Joe Cocker - Die Biografie. Christof Graf
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Nichts ist wirkmächtiger als Musik, das spürte man nicht nur ab der ersten Minute eines Joe-Cocker-Konzerts. Es dauerte keinen Song, ohne dass Cocker nicht bereits wie ein Schwerstarbeiter schwitzte. Zu Beginn der 80er, als sein Körper begann, ein wenig fülliger zu werden, waren spätestens nach drei Songs sein T-Shirt und Haar schweißdurchtränkt. Und sein Publikum? Es wartete geradezu sehnsüchtig darauf, dabei zuzusehen, wie sich Cocker durch diese Klangwelten schuftete, um seinen Fans einen Weg durch seine musikalische Welt zu ebnen. So war es früher, und so war es später. Nach dem ersten Song zog Cocker, mittlerweile altersbedingt noch etwas fülliger geworden, sein Sakko aus, als würde er sich langsam so richtig an die Arbeit machen. Ab dem ersten Ton begann er das Publikum in den Bann zu ziehen. „Er verzerrt und verzieht sein Gesicht in wilden Grimassen vor Anstrengung über dem Hin und Her seiner spastischen Bewegungen und amotorischen Schritte. Er rudert mit den Armen, steht wie im Sturz, reißt winzige Fingerbewegungen und Gesten an wie Streichhölzer, reißt sich an den Haaren, reißt die Augen weit auf, als würde er gerade aus einem fürchterlichen Schlaf in fremder Landschaft aufwachen: ein Diktator der Gefühle in einem Irrgarten unerlöster Leidenschaften“, schrieb darüber der KÖLNER STADTANZEIGER und beschrieb seinen Eindruck weiter mit den Worten: „… Ein Gequälter, wie ihn Hieronymus Bosch gemalt haben könnte: mit herausgestülpter Zunge zwischen den unregelmäßigen Zähnen und einer Stimme, die ihm auch aus den Augen herauszutreten scheint. Er sieht nicht gut aus, und keine seiner Bewegungen ist elegant. Alles an ihm dient nur der spannungsvollen Verletzlichkeit der Schönheit seiner Lieder. Er singt nicht mehr, er lässt sich singen, wird gesungen von einem Gesang aus der Vorzeit der Sprache, bevor sie in ihrer jetzigen Form erkaltete. Nach dem Auftritt sackt er ausgepumpt in sich zusammen, wie zurückgelassen von einem fürchterlichen Dämon. Er wankt zur Seite, in den Schatten der Bühne. Im Dunkel der Ecke umarmen ihn die Musiker seiner Band. ‚Verdammt, ich wusste gar nicht, dass die Halle so groß ist‘, keucht er, ‚ich hatte nur ein paar hundert Leute erwartet‘, bevor ihn das Gellen der Menge zur Zugabe schon wieder hinausruft, damit er ihnen auch seinen letzten Rest noch gibt. Seine gekräuselten grauen Haare kleben ihm längst als nasse glatte Strähnen an den Schläfen, im Nacken und auf der Stirn. Und nun reißt er sich noch einmal hoch da vorne, steht noch einmal wie ein Denkmal, steht dann wieder schräg wie im Fall da, zieht den Kopf ins Hemd und kneift sein linkes Auge zu, weil er sonst den letzten hohen Ton nicht mehr erreicht: ‚You Are So Beautiful To Me.‘ Er quetscht und kaut und beißt die Töne, schindet sie so, wie sie ihn schinden, und heult in einem Lied mehr Schmerz und Zärtlichkeit aus sich heraus, als manch anderer sein Lebtag nicht aus dem Leib herauskriegt …“
Die Beschreibung einer Momentaufnahme, die Cocker mit den Worten zusammenfasste: „Es ist das, was das Publikum von mir erwartet. Würde ich es nicht so machen, wäre es nicht das, weswegen mein Publikum immer wieder kommt. Es möchte mich sterben und auferstehen sehen.“ Vielleicht ist es das, was man als „Magie“ in Cockers Stimme und Musik bezeichnen kann. „Erst wer so in die Musik eintaucht, versteht Musik“, sagte Cocker. „Erst dann begreift man, wie sie entsteht und woher sie kommt, aus den Tiefen des Inneren, und erst dann ist man in der Lage zu lernen, was sie bewirken kann.“
Eine Stimme wie die von Joe Cocker bringt auf eine spezielle Art die Luft zum Schwingen, und unser Gehirn bewertet diese zu Klängen werdenden Vibrationen als unverkennbare Musik.
Cocker aber präsentierte sie auf einzigartige Weise, die einprägsamen Strukturen und Melodien, und das nur mit seiner Stimme. Er zerlegte die Tonfolgen nicht in undurchdringbare Fragmente, er kombinierte sie nicht immer wieder neu, er schichtete nicht Instrumente übereinander. Er ebnete dem Zuhörer den Weg der Töne vom Gehör ins Gehirn, anstatt ihn in ein Labyrinth zu locken. Cocker verwendete die Struktur eines einfachen Popsongs, bei dem die typische Melodieabfolge selten länger als 30 Sekunden dauert und der mit keinen komplexen Texten aufwartet. Cocker schwieg aber auch, legte Pausen ein und offenbarte dem Zuhörer eines Liedes die Tatsache, dass ein Klang in die Tiefen der Bedeutungslosigkeiten stürzen würde, wenn es nicht sein Gegenteil gäbe: die Stille. Der imaginäre Raum ohne Vibrationen, Wellen und Schwankungen, ohne Bewertung und Orientierung. Plötzlich wird Stille zum lautesten Element, weil unser Gehirn sich danach sehnt, etwas bewerten zu können, sich orientieren zu können. Stille wird plötzlich zum mächtigsten Element der Wirkung von Musik. Es ist die Stille kurz vor dem Schrei. Die Stille kurz vor dem Falsett, also der um eine Oktave hochgestellten männlichen Sprech- oder Gesangsstimme, bei der die Stimmbänder nicht vollständig, sondern nur an ihren Rändern schwingen, wodurch ein weicher und grundtöniger Klang zustande kommt.
Joe Cockers berühmtestes Falsett ist sein Schrei in „With A Little Help From My Friends“, kurz davor wird eine Pause zur Steigerung der Stille „intoniert“. Die meisten hören den Schrei schon, bevor ihn Cocker aus sich herausholt. Die meisten kennen ihn, erwarten ihn, bewerten ihn, wie sie ihn schon immer gekannt, erwartet und bewertet haben. Sie kennen seine und ihre Geschichte, und das macht ihn vertraut. Sie kennen seinen Gesang und seine Stimme.
Der ROLLING STONE wählte 2008 Joe Cocker immerhin auf Platz 97 der weltweit besten Sänger aller Zeiten. „Es gilt, dem Song eine eigene kleine Geschmacksnote und Geschichte zu verpassen“, erläuterte Cocker sein Credo. Nicht mehr und nicht weniger. Und mit seiner ganz und gar unverwechselbaren Stimme glückte ihm das immer wieder neu …
Sheffield 1944 / A Singer is born: 20. Mai 1944 / Marjorie und Harold Cocker ziehen zwei Söhne groß / Kindheit im Umfeld der Tasker Road 38
Er war der lebende Beweis dafür, dass „man aus Sheffield kommen und wie ein Schwarzer aus Mississippi singen kann“, schrieb einmal der ROLLING STONE. John Robert „Joe“ Cocker kam aus Sheffield. Er wurde am 20. Mai 1944 geboren, sein Bruder Victor kam im Oktober 1940 zur Welt. Ihre Eltern waren Marjorie, „Madge“ genannt, und Harold Cocker, die 1937 geheiratet hatten. Madge zog zu Harold in dessen Elternhaus, eine Doppelhaushälfte in dem Vorort Crookes.
Damals war Sheffield die viertgrößte Stadt Englands und für die Produktion von „British Steel“ bekannt. Deshalb war der Ort, seit Beginn der Industrialisierung eine typische „Working Class“-Stadt, auch Ziel deutscher Bomber im Zweiten Weltkrieg. John Roberts Vater diente in der britischen Air Force und sah seinen Sohn erst, als der schon drei Monate auf der Welt war.
Heute hat die britische Stadt in South Yorkshire etwa 557.000 Einwohnern und ist Verwaltungssitz der Region Yorkshire and the Humber. Über das Stadtgebiet erstreckt sich hügeliges Bergland. Auf einem dieser Hügel befindet sich Joe Cockers Elternhaus in Crookes, Tasker Road 38, wo der kleine John Robert seine Kindheit und Jugend verbrachte und heranwuchs.
Bis Ende der 50er-Jahre jedoch wurde Sheffield „als ein Ort angesehen, an dem das Leben aus Arbeit und Schlafen bestand; das Nachtleben endete stets abrupt um zehn Uhr abends – und wenn man jemanden noch später auf der Straße sah, dann nahm man an, dass er entweder auf dem Weg zur Arbeit war oder von dort käme!“, erzählt Terry Thornton, ein wohlhabender Geschäftsmann sowie Eigentümer des Club 60 und später des Esquire, in dem Joe Cocker seine musikalische Karriere begann. Thornton sollte später auch Joe Cockers erster Manager werden. Anekdoten und Erinnerungen dieser Art fasste er in einem kleinen Büchlein zusammen. Thornton bot damals aufstrebenden einheimischen Musikern eine Plattform für erste Live-Auftritte. Zu dieser Zeit gab es wenig oder gar keine Abwechslung, besonders im Hinblick auf Attraktionen, die miteinander hätten konkurrieren können. Es gab weder Cafés noch andere Lokale, die nach zehn Uhr abends geöffnet hatten. Folglich existierte auch kein Ort, an den man nach einer Show oder Tanzveranstaltung hätte gehen können, und so fuhr man eben mit der letzten Straßenbahn, die pünktlich um 22:30 Uhr am Rathaus abfuhr, nach