Eiserner Wille. Mike Tyson
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Als Cus zwanzig war, hatte er seinen ersten Kampf in einer Sporthalle. Er hing in der Halle ab und schlug gegen die Sandsäcke, was einen anwesenden Manager sehr beeindruckte. Er fragte Cus, ob er boxen wolle. Dann ließ er ihn mit Baby Arizmendi in den Ring steigen, einem mexikanischen Boxer, der in dieser Sporthalle trainierte. Arizmendi hatte den großen Henry Armstrong zweimal geschlagen! „Während ich wartete, machte ich zum ersten Mal in meinem Leben Erfahrungen mit der Angst im Ring“, erzählte Cus einem Reporter. „Ich verstand damals nicht, was diese Gefühle in mir weckte. Mein Herz pochte. Vielleicht war es Angst, dachte ich, war mir aber nicht sicher. In diesen Ring zu steigen war wie der Gang auf den elektrischen Stuhl.“
Arizmendi schlug nach allen Regeln der Kunst auf Cus ein, brach ihm die Nase und verpasste ihm eine Gerade, die sein gesundes Auge zuschwellen ließ. Als er Cus fragte, ob er bereit für eine zweite Runde wäre, stellte der sich seiner Angst und sie boxten weiter. Am Ende kam Baby zu Cus herüber. „Was für ein zäher Affe du bist!“, beglückwünschte er ihn. Es war die Anerkennung dafür, dass Cus gelernt hatte, seine Angst zu besiegen. Cus machte seinen Boxern am Beispiel dieses Erlebnisses klar, dass sie sich niemals dafür schämen mussten, Angst zu haben, dass es normal war, Furcht zu empfinden.
Cus erzählte mir, dass er in all den Jahren im Boxgeschäft nur zwei Boxer gesehen hätte, die völlig furchtlos waren. Der erste war ein Taubstummer, den Cus managte und der regelmäßig fürchterlich verdroschen wurde. Der andere Kerl war ein jüdischer Boxer namens Artie Diamond. Diamond war an seinem ersten Tag als Zeitungsverkäufer entdeckt worden, als er einen älteren Mann zusammenschlug, der die Ecke als Standplatz hatte, die Artie haben wollte. Nach einem Abstecher in die Navy kam Artie zurück und begann unter Cus zu trainieren. Dass Artie kein normaler Bursche war, wurde Cus bewusst, als der Typ sich zu seinem ersten Amateurkampf auf den Weg in den Ring machte. „Ich steige in den Ring und halte das Seil nach unten. Plötzlich höre ich einen Hund knurren“, erzählte Cus einem seiner Schüler. „Ich frage mich: Wer zum Teufel hat hier einen Hund? Und ich schaue mich um und sehe Artie unter dem Seil hindurchschlüpfen, knurrend, mit Schaum vor dem Mund.“ Die Glocke ertönte und Artie stürmte auf seinen Gegner los und schlug wie wild auf ihn ein.
„Artie wurde auch verprügelt und bewies, dass er keine Angst hatte“, sagte Cus. „Nicht, dass er ein Macho gewesen wäre. Er war einfach ein Verrückter.“ Trotz einer 18:2-Amateurbilanz, inklusive fünfzehn ordentlicher K. o.s, zwang Cus Artie dazu, sich nach einigen Jahren als Profi mit zweiundzwanzig zur Ruhe zu setzen, weil er zu viele unnötige Strafen kassierte. Ein paar Wochen später klauten Artie und ein paar Freunde in der South Bronx einen gepanzerten Truck. Im Kampf schoss Artie dem Wachmann in den Kopf, sodass dieser sein Leben lang gelähmt blieb. Er wurde zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt, von denen er mindestens siebeneinhalb in Sing Sing absitzen musste. An seinem ersten Tag im Gefängnis spazierte Artie durch den Hof und rauchte eine Zigarre, als ein großer schwarzer Häftling auf ihn zukam.
„Hey, komm mal her, du Schönling“, zischte der Schwarze.
Artie konnte nicht glauben, dass er mit ihm redete.
„Weißer Junge, ich rede mit dir.“
„Wie kann ich dir helfen?“, fragte Artie und stellte sich dumm.
Der Schwarze zog Artie zu sich und sagte ihm, er würde einen angenehmen Aufenthalt haben, mit Zigarren und geschmuggelten Lebensmitteln, so viel er wollte – so lange er ihm sexuell zu Diensten sei. Artie nickte zustimmend und nahm den Kopf des Schwarzen in seine Hände. Er beugte sich nach vorne, als wollte er ihm süße Worte ins Ohr flüstern. Doch dann stieß er einen markerschütternden Schrei aus und biss ihm ein großes Stück von seinem Ohr ab. Als der Schwarze schmerzerfüllt davonrannte, sah Artie gelassen auf sein breites Publikum im Hof, spuckte Stücke des Ohrs aus und knurrte. Jahre später sollte Artie sagen: „Alle saßen lachend da, und ich drehte mich um und spuckte sie damit an. Das ist das Einzige, was ich in meinem Leben bereue. Ich hätte es kauen und hinunterschlucken sollen, um ihnen zu zeigen, wie böse ich wirklich war.“
Artie kam für einen Monat in den Bau und an dem Tag, als er rauskam, fragte er herum, um herauszufinden, wer die Bosse der jeweiligen ethnischen Gruppen im Gefängnis waren. Dann begann er damit, jedem einzelnen von ihnen die Seele aus dem Leib zu prügeln – alles an einem Tag. Acht Jahre später gelang es Cus, Artie aus dem Knast zu holen, und er stellte ihn als José Torres’ Konditionstrainer an. Ich wette, José folgte Artie aufs Wort. Artie machte noch einige Abstecher ins Gefängnis und bekam danach einen Job als Sicherheitschef eines spanischen Nachtclubs. Bei einem Streit mit einem Stammgast kam er durch einen Schuss ins Herz ums Leben. Artie hatte niemals Angst gehabt, „er konnte auf gar keine andere Weise sterben“, sagte Cus.
Cus lernte bei jenem ersten Kampf gegen den großen Mexikaner Arizmendi nicht nur, seine Angst zu besiegen, sondern machte auch eine sehr ungewöhnliche Erfahrung. Während der zweiten Runde dieses Sparrings hatte Cus plötzlich ein „Bild im Kopf“, wie er es nannte. Er sah sich zur Seite ausweichen und Baby einen Aufwärtshaken direkt aufs Kinn zu verpassen. Er war mitten im Kampf völlig losgelöst von seinem Körper. Er wurde immun gegen die Schläge, die Arizmendi ihm verpasste, so als ob sie jemand anderen treffen würden. Es war, als würden seine Gedanken jemand anderen im Ring leiten. Cus erzählte mir von einer weiteren außerkörperlichen Erfahrung, die er gemacht hatte: Er lag in seinem Bett und plötzlich war ihm, als würde er an der Decke schweben und auf sich selbst herabblicken.
Durch diese Erfahrungen wurde Cus klar, das es ein Schlüsselelement für den Erfolg eines Boxers ist, intuitiv und unpersönlich zu handeln und befreit von der Last seiner Emotionen in den Ring zu steigen. Es reichte nicht aus, nur wachsam zu sein wie seine taubstummen Boxer, die nicht von Geräuschen abgelenkt wurden. Wichtiger war es, einen intuitiven Sinn dafür zu entwickeln, was der Gegner tun würde. Wenn du einen Sekundenbruchteil vorher weißt, dass ein Schlag deines Gegners kommen wird, dann kannst du fast beiläufig reagieren. Du fängst an, dich zu bewegen, und der Hieb wird dich verfehlen. Bei Cus ging es immer darum, das zu vermitteln, was du vermitteln möchtest. Du musst immer als das erscheinen, was dein Gegner niemals sein kann. Du musst die Regeln aufstellen. Es ging darum, den Gegner psychologisch fertigzumachen, den Feind zu verwirren.
Immer wenn Cus über all das mit mir sprach, betonte er, dass das, was er mit „intuitiv denken“ meinte, das unbewusste Handeln war. Intuitives Denken ist frei von emotionalen Beeinträchtigungen. Du wirst zu einem Roboter oder einem Computer. Wie es in diesem Werbespot von Nike so schön heißt: Mach es einfach. Oder wie Cus immer sagte: Der Körper kennt Dinge, von denen der Kopf nicht weiß, dass er sie kennt. Du musst es in einem Sekundenbruchteil tun – du hast keine Chance, darüber nachzudenken. Wenn du es dennoch tust, beziehst du Prügel.
Jahre nachdem Cus diese Theorie der Kontrolle von Emotionen und des Erreichens des intuitiven Zustands entwickelt hatte, sprach er eines Tages mit Norman Mailer darüber, in Mailers Haus in Stockbridge. Cus schilderte diese Unterhaltung einem Mailer-Biografen. „Wir unterhielten uns länger und wohl auch intensiver