Insight - Martin Gore und Depeche Mode. André Boße
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Das Motiv hinter dieser Haltung: Ein neues festes Bandmitglied so kurz nach dem Ausstieg von Clarke hätte die Presse mutmaßen lassen, man habe sich aus purer Not unmittelbar ein neues musikalisches Mastermind in die Band geholt. Diesen Eindruck wollte Gore verhindern. Er akzeptierte seine neue Rolle nicht nur – er verteidigte sie auch. Interessanterweise vollzog sich der Wandel im Depeche-Mode-Camp auch an einer anderen Stelle. Solange Clarke noch an Bord war, war dessen damalige Freundin Deb Danahay Repräsentantin und Organisatorin des noch sehr jungen Fanclubs, während Gores Freundin Anne Swindell am Merchandise-Stand T-Shirts, Poster und mehr verkaufte. Als Danahay nach dem Ausstieg ihres Freundes auch den Fanclub sausen ließ, sprang Swindell ein, die gerade erst die Schule beendet hatte. Zusammen mit Gahans Partnerin Joanne Fox übernahm sie das Zepter und schrieb ab 1982 regelmäßig vom Haus ihrer Eltern aus das bandinterne Bulletin Depeche Mode Info Service.
Sogar einen Auftritt vor der Kamera hatte Anne Swindell. Im Video zu See You spielt sie das mysteriöse Mädchen, nach dem Gahan Ausschau hält. Er trifft sie schließlich an der Kasse eines Kaufhauses, im dem Gahan eine See You-Single erwerben möchte. Begleitet wird das Rendezvous von Gore und Fletcher, die als Kassierer hinter Registrierkassen stehen und diese als Keyboards benutzen. Gedreht wurde das aus heutiger Sicht absurde Filmchen vom renommierten Regisseur Julien Temple, spätestens seit der Sex-Pistols-Dokumentation The Great Rock And Roll Swindle ein großer Name im Geschäft. Dennoch war Gore mit dem Video – sowie zwei weiteren Versuchen in der Folge – nicht langfristig zufrieden: Die Promoclips erschienen ihm schon drei Jahre später als albern. Die Band habe die Videos ironisch gemeint – »aber das kam in den Filmen nie rüber«. Auf der später erschienenen ersten Clip-Sammlung Some Great Videos war für See You dann auch kein Platz.
Es wird nicht ausschließlich an der offensichtlichen Werbebotschaft des Videos gelegen haben, dass See You, veröffentlicht am 29. Januar 1982, im Laufe von fünf Wochen bis auf Platz sechs der britischen Charts kletterte. Kein Clarke-Song hatte sich zuvor so weit oben platziert – ein Erfolg, der das noch frische Selbstbewusstsein Gores weiter stärkte. Wenn es ihm schon gelang, mit einem Stück aus den späten Siebzigerjahren einen Hit zu landen, was würde dann erst passieren, wenn er neue Songs schriebe? Depeche Mode erlebten einen erstaunlichen Stimmungswandel. In Erinnerung an das Frühjahr 1982 sagte Gore Jahre danach: »Wir sind generell pessimistische Typen. Aber einen kurzen Moment lang fühlten wir uns unverwundbar.« Gore sollte sich später als ein Songwriter erweisen, der zu jeder Zeit eine funktionierende Antenne für das zu haben scheint, was sich die Depeche-Mode-Fans von ihm erhoffen. Doch im Hochgefühl des Erfolgs von See You und einer anschließenden kleinen Tour durch ausverkaufte Clubs machten Gore und Depeche Mode einen Fehler: Sie veröffentlichen die Single The Meaning Of Love.
»Wir dachten wirklich, der Song würde groß einschlagen«, erinnerte sich Gore später. Heute weiß auch er, dass das Stück – geschrieben Anfang 1982 – längst nicht das Potenzial dafür hatte. Das britische Magazin Sounds urteilte in einem Verriss, die Melodielinie der neuen Single sei identisch mit der des Hits zuvor. Auch wenn diese Beobachtung kaum zutrifft: The Meaning Of Love war eine Enttäuschung für alle, die sich von Depeche Mode eine Weiterentwicklung erhofft hatten – und die britischen Charts waren dafür ein guter Seismograph, denn das Stück verpasste eine Top-Ten-Platzierung. »Es war unser erster Kontakt mit der Möglichkeit, auch scheitern zu können«, sagte Gore im Rückblick. Seine Abenteuerlust äußerte sich auch in der Maxi-Version des Tracks: Für den »Fairly Odd Mix« zerstückelten Depeche Mode den Song und drängten verstörende Parts in die Harmonik. Mit viel gutem Willen kann man diesen Ansatz heute als Prä-Techno bezeichnen, doch damals verstörte diese Studiospielerei zwei Lager, die sonst recht unterschiedliche Erwartungen an die Band hatten: Fans und Kritiker.
Während sich die Journalisten seit ihren Anfangstagen von Depeche Mode erhofften, sie würden sich zu einer gewichtigen und innovativen elektronischen Stimme des Postpunk entwickeln, waren die Fans der Band vor allem eines: sehr jung. Auf Depeche Mode standen mit Vorliebe Teenager, die begeistert die bunte und moderne Popwelt der frühen Achtzigerjahre konsumierten. In England lasen sie Smash Hits und schauten Top Of The Pops, in Deutschland blätterten sie durch die Bravo und schauten Bananas. Diese jungen Fans waren unverzichtbar, denn sie waren es, die die Singles kauften. Malcolm McLaren hatte im Zenit des Erfolgs der von ihm konzipierten Sex Pistols bereits 1977 in einem Interview deutlich gemacht, dass es die Kids sind, die die Kohle bringen – und nicht die geizigen, geschmäcklerischen Studenten. »Wir waren so jung und dumm, dass wir mit allem einverstanden waren, was uns angeboten wurde«, so Gore. »Es gab oft Streit, aber letztlich war das stärkste Argument: ›Hey, das werden so und so viele Millionen Leute sehen!‹ Und dann hieß es immer: ›Okay, lasst es uns tun.‹«
So lässt sich eben auch der obskure Auftritt im Hühnerstall für Bananas erklären – bei weitem nicht der einzige Moment, den Gore heute wohl lieber aus dem virtuellen Gedächtnis streichen würde. Dazu gehört sicher auch ein Auftritt bei der 1982 sehr erfolgreichen WDR-Vorabendshow WWF Club, wo Depeche Mode zur Abendbrotzeit dem deutschen Publikum The Meaning Of Love vorstellten. Jedoch war die Bühne im Studio wohl eher für Solokünstler ausgelegt, sodass Andy Fletcher nicht auf der Bühne spielte, sondern davor – und eher den Eindruck eines verwirrten Zuschauers machte, der seinen Platz verloren hat. Schön auch der Satz, mit dem Moderator Jürgen von der Lippe zu dem Auftritt der Gäste aus England überleitete: »Jetzt ist meine Hose nass.« Legendär ist zudem eine Fotosession für Smash Hits, die Depeche Mode in ein Cricket-Zentrum nach London führte, wo der große Sportsmann Alf Gover auf die Band wartete. Einen Bezug zur Musik hatte diese Idee des Fotografen nicht; das Resultat waren eine Handvoll Bandaufnahmen im Cricket-Outfit, inklusive Schienbeinschoner.
Der Chef der französischen Abteilung des Mute-Labels urteilte später über diese Monate im ersten Halbjahr 1982, Gores Persönlichkeit sei damals noch nicht »ausgereift« gewesen. Fotos, die den Songwriter mit einem wenig schmückenden Bartflaum am Kinn zeigen, untermauern diese These. Doch in ihm arbeitete es in diesen Monaten. Während Gahan in Interviews eher beleidigt auf negative Presse reagierte, schätzte Gore die Sache realistisch ein: »Keine Schuldzuweisung an die Presse dafür, dass sie uns nicht den großen Respekt zollte. Es gab damals viele Teenager-Magazine wie Smash Hits und so weiter – und wir waren in allen.« Gores optimistischer Plan zu dieser Zeit: Depeche Mode in musikalischer Hinsicht neu ausrichten, ohne die lukrativen jungen Fans aufzugeben. In einem Interview für die Zeitschrift The Face sagte er: »Wir sind eine Popband mit einem Teenie-Publikum und somit in einer guten Position, um mit verschiedenen musikalischen Formen experimentieren zu können. Wir können unseren jungen Fans Musik bieten, die sie sonst nicht hören würden.«
Das Experimentieren mit einer Musik, die Gore selber als ernsthafter und weniger niedlich bezeichnete, fiel der Band damals noch schwer. »Wir wollten es anders machen, aber es hat nicht geklappt«, gestand er Mitte 1982. »Wir wollten eine fiese B-Seite aufnehmen, starteten mit einer Bassline und schnellen Drums, ein wenig wie DAF. Wir dachten wirklich, damit hätten wir einen garstigen Track – und am Ende haben wir doch noch Glocken draufgepackt.« Trotzdem arbeitete Gore im Vorfeld der Aufnahmen für das zweite Album intensiv daran, eine eigene Handschrift als Songwriter zu entwickeln. »Seitdem ich begonnen habe, ernsthaft Lieder zu schreiben, hat sich meine Art des Songwritings stark verändert«, sagte er dem Magazin Look In. Die gern gestellte Frage, was denn zuerst da sei, der Text oder die Musik, beantwortete er unbestimmt: »Manchmal die Worte, manchmal die Melodie, manchmal beides zusammen.« Ganz sicher sei er aber jemand, der nicht in Gesellschaft