Insight - Martin Gore und Depeche Mode. André Boße

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einen Deal über gleich mehrere Alben abzuschließen, entschieden sich Depeche Mode für Daniel Miller und Mute. Und das, obwohl zunächst einmal nur eine einzige Single geplant war. »Wir waren große Mute-Fans zu dieser Zeit«, erinnerte sich Gore Jahre später, »daher war es für uns schon eine große Sache, für Fad Gadget im Vorprogramm spielen zu dürfen. Dass wir dann noch Daniel trafen und vor Ort einen Single-Deal angeboten bekamen, war einfach fantastisch.«

      Aber auch der Enthusiast Stevo Pearce ging nicht leer aus. Weil neben Gore auch die anderen Mitglieder der Band nicht besonders gut darin waren, ein klares Nein zu äußern, sagten sie zu, zu Pearces geplante Compilation Some Bizzare Album ein Stück beizusteuern. Man entschied sich für das von Clarke geschriebene, im Arrangement aber schon deutlich von Gores Melodik geprägte Photographic – in der Some-Bizzare-Version das erste Studiostück von Depeche Mode überhaupt. Kurz danach nahm die Band Dreaming Of Me auf, die geplante Single für Mute. Auch hier passte die Formel: Der Song von Clarke und Gahans Leadvocals waren solide, die melodischen Verzierungen sowie die zweite Stimme von Gore (das britische Magazin Sounds nannte seine Background-Vocals bei diesen frühen Stücken in Anlehnung an traditionelle amerikanische Gesangsgruppen »quasi Barbershop«) machten ihn im Februar 1981 zum ersten kleinen Hit der Band. Die Single verkaufte sich erst schleppend, dann immer besser und erreichte nach einigen Wochen schließlich Platz 57 in den britischen Charts. Das war nicht nur ein beachtlicher Erfolg für eine Independent-Produktion – es bedeutete für Depeche Mode den Eintritt ins Pop-Universum.

      Gore, noch immer an den Werktagen Bankangestellter, kam dort plötzlich mit Dingen in Kontakt, die ihn irritierten. Zum Beispiel mit Drogen. Clarke berichtete später von regelmäßigem Konsum von Speed, einer Droge, die »alles, was wir erlebten, noch aufregender machte«. Doch Gore hielt Abstand von diesem und anderen illegalen Rauschmitteln: »Ich wusste von den Drogen, aber war ihnen gegenüber ziemlich anti eingestellt. Wenn ich jemanden um mich hatte, der Drogen nahm, ging ich weg. Ich wollte damit nichts zu tun haben. Es war für mich damals eine moralische Frage. Vielleicht war es auch Angst.« Gores Vorsicht machte sich auch bei den ersten größeren Interviews bemerkbar, die Depeche Mode nun zu geben hatten. Das häufigste Adjektiv bei den Beschreibungen seiner Person war »still«; in einer großen Geschichte für das Magazin Sounds im Juni 1981 fiel Fletcher mitten im Interview auf, dass Gore noch nichts gesagt hatte. Dessen Reaktion: »Ich spare mir das für später auf, ich warte noch auf die richtige Frage.«

      Richtig wohl fühlte sich Gore als Teil dieser Popwelt noch nicht. Es fehlte ihm in diesem Kosmos an Sicherheit. Eine Platzierung in den britischen Charts war eine schöne Sache, sicher. Doch wirkliche Sicherheit bedeutete für ihn der regelmäßige Gehaltsscheck von NatWest – zumal er für die Chartplatzierung der Single Dreaming Of Me nicht plötzlichen Reichtum erlangte. Clarke als Songwriter bekam immerhin die Tantiemen, durch Gore und die beiden anderen blieben 100 Pfund – und die gingen schnell für ein paar Biere über den Tresen. Auch als Depeche Mode im Mai 1981 erneut ins Studio gingen, um neue Songs für eine zweite Single aufzunehmen, fehlte es Gore ein wenig an Antrieb. Viel mehr als die neuen Lieder interessierten ihn Videospiele; er bezeichnete sich später als »Abhängiger« und »siebtbester Spieler der Welt«. Labelchef Miller erinnerte sich, dass Gore und Fletcher abends direkt von ihren Jobs und mit einer Tüte Take-away-Essen ins Studio kamen: »Martin fragte uns: ›Muss ich heute wieder was spielen? Okay, dann los.‹ Er kam für fünf Minuten rein und hauchte den Stücken mit seinem Spiel Leben ein. Es war offensichtlich, dass er sehr musikalisch war. Ich erinnere mich, wie er da mit chinesischem Fastfood in der einen Hand an seinem Synthesizer stand und mit der anderen eine Melodie spielte. Alles, was er im Grunde wollte, war, in Ruhe zu essen.«

      Für eine junge Band, die gerade im Begriff ist, erste Songs aufzunehmen, kümmerten sich Depeche Mode erstaunlich wenig um das Wesentliche: die Songs. Gore gestand rückblickend, nicht ansatzweise gewusst zu haben, was die Texte von Vince Clarke zu bedeuten haben: »Oft war schon die Grammatik ein Mysterium, ganz zu schweigen von der Bedeutung.« Und Gore wäre der Letzte gewesen, der in dieser Hinsicht nachgefragt hätte. Aber immerhin schrieb er in dieser Zeit selbst einen Song, Tora! Tora! Tora!, benannt nach dem Ausruf japanischer Kampfflieger kurz vor dem Angriff auf den amerikanischen Navy-Stützpunkt Pearl Harbor. Die Stimmung des Songs ist ein wenig gespenstisch, der Text durchaus eindringlich: »I had a nightmare only yesterday/ You played a skeleton/ You took my love then died that day/ I played an American.« Man könnte denken, Gore habe versucht, dem federleichten Synthie-Pop Clarkes eine andere Klangfarbe entgegenzusetzen. Doch der Autor selbst sah die Sache anders: »Ich betrachtete meine Songs in dieser Phase gar nicht als meine eigenen«, sagte Gore 2001 in einem Interview mit dem britischen Musikmagazin Uncut. »Was ich versuchte, war, mich als Songwriter dem anzupassen, was Vince zu dieser Zeit machte.«

      Gores beachtliche Teilnahmslosigkeit angesichts des Aufstiegs von Depeche Mode neigte sich erst dem Ende zu, als die Band Mitte Juni 1981 die zweite Single New Life veröffentlichte. Das Stück kletterte in den britischen Charts bis auf Platz 11 – und so langsam dämmerte es auch Gore, dass dies mehr war als ein Hobby. Daryl Bamonte, Freund der Band und Tourmanager, erinnerte sich an ein Gespräch zwischen Gore und Miller, kurz nachdem New Life nur knapp die heilige Top Ten verpasst hatte: »Martin fragte Daniel: ›Müssen wir jetzt tatsächlich unseren Beruf aufgeben?‹ Und Daniel sagte: ›Ja, ich denke, für euch wird ab jetzt gesorgt sein.‹« Gore kündigte, Fletcher tat es ihm gleich – und im Juli 1981 durfte das Teenie-Musikmagazin Smash Hits in einer Titelgeschichte verkünden: »In den letzten Monaten haben sie alles aufgegeben, was sie davon abhält, zu jeder Zeit Depeche Mode zu sein.« Interessanterweise begann Gore zeitgleich damit, auf der Bühne Anzug und Krawatte zu tragen. Die Vorteile lagen auf der Hand: Der ehemalige Banker musste seine Business-Suits nicht einmotten – und sah dazu allemal besser aus als bei seinen ersten Versuchen, sich einen individuellen Stil anzueignen.

      Im selben Monat war die Band zudem erstmals bei Top Of The Pops zu Gast, der bekanntesten Musik-TV-Sendung Großbritanniens. Die Show war damals kein Kinderzirkus, sondern eine große Sache. Hier hatten sie alle gespielt: die Beatles, David Bowie, Roxy Music. Und nun stand Gore an seinem Synthesizer und war furchtbar nervös. »Ich weiß noch, dass ich in der Nacht vor der Aufzeichnung nicht schlafen konnte«, sagte er später. »Heute wirkt das vielleicht ein wenig lächerlich, aber wir waren damals sehr jung – und das war die Hit-Show, mit der wir aufgewachsen waren.« Generell hatten Depeche Mode damals so ihre Probleme mit der Bühnenperformance. Während Gahan als Sänger aus heutiger Sicht seltsame, damals aber durchaus angesagte Tänze aufführte, wusste Gore nicht so recht, was er hinter seinem Synthesizer tun sollte. Dem New Musical Express erzählte er im Sommer 1981 von einer interessanten Idee aus den Anfangstagen: »Wir wollten Schienen auf der Bühne verlegen und uns auf Plattformen stellen, sodass wir uns nach vorne und hinten bewegen könnten, ohne uns tatsächlich zu bewegen.«

      Nach zwei Singles wurde es Zeit für das erste Album. Depeche Mode begannen im Juni 1981 mit der Arbeit, wobei es nie in Frage stand, dass auch Gores Songs Big Muff und Tora! Tora! Tora! ihren Platz auf der Platte finden würden. Die Band hatte sie seit mehr als einem Jahr bei Konzerten gespielt, und auch Clarke wehrte sich nicht dagegen. Zudem kam es auf der LP zur Premiere des Leadsängers Gore: Sehr spät entschied sich die Band, das eigentlich als Instrumental geplante Any Second Now als Gesangsstück zu arrangieren – und Gore übernahm den Job. Als im September 1981 die dritte Single Just Can’t Get Enough als Vorbote für die LP herauskam, spürte die Band zum ersten Mal Gegenwind. Einigen Kritikern erschien dieses hüpfende Poplied zu banal, zu kindisch. Es kam auch zu ersten Vorbehalten gegen den reinen Synthie-Pop von Depeche Mode; die Rock’n’Roll-Autoren in den Redaktionen schienen dann doch die Gitarren zu vermissen. Grund genug für Gore, in einem Gespräch mit dem Magazin Sounds im November 1981 eindeutig Stellung zu beziehen: »Rockmusiker sagen, man könne sich mit einem Synthesizer nicht ausdrücken. ›Seelenlos‹ ist der Begriff dafür. Aber was bringt es, immer weiter auf Gitarren einzuprügeln? Auch Heavy-Metal-Riffs sind fast alle gleich.«

      Als das Album im Herbst 1981 fertig war und den Titel Speak & Spell bekam (benannt nach einem elektronischen Buchstabier-Spielzeug), hatte die Band zum ersten Mal groß angelegte Promotion-Arbeit zu leisten: eine kurze Tour in Europa,

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