Arkadiertod. Thomas L. Viernau
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Vergil, ein römischer Dichter, besang ein paar Jahrhunderte später die arkadischen Gefilde in seinen Hirtengedichten. Er hatte Arkadien nie gesehen und auch nie die wirklichen Bewohner des Landstrichs kennen gelernt. Aber er studierte Aufzeichnungen der alten Hellenen über Arkadien. In seinen Augen erstand ein neues Arkadien, ein Land des Überflusses und der Harmonie. Grüne Gärten, Wiesen, Bäume, dazwischen Vögel und wilde Tiere in friedlicher Eintracht und Hirten, die sich als Wächter des Paradieses gerierten. Natürlich stand für Vergil das antike Italien Pate für sein literarisches Arkadien.
Im Mittelalter vergaßen die Menschen Arkadien und die Idee der natürlichen Harmonie von Natur und Mensch. Erst mit der Renaissance entdeckten die Künstler das Sujet der arkadischen Gefilde wieder. Arkadien wurde zum Leitthema der höfischen Kunst. Später im Barock kam es zu einer Steigerung. Arkadien wurde als ein verfeinertes Lebensgefühl begriffen. Barockkünstler gestalteten Schlösser und Parks im Sinne arkadischer Naturverbundenheit. Schäferspiele, Picknicks im Grünen, Kammermusik in Gartenpavillons und kunstvolle Blumenarrangements, dazu die zeitgemäße Malerei, deren Vertreter unzählige arkadische Landschaften auf die Leinwand zauberten und eine Musik, die versuchte sphärische Harmonien zu erzeugen und dabei die verzückten Zuhörer in eine idealisierte Welt zu entführen. Das barocke Arkadien hatte mit dem antiken Arkadien nicht mehr viel zu tun.
Später lebte Arkadien als ein schwacher Widerhall der barocken Pracht in den bürgerlichen Vaudeville-Gartentheaterstücken fort. Die Romantiker ließen ihre blaue Blume in einem arkadischen Garten erblühen und fügten der Idee der friedlichen Eintracht noch den Gedanken der Vergänglichkeit aller Schönheit hinzu. Melancholie durchzog die arkadischen Gefilde. Heute ist Arkadien vergessen. Nur ein paar Geschichtskenner und Kunstliebhaber können mit dem Begriff noch etwas anfangen. Eigentlich schade …
Vor meiner Tür die Trauerweiden auf dem Damm,
früh legt der Morgen um sie eine Nebelschicht.
Steh‘ an der Brücke, sprech‘ die Wandrer an,
sehn‘ mich ins Uferdorf, besonnt vom Abendlicht.
Qi Bai Xi 1920
Potsdam, Havelufer der Berliner Vorstadt
Freitag, 22. Dezember 2006
Eigentlich waren es Blesshühnchen, die an dem trüben Vormittag auf der Havel herumpaddelten. Kleine, schwarze Vögelchen mit einem weißen Fleck, eben der Blesse, überm Schnabel. Hastig schwammen sie in der kleinen Ausbuchtung der Havel hin und her. Der Grund für ihre Aufregung war eine große, dunkle Gestalt am Ufer. Aus einem alten Baumwollbeutel holte der Mann im Mantel Brotreste hervor, zerkleinerte sie bedächtig und warf sie ins Havelwasser. Jedes Mal, wenn er wieder eine Handvoll Brösel mit Schwung ins Wasser beförderte, stürzten sich die Blesshühnchen gierig auf die Leckerbissen.
Es war einer dieser kalten, trüben Dezembertage, die bei vielen Menschen eine Winterdepression hervorriefen. Auch die Aussicht auf die nahen Feiertage konnte das unbestimmte Gefühl von Melancholie nicht lindern.
Der Mann, der am Ufer stand und den schwarzen Vögelchen bei ihrer Hatz nach den Brotkrumen zusah, hatte seinen Hut tief ins Gesicht gezogen. Seine Miene war nur zu erahnen. Die Brille verwehrte den direkten Blick in seine Augen.
Er kam nun schon seit drei Wochen jeden Vormittag an diese Stelle. Mal waren Stockenten da, mal kamen auch ein paar stattliche Havel-schwäne vorbei, Blesshühnchen gab es immer. Möwen segelten über dem Futterplatz und fischten ebenfalls nach den begehrten Happen. Ein Beobachter, falls es ihn den gäbe, bekäme den Eindruck, dass sich hier ein Ritual vollzöge. Alle Handgriffe des Entenfütterers wurden bedächtig und sorgfältig gemacht, als ob es gälte, einem omi-nösen Flussgott zu opfern, dessen Diener, als Vögel verkleidet, die Opfer-gaben freudig annahmen. Fast eine Stunde stand der Mann am Ufer und beobachtete die Wasservögel bei ihrem Tun. Wind bauschte seinen Mantel wie ein dunkles Segel. Erstaunlicherweise saß der schwarze Hut fest auf seinem Kopf und schien den physikalischen Gesetzen zum Trotz dem Havelwind keinerlei Widerstand entgegenzusetzen.
Ein Blick auf die Armbanduhr, der Entenfütterer rollte seinen Baum-wollbeutel zusammen und spazierte Richtung Glienicker Brücke weiter.
Etwas hatte seine Aufmerksamkeit gefordert. Drüben am anderen Havelufer, auf der Glienicker Seite, die bereits zur Stadt Berlin gehörte, waren Blaulichtfahrzeuge auf der Havelpromenade zu sehen. Das nervöse Aufzucken der blauen Rundumleuchten zerstörte die stille Harmonie des trüben Dezembertags. Missmutig wandte sich der Entenfütterer ab.
Kein Tag ohne Blaulicht!
Er hasste inzwischen die Fahrzeuge, obwohl er wusste, dass ihr Einsatz über Leben und Tod entscheiden konnten. Aber es waren einfach zu viele geworden. Früher gab es mal ein oder zwei Einsätze, die durch die Straßen Berlins jagten. Jetzt kamen sie im Stundentakt. Als ob der normale Verkehr nicht schon genug für Hektik sorgte!
Kopfschüttelnd bröselte er die letzten Krumen ins dunkle Havelwasser und stapfte davon. Inzwischen waren neben den roten Feuerwehrfahrzeugen auch weiße Rettungsfahrzeuge eingetroffen. Er konnte die silber-grünen Autos der Berliner Polizei erkennen. Es schien wohl doch ein mittlerer Katastropheneinsatz zu sein.
Wer weiß, vielleicht war ein unvorsichtiger Mensch ins kalte Havelwasser gefallen. Einen Verkehrsunfall konnte man an diesem Ort ausschließen. Die kleine Havelpromenade war nur für Radfahrer und Fußgänger zugänglich.
Der Entenfütterer kannte die andere Uferseite ebenso gut wie die hiesige. Ihm war das gesamte Areal vertraut. Er liebte die Gegend, die geprägt war von den prächtigen Kulissen der Hohenzollernschlösser und der dazu gehörigen Parklandschaften. In den Hochglanzprospekten der Tourismusbranche wurde die gesamte Region auch als das preußische Arkadien bezeichnet.
Der Mann im schwarzen Mantel wusste über die Bezeichnung der Unterhavelseenlandschaft Bescheid. Er verfolgte die Publikationen zu den alten preußischen Bauten in Potsdam, Berlin und deren Umgebung aufmerksam. Bei seinen Spaziergängen durch die Parklandschaft kehrte er oft in den kleinen Souvenirläden ein. Die Verkäuferinnen kannten ihn. Jedes Mal, wenn etwas Neues auf dem Markt erschien, benachrichtigten sie ihn. Dankbar kaufte er alles, was ihm angeboten wurde. Zuhause hatte er innerhalb von zehn Jahren eine beachtliche Bibliothek aufgebaut.
Aber im Moment war das nicht so wichtig. Der Entenfütterer war unglücklich. Alles hatte für ihn seine Bedeutung verloren. Der große Mann fühlte sich leer und ausgebrannt. Eine Erkenntnis, die außer ihm selbst noch niemand bemerkt hatte. Sein Äußeres wirkte wie immer auf seine Mitmenschen vollkommen harmonisch und ausgewogen. Weder sein Gesichtsausdruck noch seine Körpersprache verrieten seinen inneren Zustand.
Seine Situation hatte etwas mit seinen Nachmittagsterminen zu tun. Jeden Tag fuhr er mit der S-Bahn von Potsdam zurück nach Berlin-Mitte, stieg im Bahnhof Friedrichstraße aus und lief ins Charité-Viertel. Dort lag in einem Zimmer der Neurologie eine Frau. Kabel führten zu diversen Apparaten, die auf kleinen Displays zitternde Kurven erzeugten und ein Sauerstoffschlauch sorgte für Luftzufuhr. Die Frau lag im Koma.
Pünktlich