Nur noch Fußball!. Jürgen Roth
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Vor drei Wochen ging mein Fernseher kaputt. Darüber bin ich froh. Kein Videotext mehr, kein süchtiges Suchen nach Nachrichten aus der Welt des Fußballs mehr, wenn man aufwacht und Ablenkung sucht vom grauenhaften Wetter da draußen oder von den Verwüstungen im eigenen Kopf.
Die Sonne scheint, mein Kopf schmerzt, und das einzige, was ich über den Bundesligaspieltag weiß, ist, daß die Eintracht auswärts 4:0 gewonnen hat. Das hat Fipps am Samstagabend in meiner Stammkneipe gesagt, daran erinnere ich mich. Ich habe keine Ahnung, wie die anderen Spiele ausgegangen sind, man glaube es mir, oder man glaube es mir nicht.
Die Sonne scheint, der Kaffee schmeckt, der Kopf ist eine Ruine, und am Nachmittag werde ich mich wieder um mein neues Heim kümmern.
Ich hatte es ja fest vor. Ich wollte es versuchen. Ich wollte versuchen, mal wieder Fußball zu gucken, seit der WM zum erstenmal wieder. Ich bin gescheitert, und es macht mir nichts aus.
Am Samstag kamen um die Mittagszeit die Freunde M. und M. vorbei. Sie hingen Türen aus, schraubten Handläufe ab und wuchteten für mich einen schönen alten, massiven Schreibtisch aus der Waschküche, trugen ihn Treppen hoch und durch Gänge und über die Straße zu meinem neuen Heim. Das war eine ungeheure Leistung, die die beiden durch Dialoge von wahrhaft Beckettschem Zuschnitt krönten.
Als der Schreibtisch im Hof vor meinem neuen Heim stand, meinten M. und M., daß jetzt ein paar Belohnungsbiere fällig seien, die Bundesliga fange ja erst in eineinhalb Stunden an. Ich ging zur Trinkhalle und kaufte sechs Balkonbiere, die wir dann auf dem Balkon meines neuen Heims in uns hineinlaufen ließen.
»Es gibt nichts Besseres als was Gutes«, sagte M. Die Biere in der Sonne schmeckten vorzüglich. Eine Stunde später kam der freundliche Sami, der Inhaber der Trinkhalle, vorbei, mit einer Tüte voller Balkonbiere. »Ein Geschenk zum Einzug«, sagte er und lachte.
Nach achtzehn Balkonbieren latschten wir in meine Stammkneipe und laberten und tranken weiter. Irgendwann fiel mir ein, daß ich ein paar Zeilen über den Bundesligaspieltag würde schreiben müssen, und ich fragte die beiden Freunde, was ich schreiben solle.
»Schreib irgendwas über Ballack«, sagte M., und dann bestellten wir noch eine Runde.
Homer mal Vergil im Quadrat
Es ist immer wieder erhebend zu sehen, welche Sozialcharakterexemplare der Spitzensport, der mit Fug und Recht Dumpfensport genannt werden darf, in prachtvoller Regelmäßigkeit hervorbringt: von Kindesbeinen an in ein autoritäres, mitunter mindestens semikriminell-korruptes Sichtungs- und Fördersystem eingespannte, jeder Möglichkeit einer halbwegs humanen, nicht vorbestimmten Entwicklung beraubte Menschen, die auf Grund des eklatanten Mangels an Erfahrungen außerhalb des Drill- und Züchtungsapparates später zuverlässig an schweren Formen des Realitätsverlustes leiden, ohne das zu merken, geschweige denn reflektieren zu können, wie sollten sie auch über die Fähigkeit zur distanzierten Selbstwahrnehmung verfügen.
Zerbröseln die Wände des Kerkers, in den man sie vor langer Zeit gesperrt und in dem man ihnen weisgemacht hatte, die Vorgaben des Leistungswahnsystems hätten etwas mit der Welt und dem Leben zu tun, drehen diese gesellschaftlich determinierten Sportkretins nicht selten durch. Das teilen sie mit anderen Zwangscharakteren und Paranoikern, mit Hochstaplern und Wertpapierzockern, mit von Allmachtsphantasien heimgesuchten Politikern, mit bigotten Kirchenmännern und anderen Schwindlern, die sich seit Jahr und Tag in die eigene Tasche lügen, unausgesetzt die Öffentlichkeit betrügen und jene dann, wenn sie tatsächlich oder vermeintlich ertappt worden sind, nach den guten, alten Regeln des Manichäismus in die Bataillone der Gefolgsleute und der Feinde unterteilen.
Wir reden hier von keiner bestimmten Person. Wir haben lediglich in jüngster Zeit zufällig etwas genauer der Eisschnelläuferin Claudia Pechstein zugehört und ihre kürzlich auf den Markt gebrummte Autobiographie mit dem an einen Abenteuerroman erinnernden Titel Von Gold und Blut (Berlin 2010) gelesen. Doch, das haben wir, wir glauben es beinahe selber nicht.
»Ich weiß jetzt, wer auf die Liste der Freunde gehört und wer auf die der Feinde«, hat die fünffache Olympiasiegerin, x-fache Welt- und Sonstwasmeisterin sowie Topethikerin bei der Vorstellung ihrer »Selberlebensbeschreibung«, wie Jean Paul derartige Bücher nannte, kundgetan, wobei in unserem Fall Pechsteins Manager Ralf Grengel, ein, so heißt es, ehemaliger Sportjournalist, aufgeschrieben hat, was ihm jene Dame erzählte, die zum Opfer des laut Klappentext »größten Justizirrtums in der Geschichte des Anti-Doping-Kampfes« wurde. Doch, das Wort »Opfer« ist richtig gewählt. Dieter Bohlen, gleichfalls ein Meister im Metier der autobiographischen Parfümierung, hätte allerdings »Megaopfer« gesagt.
»Anomalie oder Doping? Auf diese Frage brachen sie mein Schicksal herunter«, heißt es, die auf nahezu fünfhundert vor Esprit und Eleganz glühende Seiten ausgewalzte Exkulpationsschrift beschließend, im letzten Kapitel, in dem die seit dem Februar 2009 wegen erhöhter Retikulozytenwerte von der Internationalen Eislaufunion ISU gesperrte und von allerlei Unholden »unschuldig verfolgte« ehemalige Goldsilberbronzeschwarzrotgoldmarie noch einmal den Säbel und wider die Schurken im »Anti-Doping-Sumpf« zu Felde zieht, nicht ohne allen Ernstes zehn Vorschläge zur Reform der Dopingkontrollen zu unterbreiten, die »eine durchschlagende Glaubwürdigkeit im Kampf gegen die Betrüger« zur Folge haben sollen.
Wir befinden uns im falschen Buch? Nein, Claudia Pechstein befindet sich bis zur letzten Seite permanent, wir haben irgendwann aufgehört zu zählen, »im falschen Film«, den manch anderer als den richtigen, nämlich als Realität bezeichnen würde.
»Schicksal« – auch dieser Ausdruck paßt wie Kaviar zu Vanilleeis. »Ich wurde bejubelt, gefeiert, hofiert. Und öffentlich hingerichtet.« Es richtete »sich das Schwert gegen mich […]. Mit aller Schärfe. Um jeden Preis.« – »Es war stets mein größter Alptraum, mein Name könne in einem Atemzug mit dem Wort ›Doping‹ genannt werden.« Ja, ein Schicksal von antikischer Größe und Tragik, eine Verschlingung von Glorie und Perfidie, ein Epos über Ruhm und Hinterlist, das es locker mit Homer mal Vergil im Quadrat aufnehmen kann. »Mein Leben zwischen Olymp und Hölle« lautet denn auch der Untertitel. Man ist schier fassungslos – ob der Aufdringlichkeit jener Liaison, die das niedere Skribententum mit der Hybris einer auf Kufen durch die grunzgescheite Sportgeschichte kurvenden Polizeihauptmeisterin, die noch nicht allzu viele Paßkontrollen durchgeführt haben dürfte, in dieser Causa eingegangen ist.
Bis heute liegt kein stichhaltiger Nachweis über Claudia Pechsteins durch ständig neue und überarbeitete Gutachten angeblich belegte Kugelzellanomalie vor. Vielmehr soll sie mittlerweile an der noch selteneren Xerozytose leiden, was, milde ausgedrückt, schwer nachweisbar wäre. Dessenungeachtet marschieren durch diesen schon sagenhaft redundant-geifernden Buchstiefel unverdrossen mantraartig die Begriffe »Hexenjagd«, »öffentliche Stimmungsmache«, »öffentliche Hinrichtung«, »Bannstrahl«, »Jagdfieber«, »Vorverurteilung«, »Riesensauerei«, »Glaubenskrieg«, »Feldzug«, »Berufsverbot«, »Scheiterhaufen« und »faule Tricks«, um das Lager derjenigen Richter, Funktionäre und Journalisten zu kennzeichnen, die Pechstein »abschlachten« wollten und wollen. Nur gut, daß Claudia Pechstein Bild und Bild am Sonntag, die ehernen Garanten von Moral und Integrität, auf ihrer Seite weiß. Und nur gut, daß sie ihr blitzsauberes dualistisches Weltbild mit putzigen Medaillenposerphotos garniert, auf die wir uns hier keinen zweiten Reim machen wollen.
»Was für ein linkes Ding. Ich kann gar nicht so viel essen, wie ich kotzen könnte«, diktierte Claudia Pechstein Ralf Grengel aufs unschuldige