Insight - Martin Gore und Depeche Mode. André Boße

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Entwürfen der Progrock-Bands zu tun hat. Er selbst hatte nun einen Synthesizer und probierte, es seinen Idolen gleichzutun. Er begann als Teil von Composition Of Sound damit, zusammen mit Clarke und Fletcher eine neue Art von Band zu entwickeln: eine Gruppe ohne alles, was bis in die Siebzigerjahre hinein fester Bestandteil einer Rockband war. Keine Gitarren, kein Schlagzeug. Nur einen Bass gab es zu Beginn, den Fletcher spielte. Gore fand spätestens 1980, es sei nun Zeit für eine neue Musikrichtung. Schließlich galt es die zwei Versprechen einzulösen, die Punk der britischen Jugend gegeben hatte. Erstens: Jeder kann Musik machen. Zweitens: Jeder kann Musik machen, wie er möchte. »Nach Punk fanden wir, dass Musik nicht zu dem alten Rockband-Format zurückkehren dürfe«, gab Gore später zu Protokoll, »und elektronische Musik war, für unsere Begriffe, der Schritt nach vorne. Es erschien uns nur logisch, eine Synthesizer-Band zu sein. Etwas Neues zu tun – und sich nicht wieder dem Bandformat mit Schlagzeug, Bass und Gitarre zu widmen.«

      1980 war Gore noch immer ein Amateurmusiker; ein junger Bankangestellter, der in seiner Freizeit in Bands spielte. Neben seinem Engagement bei Composition Of Sound war er Mitglied des kurzlebigen Projekts French Look. Auch hier war vor allem sein Synthesizer gefragt; obligatorisch waren die rein zufälligen Töne, die Gore zu Beginn der Konzerte mit dem ansonsten sinnlosen »Sample and Hold«-Effekt seines Yahama CS-5 in den Raum warf. Teenager, die in Bands spielen, gab es auch in dieser Zeit in Großbritannien zu Tausenden: Jungs, die tagsüber die Stunden in öden Berufen zählten und schon auf der Rückfahrt mit der Bahn in die Suburbs zu träumen begannen. Doch Compositon Of Sound hatten den anderen Hobbybands etwas voraus: Sie hatten ein Konzept. Man wagte einen Schritt nach vorne, verzichtete auf Gitarren, setzte auf Synthesizer. Damit unterschied man sich von den vielen anderen Teenagern, die sich an Fender-Gitarren die Finger blutig spielten und in ihre Setlists möglichst viele Gassenhauer einbauten, damit das Publikum in den Pubs nicht übellaunig wurde. Gore war nicht mehr der Gitarrist von Norman & The Worms, die den albernen Siebzigerjahre-Hit Mouldy Old Dough von der Scherzkeks-Band Lieutenant Pigeon nachspielten. Er war nun Vordenker einer ganz neuen Musikrichtung.

      Die Rolle, die Gore in den ersten Wochen bei Compositon Of Sound spielte, war jedoch eher klein. Das Sagen hatte Clarke, der mittlerweile auch einen Synthesizer besaß. Er schrieb die meisten Lieder und zeigte das meiste Engagement, wenn es darum ging, erste Gigs an Land zu ziehen. Gore hatte tagsüber anderes zu tun: Jeden Morgen mit dem Zug hinein in die City Of London, eine Fahrt von knapp einer Dreiviertelstunde in mit Pendlern vollgepackten Vorstadtzügen. Ausstieg im Bahnhof Fenchurch Street, dann noch ein kurzer Fußweg im Strom der unzähligen Krawattenträger und Kostümträgerinnen bis in die Filiale der NatWest-Bank, einer britischen Finanzinstitution, in deren Business-Alltag Popstar-Träume sehr schnell von grauer Routine verdrängt wurde. Fletcher arbeitete nur ein paar Häuser von Gores Arbeitsplatz entfernt bei einer großen Versicherung, sodass Clarke in der frühen Phase an den Werktagen alleine in Basildon blieb und versuchte, die Karriere der Band in Schwung zu bringen.

      Zu Beginn war Clarke auch Sänger, doch wohl war ihm dabei nicht. Sein Traum damals: Erfolg haben, ohne berühmt zu sein. Drei Konzerte spielten Composition Of Sound mit Clarke als Leadvokalist und Gore als Stimme im Hintergrund – Gigs, bei denen sich viele Teenager neugierig vor der Bühne positionierten, um die kaum älteren jungen Männer beim Bedienen ihrer Synthies zu beobachten. Nicht die Songs oder die Musiker waren die Stars, sondern die Maschinen mit ihren Knöpfen und Tasten. Gore hatte damit kein Problem; er fühlte sich vielmehr wohl hinter einem Instrument, das für die Jugend aus Essex so faszinierend war, weil es nach Zukunft klang und aussah. Beim dritten Gig der Band stand ein Modestudent aus dem ein paar Kilometer östlich von Basildon liegenden Seestädtchen Southend im Publikum. Kurze Zeit später tauchte der Typ auch bei einer Probe von Composition Of Sound auf, nahm sich das Mikro und sang Heroes von David Bowie. Das war der Sänger, den Clarke gesucht hatte. Das war Dave Gahan.

      Der neue Mann am Mikro zeigte von Beginn an viel Enthusiasmus und brachte zwei wertvolle Dinge in die Band ein: eine Gruppe von rund 30 Kumpels, die fortan bei jedem Gig dabei waren, und schließlich auch einen neuen Bandnamen: Depeche Mode, der Name eines französischen Modemagazins, den Gahan aufgeschnappt hatte. Keine Frage, der Sänger war 1980 ein Kind des Zeitgeistes. Ein Postpunk, der auf Gary Numan stand und glaubte, passende Antworten auf alle Stilfragen zu kennen. Gore war diese Welt fremd. An den Abenden ging er nicht in die angesagten Clubs, wo die sogenannten New Romantics ihre neuen Garderoben vorzeigten und zu futuristischen Klängen tanzten. Sein Platz waren weiterhin die üblichen Bars, in denen abends Männer mit langen Haaren Songs zur Akustikgitarre spielten. Gore war kein Typ, der Lust hatte, sich einer Szene anzuschließen. Dafür war er viel zu schüchtern. Aber als Depeche Mode im Herbst 1980 regelmäßige Gigs in Basildon und Umgebung spielten und immer mehr aufgestylte New Romantics im Publikum standen, merkte auch Gore, dass er sich in optischer Hinsicht etwas einfallen lassen musste.

      Das Ergebnis: weiße Schminke – auf einer Gesichtshälfte. Im Vergleich zu seinen ebenfalls von Dave Gahans Modeaffinität infizierten Depeche-Mode-Kollegen war dieser frühe Make-up-Versuch aber noch harmlos: Während Clarke mit Tarnfarben, schwarz gefärbten Haaren und Stirnband wie ein Vietnam-Veteran aussah, versuchte es Fletcher an den Beinen mit einer Kombination aus Fußballstutzen und Pantoffeln. Als Entschuldigung für diese modischen Verwirrungen darf gelten, dass zumindest Gore und Fletcher direkt aus dem Zug zurück aus der Londoner City in die Konzert-Venues hasteten. Da blieb kaum Zeit, den Business-Anzug auszuziehen – und die paar Biere, die sich vor allem Gore vor jedem Konzert gönnte, um entspannter auf der Bühne zu stehen, mussten ja auch noch getrunken werden. Doch selbst die lokale Presse kannte bei einem frühen Porträt der großen Hoffnung der Stadt keine Gnade: »Die könnten groß rauskommen, wenn ihnen jemand bloß den Weg zu einem anständigen Schneider weist«, urteilte das Evening Echo aus Basildon.

      Von zeitloser Klasse war hingegen, was die gerade ein paar Monate alte Band musikalisch zu bieten hatte. Die drei Synthie-Spieler hatten schnell eine Aufgabenverteilung gefunden, die sicherstellte, dass die Musik von Depeche Mode weder leblos klang noch im Chaos unterging. Gore war in den meisten Fällen verantwortlich für die Melodien; Clarke spürte schnell, dass Gores Ideen seine Songs deutlich besser machten. Teil der Setlist war schon damals Clarkes frühes Meisterstück Photographic, bei dem Gore die zweite Stimme sang und in der Strophe eine Melodie spielte, die das düstere Stück zu einem Popsong machten. Und auch eine Gore-Komposition wurde eingebaut: Big Muff, ein Instrumentalstück mit kurvenreicher Melodie zwischen Science-Fiction-Soundtrack und futuristischer Fanfare. Interessant ist der Titel des Stücks, denn Big Muff war der Name eines Gerätes, von dem sich Gore und Depeche Mode in ihren frühen Tagen abwendeten: ein Verzerrer, den in den Siebzigerjahren Pink Floyd oder Carlos Santana zum Standardeffekt für ambitionierte Rockgitarristen gemacht hatten.

      Ansonsten verfolgte Gore Ende 1980 die nächsten und ungemein wichtigen Schritte der Band eher passiv. Clarke und Gahan stiefelten in die Büros diverser Plattenfirmen, um dort das erste Depeche-Mode-Demotape anzupreisen, zunächst ohne Erfolg. Auch ein junger Labelbesitzer namens Daniel Miller zeigte sich beim ersten Treffen unbeeindruckt. Das änderte sich erst, als der Chef der jungen Plattenfirma Mute Records Depeche Mode im Vorprogramm seines Künstlers Fad Gadget sah. Das Konzert fand im November im Bridgehouse in Canning Town im Osten von London statt – und Depeche Mode müssen sehr gut gewesen sein, denn nach dem Gig gab es gleich zwei Interessenten, die der Band vom Fleck weg einen Plattenvertrag anboten: einmal Stevo Pearce, ein gerade 18 Jahre alter Enthusiast, der sich vorgenommen hatte, auf seinem Label Some Bizzare die Speerspitze der von ihm »Futurists« genannten Elektro-Pop-Welle unter Vertrag zu nehmen – und eben jener Daniel Miller, der Depeche Mode beim ersten Treffen noch keine Chance gab, dies später mit seiner üblen Laune an jenem Tag entschuldigte und nun doch großes Interesse zeigte.

      Der Marktwert von Depeche Mode war innerhalb weniger Wochen enorm gestiegen. In einem Interview mit dem britischen Musikmagazin Uncut aus dem Jahr 2001 erinnerte sich Gore an »unglaubliche Summen, die man uns anbieten wollte«. Auch der Pop-Headhunter Mark Dean war hinter Depeche Mode her. Gore: »Er zog dann weiter und nahm Wham! unter Vertrag – damit begann das Fiasko. Ich bin sicher, hätten wir auf einem dieser Major Labels unterschrieben, würde es uns heute nicht mehr geben. Wir wären nach

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