Insight - Martin Gore und Depeche Mode. André Boße
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Was ein Huhn auf Gores Arm zu suchen hatte, wie wichtig ihm seine ersten Texte waren und warum eingeschneite Farmer ihre Hoffnungen auf seine Gesichtszüge setzen sollten.
Leider gibt es keine Dokumentation des Geschehens hinter den Kulissen der deutschen Musik- und Nonsense-Sendung Bananas vom 27. April 1982. Man hätte gern gesehen, wie der Sendeleiter den jungen Gästen aus England erklärte, was man für die Show mit ihnen vorhabe. Ein Hühnerstall sollte es sein, ausgestattet mit einem halben Dutzend Hühnern sowie einem sich im Heu wälzenden Teenie-Pärchen. Die Tiere sollten aber nicht unbeteiligt auf dem Boden vor sich hin picken, sondern von den jungen Engländern auf dem Arm gehalten werden. Und zwar möglichst innig, Depeche Mode hatten schließlich ein Liebeslied mitgebracht. Also stand Martin Gore am 27. April 1982 in einem Fernsehstudio des Westdeutschen Rundfunks in Köln trug einen Smoking mit dunkelblauer Fliege, hielt eine Henne auf dem Arm und wiegte sich scheu wie ein Debütant beim Abendball im Rhythmus von See You. Die Scham und das Unbehagen, das er und seine Bandkollegen in diesen knapp drei Minuten fühlten, sind bis heute sichtbar.
Knapp fünf Monate vor diesem Fernsehauftritt im Hühnerstall hatte Vince Clarke seinen letzten Auftritt mit Depeche Mode hinter sich gebracht. Die Trennung ging überraschend emotionslos vonstatten, wenn man bedenkt, dass Clarke eine Band verließ, die vor allem durch sein Engagement und seine Songs nach vorne gekommen war. Eine klare Begründung für den Ausstieg zu einem »sehr fragwürdigen Zeitpunkt«, wie Gore später sagte, gibt es bis heute nicht. Während Clarke argumentiert, ihm sei der Rummel um die Band zu groß geworden, hat Gore einen anderen Verdacht und spricht von einem Auseinanderdriften der Band in zwei Lager – Clarke und die anderen. Gore ist eine Probe aus dieser Zeit im Gedächtnis geblieben: »Eines Tages kam Vince mit zwei neuen Songs an. Er spielte sie uns vor, und als er danach auf die Toilette ging, schauten wir uns an und sagten: ›Wir können diese Songs nicht singen, sie sind furchtbar.‹ Als er zurückkam, sagten wir ihm: ›Vince, wir mögen diese Songs nicht.‹ Er sagte ›Okay‹, aber es muss eine große Sache für ihn gewesen sein: Da kommst du mit zwei neuen Songs zur Probe – und deine Band findet sie furchtbar.«
Heute bezeichnet Gore den Ausstieg von Clarke als »Geschenk des Himmels«: »Wäre Vince geblieben, hätte ich nicht die Songs schreiben können, die ich danach geschrieben habe. Ich hätte weiter versucht, meine Songs an die von Vince anzupassen, und wäre irgendwo im Schleier der Geschichte verloren gegangen.« 1984 erklärt Gore in einem Fernsehinterview, der Ausstieg von Clarke habe sich sechs Monate lang abgezeichnet; von einer Überraschung könne also keine Rede sein. Clarke hatte vor, Depeche Mode noch einen Song zu überlassen, Only You, eine Synthie-Ballade, die später für Clarkes neues Projekt Yazoo ein Hit wurde. Die Übriggebliebenen wollten das Lied nicht, die Zeichen standen auf Neuanfang. Dass dabei Gore die Verantwortung des Songwriters innehaben würde, stand nie in Frage. »Ich war die erste und einzige Wahl, weil Dave keine Songs schrieb«, urteilte er Jahre später. Er selbst schrieb seit seinem 14. Lebensjahr Lieder. Einige davon hatte er mit seiner früheren Band Norman & The Worms gespielt, andere hatte er zurückgehalten. Dass hinter Gore mehr steckte als die Rolle des stillen Blonden mit einem Faible für hübsche Melodien, ahnte Clarke bereits zu einer Zeit, als er selbst noch bei Depeche Mode war. Clarke über Gore in einem Fragebogen für ein britisches Teenie-Magazin: »Er ist ein Genie und weiß es nicht.«
Dieses Genie war nun gefordert. Vorbei die Zeit, als sich Gore und Andy Fletcher gegenseitig in ihrer Einschätzung bestätigen durften, besonders faule Zeitgenossen zu sein. Von nun an galt es, der Öffentlichkeit, dem Label und auch sich selber zu beweisen, dass es auch ohne Clarke ging. Also packten sie es an. Erster Schritt: eine neue Single, geschrieben von Gore, eingespielt ohne Clarke, der bei den Studioaufnahmen zuvor zusammen mit Mute-Chef Daniel Miller die Strippen gezogen hatte. Für jede Band ist die erste Single nach einem erfolgreichen Album-Debüt eine Herausforderung, doch für Depeche Mode war sie nach Clarkes Ausstieg besonders hoch. Die Wahl fiel auf See You, einen Song, den Gore Jahre zuvor auf der Akustikgitarre geschrieben hatte und der damit einen entscheidenden Vorteil barg: Der neue Songwriter kam so gar nicht erst in Versuchung, mit seinem Single-Debüt die Erfolgsformel der ersten Chart-Hits von Depeche Mode zu kopieren. Denn eine Entscheidung stand: Es würde nichts bringen, Songs zu schreiben, die möglichst nah an Clarkes Vorlagen heranreichten.
Das galt nicht nur für die Musik, sondern auch für die Texte. »Vince interessierte sich vor allem dafür, ob die Wörter fließen und sich reimen, nicht so sehr für ihre Bedeutung. Mir ist auch wichtig, was ich sage. Wenn ich ein gutes Stück habe, aber den Text nicht mag, schmeiße ich den Song lieber weg«, sagte Gore in einem ausführlichen Feature des New-Wave-Magazins New Sounds, New Styles im Frühjahr 1982. Der Journalist Mike Stand bat Gore um ein Beispiel – und der zitierte seine Lieblingsstelle im C-Teil des Songs: »Well I know five years is a long time/ And that times change/ But I think that you’ll find/People are basically the same.« Als Mike Stand, wenig beeindruckt, fragte, warum er diese Zeilen für so stark halte, antwortete Gore überraschend selbstbewusst: »Sie sind gut. Ernst, aber lustig. Ich mag sie, weil diese Wörter nicht oft in Liedern vorkommen. Es sind eher Dinge, die Leute halt so sagen.« Genauere Auskünfte über die Geschichte hinter dem Song verweigerte er jedoch: Das sei erstens privat und zweitens schon drei Jahre her und damit überholt. Dennoch schien der Journalist von Gore beeindruckt zu sein, denn er fand ein schönes Bild, um ihn für die Leser zu beschreiben: »Er hat ein Gesicht, so mild, dass eingeschneite Farmer ihn einstellen könnten, damit er für sie den Schnee schmelzen lässt und ihre Herden rettet.«
Mit der Veröffentlichung von See You begann für Depeche Mode eine Stressphase. Die Single musste beworben werden, wobei das Verlangen von Presse und Fernsehen, etwas Neues über Depeche Mode zu erfahren, enorm gestiegen war. Journalisten stellten Fragen, von denen Gore nie gedacht hätte, dass sie jemanden interessierten. Wie es sich in Basildon lebe, zum Beispiel. Oder wie ihm sein alter Job als Bankangestellter gefallen habe. »Im letzten Sommer konnten wir Dinge noch von Woche zu Woche planen. Es ist schrecklich, wenn ich heute auf unseren Terminkalender schaue und entdecke, dass die kommenden sechs Monate bereits verplant sind«, sagte Gore in New Sounds, New Styles. Anfang 1982 schien ihm endgültig zu dämmern, dass er nicht nur seinen alten Job gekündigt, sondern auch einen neuen angetreten hatte. Er war nun Popstar. Fulltime.
Gore veränderte sich in diesen Wochen. Das Bild des Melodiespezialisten, der mal eben zwischen Abendessen und diversen Bieren ein paar Synthie-Noten gespielt hatte, war nicht mehr stimmig. Je tiefer er mit Depeche Mode in die Welt des Pop eintauchte, desto mehr wandelte sich seine Persönlichkeit. »Es war wie ein Vorher-nachher-Bild«, bilanzierte er 1985 im Magazin No. 1. »Vorher war ich ruhig, introvertiert und gewissenhaft. Ich war ein langhaariger Hippie wie jeder andere. Doch dann erfuhr ich, dass ich etwas machen kann, das anderen Leuten gefällt.« Besonders im Vergleich zu Dave Gahan, der sich sehr schnell in seiner Rolle als begehrter Popstar wohlfühlte, geschah die Entwicklung bei Gore langsam, beinahe behutsam. Für ein belgisches Blatt fand Gore folgende Erklärung: »Ich denke, das hatte mit meinem Job als Bankangestellter zu tun. Ich war damals sehr jung, und meine Kollegen behandelten mich sehr stiefmütterlich.« Anstatt sich an bestehende Gruppen anzuhängen oder sich zur Schau zu stellen, machte der junge Gore anfangs lieber überhaupt nichts. Nun war er jedoch gefragt, denn alle wollten seine Songs: die Band, die Medien und die immer zahlreicheren