Die Geschichte von KISS. Gene Simmons
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STEVE CORONEL: Stans Songs waren vollständig ausgearbeitet, und er sang sie mit Selbstvertrauen, genau so wie Gene ein paar Jahre vorher, als er Seth Dogramajian einen seiner Songs präsentierte. Ich erinnere mich, wie ich zu Gene rübersah; er hatte seine Arme vor der Brust verschränkt und hörte zu, den Kopf zur Seite geneigt. Ich fand Stans Lieder ziemlich gut. Genes Songs waren sehr an Pop und Fantasy orientiert. Seine Melodien waren alle in Dur und irgendwie eklektisch. Gene dachte dabei nicht an bluesigen Hardrock-Gesang. Die meisten Bluesrock-Leadsänger gingen anders an ihre Musik heran als Gene damals, und so war Stanley Eisen für Gene und mich eine ziemliche Offenbarung.
NEAL TEEMAN: Dann spielte Gene ein paar Songs. Als er sang, schrie er so laut, als wollte er, dass das ganze Haus ihn hören konnte [lacht].
PAUL STANLEY: Er spielte einen seiner Songs und, ganz ehrlich, ich war nicht sehr beeindruckt. Gene hatte eine sanfte, melodische Stimme, die sich im Laufe der Jahre veränderte. Anfangs war sie viel näher an Paul McCartney, und der wäre er auch gern gewesen. Paul war sein Idol.
STEVE CORONEL: Gene spielte „Stanley the Parrot“ und was er sonst noch so hatte, aber das war alles nicht so toll.
GENE SIMMONS: Paul war nicht gerade beeindruckt von meinen Songs. Sie waren völlig chaotisch.
STEVE CORONEL: Ich hielt Stanleys Zeug für viel besser. Das galt auch für den Gesang. Als Stanley aufhörte zu spielen, sagte Gene ganz nonchalant: „Yeah, das war ganz gut.“ Er war so angepisst, dass es ihm schwerfiel, sich zusammenzureißen. Er bewunderte ihn zähneknirschend, denn Stan war wirklich gut. Ab da begann ihm Genes Benehmen zu missfallen. Gene kann ein bisschen streitlustig werden, wenn er jemanden ausquetscht.
PAUL STANLEY: Der Eindruck, den ich von Gene hatte, gründete vor allem auf seiner Persönlichkeit, und die gefiel mir nicht besonders.
GENE SIMMONS: Paul mochte mich gar nicht. Er hielt mich für arrogant, so auf die Art: „Was denkst du eigentlich, wer du bist?“ Ich konnte es einfach nicht begreifen, dass jemand außer mir die Eier hatte, sich hinzustellen und zu sagen: „Oh, ich schreibe auch Songs.“ Ich war nicht wirklich unfreundlich, aber ich hatte so viel Selbstvertrauen, dass es mich gegenüber anderen Leuten abstumpfen ließ. Meine Selbstwahrnehmung hatte auch damit zu tun, dass ich ein Einzelkind war. Ich kam aus einem anderen Land, wuchs ohne Brüder und Schwestern auf, die mir den Rücken gestärkt hätten. Meine Mutter hat die Nazi-KZs im Zweiten Weltkrieg überlebt. Mein Vater verließ uns schon früh. Ich hatte keinerlei moralische Unterstützung, und meine Mom arbeitete von früh bis spät. Das soll keine Entschuldigung sein. Du lernst mit der Zeit, dass du es nur zu was bringen kannst, wenn du dich zusammenreißt und hart arbeitest.
PAUL STANLEY: Freundschaften, die über sehr lange Zeit bestehen, beginnen manchmal damit, dass man erst einmal eine echt starke Aversion gegen den jeweils anderen empfindet. Wir verstanden uns einfach nicht, aber eigentlich war mir das auch egal. Ich schlief deswegen nicht schlecht oder so.
STEVE CORONEL: Als Stan gegangen war, diskutierten wir alles. Es lag für mich auf der Hand, dass Gene gegenüber Stan so einige Vorbehalte hatte, aber ich fand, dass die Kritikpunkte, die er vorbrachte, größtenteils unbegründet waren. Für mich lief eigentlich alles darauf hinaus, dass Stan eine Bedrohung für Genes Selbstverständnis als Musiker darstellte.
NEAL TEEMAN: Ich erinnere mich, dass ich nach diesem Treffen mit Paul im Auto nach Hause gefahren bin, und er sagte: „Wow, wer zum Geier glaubt er eigentlich, dass er ist?“ Er war wirklich angewidert von ihm. Paul war mit einem guten Gefühl zu diesem Treffen gegangen, und Gene benahm sich, als wäre es ein Wettbewerb, so in der Art: „Ich kann dich schlagen.“ Ich glaube, das störte Paul.
PAUL STANLEY: Ich mochte ihn nicht, und ich sagte zu Steve, dass ich kein Interesse daran hätte, zusammen mit ihm zu spielen. Aber dann begannen wir damit, unsere Probleme auszuräumen, und mit der Zeit findest du heraus, wer die andere Person tatsächlich ist. Wenn sich zwei Steine lange genug aneinander reiben, schleifen sie sich schließlich glatt, und alle Kanten werden abgetragen. Um mit jemandem zu arbeiten und eine lange Beziehung zu pflegen, so wie mit einem Bruder, muss man wissen, wo man die Grenzen zieht.
STEVE CORONEL: Paul und Gene sprachen ein paar Tage später miteinander und kamen zu dem Ergebnis, dass es genug Platz für beide in einer gemeinsamen Gruppe gäbe. Weder Gene noch ich spielten viel außerhalb eines kleinen Zirkels von einer Handvoll Musiker, und keiner von denen schrieb Songs. Die Begegnung mit Stan war daher etwas Neues für uns. Gene musste akzeptieren, dass es außer ihm noch jemanden gab, der schreiben, spielen und singen konnte. Bis dahin hatte sich Gene, gleich nach den Beatles vielleicht, als die talentierteste Person unter der Sonne gefühlt. Wir riefen Stan an und fragten, ob er sich noch einmal mit uns treffen würde, zusammen mit Brooke Ostrander, einem Keyboarder, den Gene kannte, um zu quatschen und gemeinsam zu jammen. Wir trafen uns in Brookes Wohnung in New Jersey und verstanden uns prima. Stan freute sich, wieder in einer Band zu sein und jemanden zu haben, der im Wechsel mit ihm die zweite Stimme singen würde. Gene gefiel die Zusammenarbeit mit Stan, und er zeigte keine Anzeichen von Ego-Problemen mehr. Letztendlich konnten sie gut zusammenarbeiten, weil beide mit großem Ernst bei der Sache waren. Ihre musikalischen Fähigkeiten ergänzten sich. Einer konnte die Leadstimme übernehmen, während der andere die zweite Stimme beisteuerte, und sie konnten sich dabei abwechseln. Sie feilten an diesem Wechselspiel im Loft in der Canal Street. Wir trieben auch viele Späße. Das gehörte einfach zur Entwicklung ihrer Beziehung; wir haben sehr viel gelacht. Ihr origineller Sinn für Humor entwickelte sich langsam. Das ist es ja gerade, warum es solchen Spaß macht, in einer Band zu spielen: die Freude am kreativen Arbeiten sowie das Herumprobieren. Du gehst die Straße runter und du weißt, dass du zu einem engmaschigen Team gehörst. Und dann waren da noch der gemeinsame Background – aufgewachsen in Queens, jüdische Herkunft – und außerdem die gemeinsamen musikalischen Vorlieben.
GENE SIMMONS: Paul und ich bevorzugten dieselbe Ästhetik, teilten dieselben Ideale und hatten die gleiche Arbeitsmoral, aber ansonsten waren wir verschieden wie Tag und Nacht. Wir sind wie die zwei Seiten derselben Münze. Als wir begannen, miteinander zu arbeiten, erkannte ich ihn als ein wichtiges Puzzlestück an. Paul glaubte daran, dass er es schaffen würde, und das gefiel mir.
PAUL STANLEY: Für uns beide war der Erfolg wichtiger als alles andere. Gene war schlau und ehrgeizig und bereit, hart zu arbeiten, um etwas zu erreichen, anstelle nur darüber zu reden. Intelligenz und Tatendrang bringen einen weiter als reines Können ohne Orientierungssinn. Er war auch offen für Anweisungen und Input, und er war sehr talentiert. Zwei, die zusammenarbeiten, nicht nur als Einzelpersonen nebeneinander her, multiplizieren ihre Talente exponentiell und leisten so viel mehr. Es ist viel, viel schwerer, gewisse Ziele in die Tat umzusetzen, wenn man allein ist. Als Team gewinnt man das Spiel.
Stephen Coronel, der Mann, der Gene Simmons und Paul Stanley miteinander bekannt machte. Americana Hotel, New York City, 1979 Ken Sharp
2: Erste Schritte
Im Jahr 1972, zwei Jahre nach ihrem ersten Zusammentreffen, lebten Paul Stanley und Gene Simmons von Monatsgehalt zu Monatsgehalt und waren ihrem Ziel, Rockstars zu werden, noch keinen Schritt näher gekommen.
PAUL STANLEY: Ich verbrachte viel Zeit in einem Kifferladen namens Middle Earth in der Nähe meiner Wohnung. Sie verkauften dort psychedelische Utensilien – Zigarettenblättchen, Wasserpfeifen – und hatten praktisch alles auf Lager, was das Hippie-Herz begehrte. Eines Tages kam ich in den Laden, und sie erzählten mir, dass soeben jemand von den Electric Lady Studios da gewesen