Radieschen von unten. Marie Kastner
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Wir waren vor knapp zwei Jahren dennoch froh über sein Ausscheiden, weil die beiden Streithammel sich sonst höchstwahrscheinlich bald gegenseitig umgebracht hätten. Und wer möchte schon irgendwann eine Leiche, der eine Hacke im Kopf steckt, im Gewächshaus finden? Der ›Rosenkrieg‹ war bei denen buchstäblich zu nehmen.«
Weichelt beendete seine Notizen, nahm den Blick vom Monitor und wandte sich ihr zu.
»Dann werden wir wohl als erstes bei Gerald Schönhoff nachfragen müssen. Vielen Dank, dass Sie hergekommen sind, Frau Bilcher. Wir melden uns, sobald es etwas Neues gibt. Oder falls weitere Fragen auftauchen sollten.«
Jeanette Bilcher machte indes keine Anstalten, zu gehen.
»Ja … und wie lange kann sowas dauern? Es ist so viel Arbeit liegengeblieben, dass ich mich schier zerteilen könnte. Der Azubi hängt mangels Aufgabenzuteilung nur faul herum und daddelt auf dem Smartphone. Der kann halt noch nicht alles, benötigt für jeden Dreck Anleitung und Aufsicht.
Wir brauchen die Lara dringend. Solange kein Mensch weiß, ob, beziehungsweise wann sie zurück in den Betrieb kommt, wird natürlich niemand Neues eingestellt. Diesen Dauerstress packe ich nicht mehr lange«, jammerte die Brünette.
»Das kann ich Ihnen nicht beantworten, schon gar nicht jetzt gleich. Wir müssen uns erstmal ein eigenes Bild machen, herausfinden, ob sie wirklich vermisst wird. Womöglich hatte sie einen Unfall und liegt im Krankenhaus. Oder jemand aus der Familie weiß eben doch, wo Lara sich momentan aufhält. Wir werden das alles nachprüfen«, beschied ihr der Polizist.
Sie trollte sich augenrollend, und Weichelt sah allmählich klar, was der wahre Grund für ihr Auftauchen gewesen sein mochte. Bilchers zur Schau gestellte Sorge um die wenig nette Kollegin hielt sich in Wirklichkeit in engen Grenzen. Vermutlich durfte sie einfach nicht freinehmen, solange die Schönhoff unentschuldigt fehlte, weil sie sie vertreten musste.
Unglaublich, diese verlogene Augenwischerei. Dass die meisten Leute sich aber auch edelmütiger darstellen müssen als sie es tatsächlich sind, dachte der Beamte angewidert.
Das war das Allererste gewesen, woran er sich im Polizeidienst hatte gewöhnen müssen. Man wurde während der Erfüllung seiner Pflichten unablässig angelogen.
*
08. Mai 2019, Kanareninsel La Palma, Playa de Nogales
Der Fußweg zu diesem einsamen, von Felsen und Klippen eingerahmten Strandabschnitt im Ostteil der Insel war vergleichsweise beschwerlich gewesen.
Um hierher zu gelangen, musste man in der Ortschaft Puntallana parken und fünfzehn Minuten einem Pfad durch die Wildnis folgen. Der atemberaubende Blick aufs azurblaue Meer, der sich Urlauberin Marit jetzt beim Hinabsteigen einer Steintreppe darbot, entschädigte sie doppelt und dreifach dafür. Ihre nette Pensionswirtin hatte Recht behalten, das Panorama war einzigartig.
Marit hatte auf dem Hinflug viel über La Palma gelesen.
Diese Insel war wegen ihrer Steilküsten bislang vom Massentourismus verschont geblieben und wurde in erster Linie von Naturfreunden, Surfprofis und Individualisten besucht. Sie galt mit ihren ausgedehnten Lorbeer- und Kieferwäldern als waldreichste der sieben kanarischen Inseln und war, genau wie der Rest dieses Archipels, vulkanischen Ursprungs. Die zerstörerische Naturgewalt hatte sich in diesem Fall auch schöpferisch betätigt.
Nur an einigen wenigen Stellen schien es überhaupt möglich zu sein, im Atlantik schwimmen zu gehen. Sandstrände waren Mangelware. Dieser Umstand hatte die Insel vor den sonnenhungrigen Urlauberhorden bewahrt. Hier gab es keinen quirligen Teutonengrill und keine lauten Strandbars.
Umso schöner, dass sie nun einen der Sandstrände gefunden hatte, auch wenn er nicht besonders breit war. Außer einer Handvoll junger Surfer und einem schwer verliebten Pärchen, das sich auf seiner überbreiten Strandmatte sonnte, war niemand da.
Herrlich … auf besoffene, grölende Ballermann-Touristen mit Eimern voller Alkohol konnte sie wirklich verzichten.
Während sie sich ein Plätzchen zum Chillen auf dem feuchten schwarzen Sand suchte, musste sie unwillkürlich an Bernd denken, der jetzt im verregneten Wernigerode Dienst schob. Selber schuld, sie hatte ihn mehrmals gefragt, ob er mitkommen wolle. Aber nee, der Herr hatte angeblich Wichtigeres zu tun, vieles zu regeln. Jedenfalls hatte er ihr seine Absage mit haargenau diesen Worten verkauft und sie damit, wenn auch wahrscheinlich unabsichtlich, vor den Kopf gestoßen.
Nach allem, was kurz zuvor gewesen ist … wieso klebt Bernd ständig in der problembehafteten Vergangenheit fest, anstatt nach vorne zu schauen?
Was könnte denn wichtiger als ein gemeinsamer, wohlverdienter Urlaub sein … Marit kannte leider die Antwort.
Die Exfrau in spe und seine Kinder aus erster Ehe. Verflucht noch mal. Wehe, du warst verheiratet und hast Kinder in die Welt gesetzt. Dann hast du nie wieder deine Ruhe, wirst emotional an der langen Leine festgehalten und darfst dich finanziell bis auf die Unterhosen ausziehen lassen.
Bernd sollte Familie und Ex-Partnerin langsam mal ein paar Grenzen setzen, anstatt sich dauernd herumschubsen zu lassen. So taff wie er sonst ist, hier lässt er sich zu viel gefallen, dachte sie ironisch.
Sie stellte ihren Rucksack ab und setzte sich, so weit wie möglich von dem händchenhaltenden Paar entfernt, auf ihr Handtuch und starrte in die Wellen, beobachtete angetan, wie sie sich aufbäumten, schäumend brachen und gegen die Felsen tosten.
Ihr Blick blieb bald an einem gut gebauten Mann hängen, der mit seinem kunterbunten Surfboard am Meeressaum stand und sich anschickte, sich todesmutig in die hohen Wellengebirge zu stürzen. Seine Begleiter feuerten ihn an, waren ebenfalls voll bei der Sache.
Marit beobachtete, wie die Wassertropfen auf seinen braungebrannten Schultern im Sonnenschein funkelten, so als wären es Diamanten. Die dunkle Haut bildete einen faszinierenden Kontrast zum weißblonden Haar, das er nackenlang trug. Die Oberarme waren aufwändig mit Maori-Tattoos verziert.
Wie alt mochte er sein? Fünfundzwanzig vielleicht? Der Optik nach stammte er nicht von hier, eher schon aus Dänemark oder Schweden. Allerdings schien seine Bräune derart gleichmäßig zu sein, dass ein Wohnsitz auf der Insel nahelag. All das schoss der deutschen Kriminalpolizistin, bei der genaue Beobachtung samt nachfolgender Analyse des Gesehenen zum normalen Alltagsablauf gehörte, binnen Sekunden durch den Kopf.
Mit einer geradezu graziösen Bewegung legte sich der ansehnliche Nordmann auf das Board, beförderte es mit kräftigen Zügen seiner muskulösen Arme aufs Meer hinaus.
Wusste der Geier, wie er es hinkriegte, sich auf dem schwankenden Brett gekonnt aufzurichten und dabei nicht einmal unbeholfen auszusehen. Der mutmaßliche Skandinavier surfte also bestimmt schon sein halbes Leben, ihm schienen selbst haushohe Wellen keine Angst mehr einzujagen.
Nun kam so ein Mega-Brecher auf ihn zu, drohte ihn und sein Board zu verschlingen. Einen Moment verlor Marit ihn aus den Augen, dann sah sie ihn anmutig im Wellentunnel dahingleiten. Ein wunderschöner Anblick, der Marit vollkommen fesselte. Das glänzende Wasser war fast durchsichtig, wirkte wie flüssiges blaugrünes Glas. Gischt schäumte weiß.
Dann war der Augenblick urplötzlich vorüber, die Welle fiel in sich zusammen, und der attraktive Surfer kam wenig später nass, aber