundsteinlegung von Depeche Mode. »Setzen wir uns.« Seine Augen sind unter seiner tief ins Gesicht gezogenen schwarzen Wollmütze kaum auszumachen. Doch was man sofort sieht: Schlank ist er geworden.
Bald sind es drei Jahre, seit er trocken ist. Im Nachhinein spielt es keine Rolle, ob Gore unter medizinischen Gesichtspunkten alkoholabhängig war oder nicht. Wenn er seinem Vorsatz treu bleibt (und danach sieht es aus), wird er es auch nie erfahren. Dann gibt es keinen Moment der Schwäche, der ihn auf Anhieb in alte Verhaltensmuster zurückwerfen könnte – Chaos, Kontrollverlust, körperliche Grenzerfahrungen, wie sie auf dem Gipfel der Songs Of Faith And Devotion-Tour Mitte der Neunzigerjahre fast an der Tagesordnung waren. Am Ende trug Gore mit seinem außer Kontrolle geratenen Alkoholkonsum vielleicht den langwierigsten Schaden davon. Dave Gahan überwand seine Heroinsucht, Andy Fletcher die Depressionen, und Alan Wilder überwand alles, was mit Depeche Mode zu tun hatte. Am 1. Juni 1995, knapp ein Jahr nach Abschluss der Tour, verkündete Wilder der Welt seinen Ausstieg, weil er sein Engagement vor allem von Gore nicht gewürdigt sah. Depeche Mode waren nun wieder ein Trio – ähnlich wie damals, als Vince Clarke ging und Gore von heute auf morgen zum künstlerischen Leiter aufstieg. Ob er wollte oder nicht. Die anderen wollten.
So kam Gore gerade auch deshalb zu seiner Rolle als einer der größten Songwriter seiner Zeit, weil er so schlecht Nein sagen kann. Zum Glück gezwungen, in doppelter Hinsicht. Gore war nie ein Karrieretyp mit einem Masterplan in der Tasche, und sicher liegt darin ein Schlüssel zu seinem Erfolg: Er ist authentisch. Ein Traditionalist, den man unzählige Male einen visionären Elektro-Musiker genannt hat und der trotzdem die 40 Jahre alten Rockplatten von The Velvet Underground für das Maß aller Dinge hält. Ein geschmackssicherer Idealist, der als Kind durch die Platten seiner Mutter Feuer fing und heute mit seinen eigenen Platten Menschen in Brand zu setzen vermag. Dabei meinte er es im Scherz (wie so vieles, was man als Ernst missverstand), als er 1987 seine neueste Standortbestimmung des Synthie-Pop mit Music For The Masses überschrieb. Das Album ging durch die Decke und Depeche Mode mit ihm. Plötzlich standen sie vor über 60.000 Menschen im Rose Bowl Stadium von Pasadena bei Los Angeles – dabei hatte Gore all die Jahre nicht mehr getan, als Lieder darüber zu schreiben, was in ihm vorgeht.
Mitte des letzten Jahrzehnts gestand er das Recht des Songwritings im Kontext Depeche Mode auch offiziell seinem Sänger Dave Gahan zu. Es war ein hartes Ringen, die Welt sah zu, und womöglich wären Depeche Mode kurz vor ihrem 25. Geburtstag daran gescheitert, hätte Gore sich verweigert. Doch sie bekamen die Kurve, nicht zuletzt weil Gore entgegen seinem sonstigen Umgang mit Konflikten einlenkte, statt schweigend auf Besserung zu vertrauen. Weil er die Dinge zur Sprache brachte, statt sie auszusitzen. So fand er sich am Ende nicht vor einem Scherbenhaufen wieder (wie es ihm zeitgleich mit seiner Ehe erging), sondern als unangefochtener Richtungsgeber einer demokratischer gewordenen Band. »Was ich damals fürchtete, war nicht so sehr Kontrollverlust, sondern Veränderung«, sagt er später im Interview, »mit Methoden zu brechen, die sich ein Vierteljahrhundert lang bewährt hatten. Die meisten Künstler behaupten, die größte Bedrohung für ihre Kunst wäre Routine. Doch das größte Problem ist es, sich plötzlich nicht mehr auf seine Routine verlassen zu können.«
Am Ende hat Martin Gore dieses Problem gemeistert. So blickt er mit Depeche Mode auch weiterhin auf eine beispiellose Karriere zurück, deren Ende nicht absehbar ist und deren Anfang nicht zu wiederholen. Nie wieder wird eine Band so viele Platten verkaufen, nie wieder so viel Zeit haben, sich zu entwickeln, nie wieder mit einem solchen Imagewechsel durchkommen: Gore begann als Synthie-Spieler einer Teenie-Truppe und ist heute Songwriter einer der größten Kultgruppen ihrer Zeit. Die Band hat er dafür nie wechseln müssen. Es ist nicht mehr die gleiche, aber immer noch dieselbe. Und immer noch und immer wieder wollen Menschen wissen, wie das alles kam. Wie es ist und wie es einmal sein könnte. »Setzen wir uns.« Gore rückt ans äußere Ende des Sofas und scheint bereit. Unser Gespräch beginnt mit einer einfachen Frage – und einer klaren Antwort: »Bist du eigentlich immer noch zufrieden mit deiner Rolle bei Depeche Mode?« – »Natürlich, warum sollte ich nicht?«
Warum Gores Heimatstadt keine Geschichte hat, welche Rolle ein Ziegelstein bei seiner Erziehung spielte und wie er die Texte der größten Siebziger-Hits lernte.
Der Zweite Weltkrieg traf London hart. Deutsche Bomber richteten in einigen Vierteln der englischen Metropole große Zerstörungen an; ganze Wohnsiedlungen verschwanden – und für die vielen Menschen, die zu dieser Zeit in London lebten, fehlte plötzlich Wohnraum. Schon in den Dreißigerjahren gab es Bestrebungen der britischen Regierung, die enge Hauptstadt zu entvölkern und Bewohner in neu gegründete Städte außerhalb Londons anzusiedeln. Durch die Luftangriffe der Deutschen verschärfte sich diese Problematik; es entwickelte sich der sogenannte »London Overspill«: Städte, die man eigens für Menschen aus dem Boden stampfte, die in London keinen Platz mehr fanden. Eine dieser »New Towns« liegt 41 Kilometer östlich von London und heißt Basildon. Sie ist ein Zusammenschluss aus vier kleinen Dörfern – eine Stadt, entstanden in einem städtischen Planungsbüro. Ende der Vierzigerjahre lebten 34.000 Menschen in Basildon. Heute sind es fast viermal so viel.
Die ersten Familien aus dem übervölkerten London kamen 1951 nach Basildon. Später zogen auch Briten aus anderen Ecken der Insel nach Basildon, denn der Staat förderte die New Town: Fabriken entstanden, für damalige Verhältnisse schicke Wohnsiedlungen und eine beachtliche Infrastruktur. So entwickelten sich in Basildon besondere soziale Verhältnisse: Die neuen Einwohner der Stadt waren in familiärer Hinsicht entwurzelt und suchten daher Anschluss in anderen Gemeinschaften. Vereine und Pubs spielten dabei eine große Rolle; die Jugendlichen gründeten Gangs. Menschen, die am Tag ihres Umzugs lediglich einte, dass sie fortan zusammen in einer Stadt ohne Historie leben würden, schlossen sich zusammen – und manchmal hielten diese jungen Communities länger als tief verwurzelte Gemeinschaften, die zu jeder Zeit einen historischen Rucksack mit sich trugen. Dass mit Martin Lee Gore und Andrew John Fletcher zwei Charaktere aus Basildon das Rückgrat einer seit fast 30 Jahren aktiven Band bilden, ist daher mehr als ein Zufall.
Die Familie Gore – die Eltern David und Pamela sowie Martins zwei jüngere Schwestern Karen und Jacqueline – siedelten von Dagenham, Essex, im Speckgürtel von London 20 Meilen weiter östlich nach Basildon um. Anders als andere große Brüder in dieser Gegend war der junge Martin, geboren am 23. Juli 1961, kein Draufgänger. In einem Interview 1985 erzählt er von einem Ereignis aus seiner frühen Kindheit, das aus seiner Sicht seine scheue Art begründet: »Ich erinnere mich, dass ich