Sommerleithe. Klaus Weise

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Sommerleithe - Klaus Weise

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der real existierende Sozialismus, dessen Drangsale er einatmen musste, ohne sich durch Ausatmen Freiheit verschaffen zu können, hatte ihn in Erstickungsanfälle und aus dem Bett meiner Mutter ins Bett auf dem Dachboden getrieben – konnte er in der frischen und befreienden Luft des Westens, in der Luft von Marktwirtschaft und Demokratie, über Nacht ablegen. Aber der Dür, dem Baul und dem Dod konnte er auch hier, sein Leben lang, nicht entrinnen. Aus Liebe zu seiner Heimat? Vielleicht. Später aus Sehnsucht nach seiner Heimat? Auch vielleicht. Aber gewiss aus dem Verlangen nach einer glücklicheren Kindheit, als er, der Vaterlose, sie erlebt hatte. Die Kindheit lag lange zurück, und wenn seine Mutter ihn als letztgeborenes und damit überflüssiges Kind von vielen nicht so geliebt hat, wie er sich das wünschte, so blieb ihm zumindest die Geborgenheit in der Muttersprache und ihrem geliebten Klangbild erhalten. Als Liebessehnsucht, als Liebesbekundung und Liebesersatz hat er sie mitgenommen in sein Leben. Und immer war er glücklich, sein Gesicht entspannte sich, und er strahlte, wenn er sich in der Muttersprache suhlte und in ihr den Weg zurück in den Mund und den Schoß seiner Mutter fand.

      Sein Vater war sprachlos. Er wurde vor der Geburt meines Vaters erschossen. Fürs Vaterland. Im Ersten Weltkrieg. Beide haben sich nie gesehen, nie kennengelernt. Und so konnte der Sohn nie die Sprache seines Vaters, die Vatersprache, erlernen. Er, der Vater- und Vatersprachlose, musste sich beides selber beibringen. Den Vater und die Vatersprache.

      Seine Mutter habe ihn, wie er mehrmals versicherte – zumindest könne er sich daran nicht erinnern –, nie auf den Arm genommen. Und sollte sein Vater im Moment des Todes und danach sein toter Körper, der im Schlamm und Matsch des Schlachtfeldes vermoderte, versucht haben, väterliche Gedanken und Gefühle zurück in die Heimat zu senden, so wurden diese im Kugelhagel erschossen, von Bajonetten zerfetzt und vom Giftgas erstickt. Allein ein großes väterliches Vakuum hat überlebt.

      Die Hoffnung, von seiner Mutter geliebt zu werden, blieb Herzschmerz. Einmal, so erzählte er, sei er im Winter durch das zu dünne Eis des Münchenbernsdorfer Dorfteiches – oder war es einer der familieneigenen Fischteiche? – ins eisige Wasser eingebrochen. Er konnte sich retten, denn der Teich war nicht sehr tief und die Kälte stärker als die Angst vor Schelte. Da rannte er nach Hause und wurde von seiner Mutter zum einzigen Mal in seinem Leben in den Arm genommen. Dann hat sie ihm die nassen Kleider ausgezogen und ihn und seinen Körper warmgerubbelt. Das sei so schön und so wohltuend gewesen, dass es nie hätte aufhören sollen. Doch es hörte auf, und er bekam trockene Kleider angezogen. Wenn etwas sei, habe sie gesagt, könne er immer zu ihr kommen. Und was, wenn nichts sei?

      Das ist seine Version. Eine andere lautet gegenteilig: Er als Jüngstgeborener sei das Nesthäkchen der Familie gewesen, an dem, da er nie seinen Vater kennengelernt hatte, Wiedergutmachung zu leisten sei, und mit dem zweitjüngsten Bruder Edwin habe er sich so manches herausnehmen dürfen, das den anderen Geschwistern verboten war.

      Seine Mutter, mit dem seltenen Vornamen Prisca, hatte, als ihr Mann im ersten Kriegsjahr, im November 1914, an der Westfront fiel, bereits vier Kinder bei oder nach der Geburt verloren. Es blieben ihr sechs Söhne und eine Tochter: Walter wurde Böttcher und Fischzüchter; Fritz, der Mann von Tante Frieda, die aus Elmshorn stammte und von einem Oberkellner in Hamburg ein uneheliches Kind hatte, genannt Nickel, hervorragende Rote Grütze mit Vanillesoße zubereitete und als eines der ältesten SPD-Mitglieder mit über einhundert Jahren gestorben ist, arbeitete als Böttcher in Elmshorn; Rudolf, genannt Rudel, schlug eine höhere Beamtenlaufbahn ein; Marie, die Fritz Hemann heiratete, der eine Schokoladenfabrik in Leipzig gründete, Geld und ein Auto hatte, aber keinen Führerschein, dafür einen Chauffeur, von dem er sich und seine Frau, also Tante Marie, jeden Sonntag zum Pferderennen fahren ließ, um auf Sieg oder Platz zu setzen; Erich, der das elterliche Gasthaus Hotel Alt-Thüringen betrieb und die SPD-Mitgliedsnummer 1008 (Bezirk Ostthüringen?) trug und Friedas jüngere Schwester Irma ehelichte; Edwin, der Zweitjüngste, geboren 1910, der nach dem Abitur Textilingenieur wurde (in Münchenbernsdorf gab es eine Teppichfabrik, die ihre Produkte mit dem Spruch «Münchenbernsdorfer Teppiche und Läufer / finden in der ganzen Welt ihre Käufer!» bewarb; unter den Nazis arisiert, wurde sie in der DDR dem Volk übereignet), Kommunist war, Zither, Geige und Klavier, das extra für ihn gekauft wurde, spielen konnte und während der Nazizeit sein kommunistisches Parteibuch und Flugblätter hinter der Telefonkabine im großen Ern der Gastwirtschaft versteckte, wofür sein älterer Bruder Erich für einige Zeit ins Gefängnis kam, weil Edwin, als die Nazis beides, also kommunistisches Parteibuch und feindliche Flugblätter, bei einer Hausdurchsuchung entdeckten, untergetaucht war; und schließlich mein am 12. November 1914 als jüngstes Kind der Familie Weise geborener Vater Hans Herbert, der Mediziner, genau genommen Chirurg, werden wollte und, als er das nicht durfte, Frisör, was er aber auch nicht durfte, da er Metzger werden musste, mit der Begründung seiner Mutter: «Essen müssen die Leute immer, auch im Krieg, zum Frisör gehen nicht.» Ihr Mann war, wie gesagt, im Ersten Weltkrieg gefallen. Nicht gut. Nein. Schrecklich. Aber im Krieg fallen viele. Im Zweiten Weltkrieg fielen auch ihre Söhne Walter, Fritz, Rudel und Edwin. Edwin hat zu Weihnachten 41/42 eine Postkarte aus dem Russland-Feldzug in die Heimat gesendet, die aus geplätteter und getrockneter Birkenrinde bestand. Dies war sein letztes Lebenszeichen. Diese Postkarte aus Birkenrinde war etwas Besonderes. Sie hing in unserem Wohnzimmer in der Sommerleithe, auf dessen Fußboden ausnahmslos Teppiche aus dem dreißig Kilometer entfernten Geburtsort meines Vaters lagen. Einige Jahre später, im Westen, war der Fußboden in unserer Wohnung ausschließlich mit Kibek-Teppichen aus Elmshorn ausgelegt, dem Herkunftsort der Kölln-Haferflocken und zweier Schwestern, die vor dem Krieg von zwei Brüdern meines Vaters geheiratet wurden. Zwei Brüder, zwei Schwestern, zwei Hochzeiten – und Teppiche aus zwei in der ganzen Welt berühmten Ortschaften: Münchenbernsdorf und Elmshorn.

      Der Beruf des Vaters meines Vaters war Böttcher – in manchen Gegenden auch Küfer genannt. Er war zwar wichtig für das Herstellen von Fässern, wurde aber Anfang des 20. Jahrhunderts zusätzlich benötigt für die Kanalisation, weil Holzrohre billiger waren als Rohre aus Blei oder Eisen. Das Herstellen dieser hölzernen Wasser- und Abwasserrohre warf wohl gutes Geld ab, gemehrt durch Besitz und Betreiben von Gaststätte, Bauernhof und Fischteichen; selbstgezüchtete Fische wurden auf dem freitäglichen Fischmarkt verkauft, und in einem Eishaus wurden im Winter die aus den zugefrorenen Teichen geschnittenen Eisblöcke eingelagert, um sie im Sommer, sofern nicht zur Kühlung eigener Lebensmittel benötigt, zu verkaufen. Hinzu kamen Weideland, Ackerland, Wald und Jagdrevier, die, konnten sie nicht selber bewirtschaftet werden, verpachtet wurden, zum Beispiel an den Bauern Schindler. So kamen die Eltern meines Vaters zu einigem Wohlstand.

      Die Familie fuhr einen Opel P4. Doch damit des Luxus nicht genug: Einmal im Jahr veranstaltete Mutter Prisca Weise im Saal der Gastwirtschaft eine private Modenschau, zu der sie das Modehaus Esch aus Gera anreisen ließ. Prisca, Bürgermeistertochter aus St. Gangloff, war nicht nur eine leidgeprüfte alleinerziehende Mutter von sieben Kindern, sondern auch eine umtriebige und erfolgreiche Geschäftsfrau; eine vermutliche starke Person, die den deutsch-französischen Krieg, zwei Weltkriege, die Weimarer Wirren, Weltwirtschaftskrise und Inflation, die Zeit des Nationalsozialismus und den Sozialismus der DDR miterleben, ertragen und aushalten musste. Ob sie politisch engagiert war und die jeweils herrschenden Systeme im Rahmen ihrer Möglichkeiten als alleinerziehende Mutter und Geschäftsfrau mitgestaltet oder unterlaufen hat, ob sie Mitläuferin oder im inneren oder – eher unwahrscheinlich – offenen Widerstand war, entzieht sich meiner Kenntnis. Altersbedingt hatte sie keine Chance, das Regime der DDR zu überleben. Es existiert von ihr ein Porträt, das ich nicht zu entschlüsseln vermag. Darauf wirkt sie vom Leben gezeichnet, ein wenig verhärmt. Vermutlich bringt das Bild ihre Lebenserfahrung zum Vorschein. Aber wenn man das Bild mit ein wenig liebevollen Augen betrachtet, kann man ein verschmitztes Lächeln entdecken, das so etwas sagen will wie: «Ja, ich habe vieles erlebt – und überlebt.» Schade, dass ich sie nicht kennenlernen konnte.

      Im Zuge der Begeisterung für den oder aus Angst vor dem Nationalsozialismus erstellte Walter, der älteste Bruder meines Vaters, einen Stammbaum, der die arische Reinrassigkeit der Weises bis zum Dreißigjährigen Krieg nachweisen konnte. Dokumente, die weiter in die Vergangenheit hätten vordringen können, seien, wie fast alles in diesem Krieg,

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