Die leise Erweckung. Theo Volland
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Die leise Erweckung - Theo Volland страница 3
Das letzte Mal traf ich Kemal völlig niedergeschlagen in der Notunterkunft einer christlichen Gemeinde in Beirut, der Hauptstadt des Libanon. Er und seine Familie waren auf dem Weg nach Deutschland, wo seine Frau Verwandte hatte. Er kam mir vor wie ein Segelschiff bei Windstille; seine Segel hingen träge und leer am Mast. Würden sie in Deutschland wirklich eine Chance haben? Im Zwischenlager jedenfalls konnten sie sich überhaupt nicht vorstellen, dass ihre Kinder jemals das deutsche Abitur schaffen würden. Ein neues Schulsystem, die neue Sprache; es schien alles völlig aussichtslos. Traurig schauten sie mich an.
Ich machte ihnen Mut, denn ich hatte als Jugendlicher Ähnliches erlebt: »Ja, es ist schwer, sich in einem fremden, neuen Land einzuleben, aber es ist möglich! Ihr schafft das …« Wir redeten noch lange miteinander an diesem Abend, und ich erinnerte sie an unseren gemeinsamen Glauben. Dass Jesus sie auf dem weiten Weg begleitete, der ihnen bevorstand, und nicht im Stich lassen werde. Der Verlust ihrer Heimat wog schwer, nie hätte Kemal erwartet, dass er sich einmal in so einer Situation wiederfinden würde. Beim Abschied, als er mich noch durch die unbeleuchteten Straßen des nächtlichen Beirut begleitete, seufzte er traurig: »Nicht ich habe Syrien verlassen – das Syrien, wie ich es geliebt habe, gibt es nicht mehr.«
Von den äußeren Ereignissen können wir in der Presse nachlesen. Statistiken der Getöteten und Ausgewanderten im Nahen Osten sind im Internet ersichtlich. Doch die Geschichten der Menschen erfahren wir nur in der persönlichen Begegnung mit ihnen. Ohne Zweifel ist die Einwanderung von mehr als einer Million Migranten nach Deutschland eine Herausforderung. Doch wenn jeder hundertste Bundesbürger einen Flüchtling einlädt, können sie alle eine echte Beziehung zu Einheimischen in unserem Land aufbauen. Und darauf kommt es an in diesen Tagen.
Es ist Jesus, der uns darum bittet, mit den Fremden freundlich umzugehen und ihnen zu helfen. Wen sollen wir einladen? Und von wem erwarten wir unseren Lohn?
Deshalb werdet nicht müde zu tun, was gut ist. Lasst euch nicht entmutigen und gebt nie auf, denn zur gegebenen Zeit werden wir auch den entsprechenden Segen ernten.
Galater 6,9
Das Weihnachtsbaby
Bielefeld
Im Januar 2016 sitze ich abends auf einem zerschlissenen Stockbett im Asylantenheim und spiele mit ein paar Eritreern bei einem Glas Cola eine Runde Uno. Es ist richtig Stimmung in der stickigen Bude, wir lachen viel miteinander. Plötzlich klopft es, und alle schauen auf. Vor der Tür steht ein schmächtiger, junger Araber, der vor den vielen Afrikanern schüchtern erklärt, dass er mich gerne kennenlernen wolle. Er habe mich beim Betreten der Containersiedlung gesehen. In gebrochenem Deutsch bittet er, ob ich auch ihn und seine kleine Familie ein Stockwerk tiefer besuchen komme? Na klar, keine Frage. Nach der nächsten Runde lasse ich also die Eritreer mit meinem Freund Matze weiterspielen und folge Elamin, so heißt der junge Mann, in sein Zimmerchen.
Vor der Türe ziehe ich die Schuhe aus, wie es üblich ist bei Muslimen. Elamin und seine kleine, etwas korpulente Frau Chaïma, die bis aufs Gesicht voll verschleiert ist, erzählen, dass sie aus dem Irak stammen. Das junge Paar bittet mich lächelnd, auf einem zerkratzten, blauen Klappstuhl Platz zu nehmen, während sie selbst sich im Schneidersitz auf dem Bett mir gegenüber niederlassen. Mir ist etwas mulmig zumute, weil ich nicht weiß, was die beiden eigentlich von mir wollen. Mal schauen …
Elamin ist gastfreundlich. Er füllt ein Schnapsglas mit kochendem Wasser, rührt zwei gehäufte Teelöffel Nescafé und einen Riesenberg Zucker hinein und reicht mir seine Powermischung. Nachdem er sich selbst auch so eine Kaffeezuckerbombe gebraut hat, bleibt mir nichts anderes übrig, als meine lächelnd zu trinken. Natürlich bekomme ich sofort eine zweite Portion nachgeschenkt, diesmal trinke ich sie ganz langsam und lasse das Gläschen auf keinen Fall leer werden. Ich frage den jungen Mann nach ihrer Flucht. Zuerst versteht er nicht recht. Dann ruft er seinen Nachbarn vom Zimmer nebenan dazu, einen Araber mittleren Alters, der schon besser Deutsch spricht, und unsere Unterhaltung kommt in Gang. Sie seien im November über die Balkanroute nach Deutschland gekommen – lange Strecken zu Fuß, versteht sich. Er und seine Frau. Plötzlich raschelt etwas in dem mit buntem Stoff zugehängten unteren Teil des zweiten Stockbetts im Raum. Erstaunt blicke ich auf.
Chaïma geht an das Bett, schlüpft unter den Vorhang und holt ein kleines Bündel hervor. Ein Baby! Stolz legt mir der schmächtige, dunkelhaarige Elamin seinen kleinen Hussein in den Arm. Und während ich völlig verdutzt den minikleinen Säugling auf meinem Schoß betrachte, erzählt er mir mit glänzenden Augen von der Geburt ihres Kindes.
Elamin und Chaïma sind vor dem Krieg aus Mossul im Irak geflüchtet, damals war Chaïma bereits schwanger. Dann haben sie in einem kleinen, schwarzen Schlauchboot das Mittelmeer nach Griechenland überquert, wie so viele Flüchtlinge im Jahr 2015. Sie zeigen mir auf ihrem Handy ein kurzes Video ihrer Überfahrt übers Meer. In dem Kurzfilm lacht das Paar in knallroter Rettungsweste wie bei einem Touristenausflug in die Kamera, während sich das völlig überladene, kleine Schlauchboot durch aufspritzende Wellen kämpft. Dieser Teil der Reise hat ihnen sichtlich Spaß gemacht, und sie sind gut angekommen. Allerdings hat sie die Überfahrt eine Menge Geld gekostet, erzählt er. Ein paar Monate sind sie in einem der provisorischen Lager in Griechenland hängen geblieben. Schließlich hat sich das junge Paar wieder auf den Weg gemacht. Die hochschwangere Frau hat mit ihrem Mann im regnerisch kalten November 2015 zu Fuß den Kosovo und Kroatien durchquert. Als sie von ihrem Fußmarsch über den Balkan erzählen, muss ich unweigerlich an Maria und Josef und die Weihnachtsgeschichte denken, wie sie sich seinerzeit, vor 2 000 Jahren, auf den Weg nach Bethlehem machen mussten.
Skurril wird der Abend, als ich sie frage, an welchem Tag denn ihr kleiner Hussein zur Welt gekommen ist? Er sei am 24. Dezember in einem Krankenhaus hier in Bielefeld geboren. Ich muss schlucken. Das ist ja quasi wirklich so, als würden Maria und Josef und ihr kleines Christkind vor mir sitzen und mich anlächeln. Unfassbar. Ob ich ihnen helfen könne? Elamin zeigt mir einige Papiere seines deutschen Arztes, die er nicht versteht. Deshalb also hat er mich zu sich geholt, das war der Grund. Selbstverständlich schaue ich mir gerne für ihn die Dokumente an. Ich nehme die Blätter, lese sie durch und erkläre ihm dann, was sein Arzt schreibt. Der hat ihm bestätigt, dass er eine Kriegsverletzung an der Schulter hat. Elamin hat manchmal heftige Schmerzattacken.
Bei den Kämpfen um Mossul ist sein Elternhaus ausgebombt worden. Schwere Trümmer sind auf seinen Rücken gestürzt und haben ihn innerlich verletzt. Der junge Vater muss dringend weiterbehandelt werden, damit er keine bleibenden Schäden zurückbehält. Gerne erkläre ich ihm, wie er zwei Tage später zu seinem nächsten Arzttermin findet.
Von diesem Abend an besuche ich das Weihnachtsbaby und seine jungen arabischen Eltern fast jede Woche. Sie fassen Vertrauen, und ich kann ihnen in vielen praktischen Belangen helfen. Schwer tun sie sich mit dem Deutschlernen, da habe ich schon andere Migranten erlebt, die schneller in unsere Sprache hineingefunden haben – doch auch mit der Sprache helfe ich ihnen nach Kräften.
Ein paar Wochen später passt es, dass ich Elamin das erste Mal von Jesus erzählen kann. Lächelnd zeige ich ihm in seinem Handy die Bibel-App und darin die Geschichte von Maria und Josef und dem kleinen Jesus-Baby aus Lukas zwei. Schweigend hört er zu und staunt, wie sehr die Geschichte ihrer eigenen Flucht der von Maryam, Yusuf und Isa gleicht, den wichtigsten Personen aus dem İncil, dem Neuen