Sommerleithe. Klaus Weise

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Sommerleithe - Klaus Weise

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bis auch ich es merke?

      Doch mit diesen Fragen würde ich mich nicht mehr allzu lange beschäftigen können. Denn ein riesiger Berg, langsam, aber unaufhaltsam, schob sich auf mich zu. Um mich unter sich zu begraben.

      Ich versprach Klaus, noch heute Abend im Geheimen mit ihm Westradio zu hören. Aber das bewegte ihn nicht. Ich versprach ihm mein Taschengeld. Auch das überzeugte ihn nicht. Er stand da wie angewurzelt. Schaute in eine andere Welt. Er sah … ja, was sah er? Er sah mich. Inmitten der Sachen, die immer hier oben hängen. Woher also sein geistesabwesender Blick? Und wenn der Geist abwesend war, wo war er anwesend? Was, verdammt noch mal, konnte er sehen, was sich meinen Augen verschloss? Klaus war nicht zu bewegen – und so bewegte er sich auch nicht. Es blieb und es bleibt sein Geheimnis, was er sah. Offenbar etwas zuvor nie Gesehenes.

      Lag es daran, dass er von unten heraufguckte, ich jedoch von oben hinunter? Konnte es sein, dass ich genauso schaute wie er und unsere Blicke in Wirklichkeit nicht zwei, sondern ein Blick waren und jeder mit demselben Blick im andern sein eigenes Entsetzen sah und sich fürchtete?

      Heißer Dampf steigt auf. Doch trotz der Hitze erfriere ich in der Eiseskälte meiner Angst. Im Brühkessel, ganz nah unter mir, beißen sich Schweineköpfe durch die siedende Metzelbrühe – und Renate spielt eine lustige Melodie. Für einen Augenblick denke ich, vielleicht wird noch alles gut. Die Augen der Schweinsköpfe, die bisher zusammengekniffen waren, öffnen sich, und ihre toten Augen sind nicht tot. Sie beginnen zu leben. Ängstliche, um Hilfe flehende Blicke. Doch wie kann ich helfen, da ich selber gleich in den Brühkessel fallen werde, meine Haut im heißen Wasser verbrennen wird und ich im siedenden Sud ersaufe und elendig verende?

      Einige Köpfe beißen sich durch die dampfende Schlachtsuppe, als wollten sie die Wanne, in der sie schwimmen, leer trinken, um die Qualen der heißen, vor sich hin blubbernden Quelle zu beenden, deren Wasser sich mit dem Blut und den aus den abgeschnittenen Köpfen herauslaufenden Säften mischt. Andere prusten die heiße Brühe wie Fontänen in die Luft, um sie aus dem Kessel zu pumpen. Rüssel und Schnauzen, deren Backen frisch gekocht und gesalzen so wunderbar schmecken, beginnen zu quieken, zunächst ganz leise und zart, wie frisch geborene Ferkel, die man am liebsten auf den Arm nehmen möchte, doch dann sich steigernd in den Todeskampf, als sähen sie das Schlachtermesser auf sich zukommen, als spürten sie den Stich, als sähen sie, wie das Messer blutig aus der Wunde herausgezogen wird, verfolgt vom roten sprudelnden Blutstrahl, den das pumpende Herz dem Messer auf seiner Reise zur nächsten Sau hinterherschickt und der nach einiger Zeit gemeinsam mit dem Leben erlischt – ein müdes Rinnsal, das am Boden klebt und sich festhält und bleiben will. Bis es von einem Wassereimer in die Unterwelt der Kanalisation gespült wird.

      Doch noch reißen sie die Schnauzen auf, strecken die Zungen hervor, die später zu Zungenwurst verarbeitet werden, und kämpfen und kämpfen, um nicht zu ersticken, zu verbrühen, zu sterben. Will der Gott der Schweine, dass ich geopfert werde, mich selber opfere, um sie zu erlösen? Warten sie darauf, dass ich in den Kessel falle, damit sie mich – ein Opfer ist nur Opfer, wenn es verspeist wird – fressen und sich retten können? Mich, der ich zur Stelle war, wenn Oswald und mein Vater mit nackten Händen die heiße Schwarte des Rüssels und die Schweinebacken vom Schädel streiften, und darauf wartete, dass mir mein Vater, nachdem er es ein wenig gesalzen hatte, vom weichen und sehnigfeuchten Fleisch der Schweinebacke zu probieren gab. Kopffleisch zu essen – war das meine Sünde, für die ich nun büßen musste? Klaus sah, was ich sah, hörte, was ich hörte – und musste mit mir büßen.

      Über allem erklang der Lärm von Renates Akkordeon, als ginge es darum, das von heißem Dampf aus dem Brühkessel emporgetragene Sauenquieken in seiner Schrecklichkeit noch zu übertönen. Ich beneidete Renate. Auch wenn die Musik, die sie aus dem Akkordeon quetschte, die Musik der Hölle war. Doch sie spielte und spielte und war nicht hilflos ausgeliefert, so wie ich. Ich war mir sicher, ich wusste: Mit einer anmutigen und lieblichen Melodie, einem einfachen, das Herz berührenden Lied, hätte sie das Schweinegequieke, die Musik der Hölle, verstummen und mich und meinen Bruder in schönere und von einer gütigeren Sonne als der abgestumpften Lampe über dem dampfenden Sudkessel beschienene Gefilde entschweben lassen können.

      Festhalten, aushalten, halten … Mir blieb nur eine Möglichkeit, mich zu retten. Ich musste mich selber retten. Aber wie?

      9.

      Der Vatersprachlose. Was ist, wenn nichts ist?

      Mein erstes Königreich war unser Zuhause. Ein kleines Haus mit Vorgarten, Garten und Garage. Meine Eltern hatten es vor meiner und nach der Geburt meiner Schwester erworben, also zwischen 1946 und 1951. Es lag am Stadtrand von Gera, dort, wo die Stadt sich verliert, ausfranst in die Bauernhöfe, Felder, Weiden und Wälder Thüringens, die sie schleichend mit dem vergifteten Blut ihrer Adern durchtränkt und mit ihren Fangarmen, die sie in die Natur treibt, erwürgt, um aus den Kadavern der alten Zeit die neue mit ihren Plattenbauten in den Himmel schießen zu lassen.

      Meine Eltern, beide mit Volksschulabschluss, waren arbeitsam. Meine Mutter Blumenverkäuferin, mein Vater Fleischermeister. Das Ergebnis ihres Fleißes war eines der Häuser, die nach dem Ersten Weltkrieg von einem gemeinnützigen Bauverein für Kriegsbeschädigte gebaut wurden und Gartenbewirtschaftung und Kleintierzucht ermöglichten. Die Straße trug und trägt den Namen Sommerleithe. Sommerleithe 15. Für mich war Sommerleithe das wohlklingendste Wort der Welt. Und ist es bis heute. Ich kann es gar nicht oft genug aussprechen: Sommerleithe. Nicht mit dem protestantisch-prosaischen t, sondern mit einem lyrisch-romantischen th. Die Sommerleithe war die Leitplanke des Glücks. Sie flankierte den Sommer meiner ersten Lebensjahre; als sie weg war, war alles weg, was mir vertraut war und was ich liebgewonnen hatte. Was mir Heimat war, wurde zerrissen wie ein soeben beschriebenes Blatt Papier, das – die Tinte ist noch nicht getrocknet – zerrissen und weggeworfen wird und dessen eine Hälfte das Abwasser in die Kanalisation spült und dessen andere der Wind in den Himmel verweht. Jedes Mal werden meine Augen feucht, und ich verfalle in Schwermut und Trauer um die verlorene Zeit, denke ich an diese Königin unter den Wörtern.

      Auch wenn er schon lange tot ist, sehe ich das Gesicht meines Vaters vor mir, habe seine weiche, fast zärtliche Aussprache im Ohr, wenn er sich – auch viele Jahre nach der Flucht in den Westen – bemühte (und es nie schaffte), die harten und scharfen Konsonanten von den weichen zu unterscheiden, um die weichen nicht hart und die harten nicht weich auszusprechen. Doch Sommerleithe klang bei ihm stets wie Sommerleidhe, niemals anders. Ich sehe das angestrengte Bemühen in seinem Gesicht, sehe, wie sich sein Mund verzieht und die Lippen sich verformen, ganz so, als wollte er meine Mutter küssen, damit es ihm zumindest dieses eine Mal gelinge, ein t wie ein t, ein p wie ein p klingen zu lassen und nicht wie d und b. Es ist ihm nie gelungen. Tür klang immer wie Dür, Paul wie Baul, tot wie dod und Tod wie Dod. Allerdings bestand er darauf, dass er diesen Unterschied, der in den Ohren der Zuhörer niemals einer war, diesmal deutlich hervorgehoben habe und wir diesen deudlichen Underschied doch hören müssden – ein Handicap nicht nur für meinen Vater, sondern auch, wie sich später beim Dikdad im Deudschunderricht auf dem Gymnasium herausstellen sollte, für mich. Im wechselvollen Leben meines Vaters war, anders als im vielleicht noch wechselvolleren meiner Mutter, seine eigenwillige Aussprache die konstanteste, zumindest aber die dauerhafteste Begleiterin. Die Ausschläge seines Dialekts waren enorm. Zumindest für ihn. Nie für die anderen. Auch wenn er glaubte, zwei Sprachen zu sprechen, Thüringisch und Hochdeutsch, so war und blieb es doch immer nur Dhüringisch.

      Von seiner Heimat konnte er sich trennen – entschied sich dazu, als wir in den Westen flohen –, aber nie von seiner Sprache, von ihrem Wohlklang, ihrem Rhythmus und ihrer Melodie. Wenngleich sie sich im Lauf der Jahre ein wenig verschliff und er sich bemühte, sie loszuwerden, um nicht als Flüchtling aufzufallen, erlitt er schwerste, offenbar nie zu therapierende Rückfälle, wenn ihn seine Schwester Marie aus Leibdzsch im Westen besuchte. Das Thüringische schoss aus dem manierlich mit der hochdeutschen Fremdsprache überdeckten Urgrund hervor wie Pilze

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