Sommerleithe. Klaus Weise

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Sommerleithe - Klaus Weise

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zu meiner Freude die magische Geschwindigkeit von 100 km/h anzeigte. 100 km/h, welch eine Geschwindigkeit! Unser Dreirad fuhr höchstens 50 km/h, wenn überhaupt, und knatterte dabei mit einem Höllenlärm vor sich hin, der, wenn das Dreirad hätte sprechen können, bedeutet hätte: Bitte, bitte quält mich nicht, ich kann nicht mehr! Außerdem hätten meine Schwester und ich samt unserem Gepäck auf der Ladefläche sitzen und darauf achtgeben müssen, dass nicht nur wir, sondern auch die Koffer und Taschen in den Kurven nicht hinunterrutschten. Denn wenn das Dreirad, das keine Federung zu haben schien, durch Schlaglöcher fuhr, hopsten wir wegen der Erschütterung jeweils für Momente unfreiwillig in die Luft und wären Gefahr gelaufen, dass in der Sekunde, in der wir mit dem Gepäck ohne Kontakt zur Ladefläche in der Luft schwebten, das Dreirad unter uns und den Koffern hinwegführe und wir auf der Straße, oder – wenn eine Kurve hinzukäme – im Straßengraben landeten und unsere Eltern weiterführen, ohne es zu bemerken.

      Im Wartburg fühlte ich mich sicher, und die schnelle Fahrt bereitete mir Freude. Eigentlich schade, dass Vati keinen Wartburg kaufen konnte, weil der so lange Wartezeiten hatte. Warum uns das Taxi aber nach Ostberlin fuhr und nicht zum Geraer Bahnhof, damit wir von hier mit dem Zug nach Berlin hätten weiterfahren können, blieb trotz der Erklärung der Eltern, so sei es komfortabler, merkwürdig.

      Was soll’s. Jedes Mal, wenn die Tachonadel 100 km/h anzeigte, freute ich mich, denn ich zählte mit, wie oft der Wagen diese ungeheure Geschwindigkeit auf unserer Fahrt nach Berlin erreichen würde. Manchmal kam eine Kurve, ein anderes Mal ein entgegenkommendes Fahrzeug, dann eine Ortschaft, der Fahrer musste abbremsen und ich auf den nächsten Höchstgeschwindigkeitsrausch hoffen. Glückte dieser, schaute ich freudig erregt zu meiner Mutter. Sie lächelte mich an. Doch ihr Lächeln war nicht ehrlich. Auch meine Schwester schien die Freude am Rausch der Schnelligkeit nicht zu teilen. Wusste sie, weil sie älter war, mehr als ich? Es herrschte eine gedrückte Stimmung im Wagen. Mein Vater bemühte sich, sie mit Gesprächen aufzulockern, in die er den Taxifahrer zu verwickeln suchte, doch dieser wollte sich nicht mit überflüssigen Gesprächen von der Konzentration auf die Geschwindigkeit ablenken lassen. Da hatte er natürlich recht. Denn reden konnte man ja immer – so schnell fahren nur höchst selten.

      Es waren schöne Alleen, durch die wir fuhren. Die Bäume, die Wolken, der Himmel, die Landschaft – alles spiegelte sich auf dem Lack der Motorhaube und in der Windschutzscheibe und rauschte an uns vorüber, ohne dass ich mich daran sattsehen konnte. Irgendwann, ich war wohl eingeschlafen, hielt der Wagen an, und ich erwachte. Pipi machen und Butterbrote essen – und schon ging die Fahrt weiter Richtung Berlin. Wir passierten Leipzig, ohne Tante Marie und Onkel Fritz zu besuchen. Wie lange die Fahrt dauerte, die aus irgendeinem Grund über Landstraßen und nicht über die Autobahn führte, weiß ich nicht, aber irgendwann kamen wir in Berlin an. Ich war wieder eingeschlafen und erwachte erst durch die Stille des Motors, der abgeschaltet worden war oder seinen Geist aufgegeben hatte. Verloren wie ein gejagtes Tier am Ende seiner Kräfte, stand unser Taxi auf einem weiten grauen Platz, sichtbar für alle und zum Abschuss freigegeben. Doch die wenigen Autos, die vorüberfuhren, und die wenigen Menschen, die mehr über den Platz huschten, als dass sie gingen, nahmen von uns nicht die geringste Notiz. Weder schienen wir willkommen zu sein noch zu stören. Wir waren nicht vorhanden. Wir existierten nicht.

      Auch den Gebäuden, die mich auf den ersten Blick annehmen ließen, sie umzingelten uns, und wir seien in eine Falle geraten, waren wir gleichgültig – und vielleicht noch nicht einmal das. Wie Verwundete waren sie mit sich selbst beschäftigt. Hilflos. Sollten sie Menschen überhaupt zur Kenntnis genommen haben, dann, um sie abzuweisen. Zu schwer trugen sie an ihrer eigenen Last, als dass sie sich auch noch um Menschen hätten kümmern und sie aufnehmen können. Schon beim Eintreten eines Kindes wären sie in sich zusammengestürzt.

      Aber nicht nur der Wartburg bewegte sich nicht mehr und war stumm, sondern auch wir hielten inne und schwiegen. Die Blicke unserer Eltern waren nicht fröhlich – anders als sonst, wenn wir in Urlaub waren. Belastet. Als erwarte uns etwas Schreckliches. Es herrschte eine gespannte Ratlosigkeit. In der jedes Wort tödlich sein konnte. Also dachte ich nur, ohne es auszusprechen: Was war geschehen?

      «Sind wir schon im Westen?», frug Renate völlig unbekümmert, und in ihrer Stimme klang mit: hoffentlich nicht!

      «Nein. Frag nicht so viel», war die knappe Antwort meines Vaters.

      «Aber in West-Berlin?», bohrte ich nach. Und bekam keine Antwort. Und wunderte mich. Aber meine Frage zu wiederholen, traute ich mich nicht. Also schwieg ich und wartete. Wir würden ja wohl nicht die ganze Zeit auf diesem blöden Platz herumstehen. Zumal es zu regnen begonnen hatte. Komisch, dieser Urlaub. Und wieso fahren wir in den Westen, zu Onkel Willi und Tante Maria, wenn es dort kalt ist? An der Ostsee schien fast immer die Sonne. Ich war mir sicher, dass Renate mehr wusste als ich. Aber ich fand keine Gelegenheit, sie zu fragen, ohne dass die Eltern es gemerkt und ihr die Antwort vermutlich verboten hätten.

      Und was würde Klaus jetzt denken, wenn er dabei wäre?

      5.

      Frau Pavel

      Bevor ich verraten kann, was es in Walter Diercks Lokal abgesehen von den Kondomen und den paradiesischen Gefilden sonst noch zu sehen gab oder auch nicht zu sehen gab – etwas extrem Augenfälliges und von mir nie Gesehenes –, muss ich mich zuerst dem Balkon von Frau Pavel widmen, dem obersten des Hauses, das die Kneipe Im Pütt und deren Wurmfortsatz, die Kegelbahn, beherbergte.

      Das Gebäude war ein Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre errichteter vierstöckiger Neubau und in mehrerlei Hinsicht das genaue Gegenteil des Altbaus, in dem wir wohnten. Dort gab es – jedenfalls stellte ich mir das so vor – gekachelte Bäder mit Dusche, Badewanne und Bidet (wobei ich von einem Bidet nicht die geringste Ahnung hatte, außer dass es, so meine Mutter, «nur etwas für Frauen ist»). Und es gab dort im Gegensatz zu unserem Altbau eine Zentralheizung: keine Ölöfen, wie ich – wer sonst – sie in der kalten Jahreszeit einmal täglich mit je einer Kanne Öl füllen und, waren sie ausgegangen, mit geknickten und aufrecht stehenden wächsernen Ölofenanzünderblättchen neu entzünden musste, ohne dass es dabei zu Verpuffungen, also kleinen Explosionen kam; all dies war nie zu bewerkstelligen, ohne dass ich ein wenig Öl verschüttete und den Rest des Tages mit stinkigen Ölfingern herumlief und den Ölgestank mit den Frühstücksbrötchen und Pausenbroten zerkaute und herunterschluckte.

      Neu an den Wohnungen dieses Neubaus, also auch der Pavel’schen, war zudem, dass sie flache Zimmerdecken besaßen, die nicht, wie in Altbauten damals üblich, durch das Einziehen einer Zwischendecke aus Presspappe erst noch verflacht werden mussten. Über Bedeutung und Wichtigkeit dieser Zwischendecken, die sich damals jeder, der es sich leisten konnte, in seinen Altbau einziehen ließ, war ich mir lange nicht im Klaren. Doch mit dem Einsetzen der Pubertät und einer verschärften gesellschaftlichen Empfindung für die Jahre vor ’68, die verlogenen Jahre, kam ich darauf, dass in diesem über unseren Köpfen schwebenden Zwischenreich der Krieg, seine Verbrechen und die Erinnerungen daran weggeschlossen waren – verbannt in luftiges Vergessen, doch jederzeit bereit, durch die dünne, porös werdende und somit nicht erinnerungsresistente Pappe hindurchzurieseln. Und es rieselte. Und rieselte … bis die 68er-Bewegung, vorbereitet und begleitet von der Beatmusik auf BFBS und Hilversum 3 und mitgeschnitten auf dem Grundig TK17L, dieses Provisorium der Verdrängung zum Einsturz brachte.

      In der obersten Etage dieses Hauses also, dessen rückwärtige Fassade von unserem Garten, der Wurstküche und dem Hof der Metzgerei aus gut sichtbar war, wohnte Herr Pavel mit seiner Frau. Und einem schwarzen Pudel. Herr Pavel betrieb eine Autohandlung, und sein Bauch war noch kugeliger als sein mit Haaren unterversorgter Kugelkopf. Ob er allerdings die Wohnung mit Balkon in der obersten Etage bekommen hat, weil der Hausbesitzer, wie die Kegelbahn im Erdgeschoss zeigt, ein Faible für Kugeln diverser Größen hatte, weiß ich nicht. Auf jeden Fall war Herr Pavel in meiner Phantasie sagenumwoben.

      Erstens

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