Sommerleithe. Klaus Weise

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Sommerleithe - Klaus Weise

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– so freundlich er mir gegenüber war in Gegenwart meiner Eltern –, hatte ich mich, wenn ich mit ihm allein war, immer ein wenig gefürchtet. Außerdem schien er mir, fühlte er sich von mir unbeachtet, etwas Andersartiges auszustrahlen, etwas Finsteres, Verborgenes. Seinem wulstigen Gesicht, seinen wie mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger nach vorne gekneteten Augenwülsten samt wuscheliger Augenbrauen, seinen nach außen gestülpten, viel zu dicken Lippen, den drahtigen kurzen Haaren – die mich immer an den Dutt aus silbernem Draht erinnerten, mit dem Mutti die Tiegel säuberte –, von denen er, obwohl er jünger war als mein Vater, schon viele verloren hatte und unter denen die Schädeldecke hervorschimmerte, aber ganz besonders seinem Lächeln – konnte ich all dem trauen? Oder war es nur eine Verstellung wie bei Rotkäppchen und dem Wolf?

      Nichts half. Weder schlimmere Ängste zu beschwören noch meine verzweifelte Situation mit den bunten Bildern meiner Phantasie zu verzieren und zu beschönigen.

      Was nur, was hatte ich getan? Was verbrochen, dass ich sterben musste? Noch nie hatte ich den Tod gefühlt. Jetzt war er da.

      4.

      «Im Westen ist es kalt»

      Da nahmen mich die Hände meiner Mutter, pflückten mich aus der Krone des Fleischbaumes und legten mich behutsam ins warme Wasser einer Mulde, in der sonst Wurstmassen vermengt, der Glitsch vom Naturdarm gespült, Schweinezungen von behaarten Fleischerarmen ellenbogentief in großkalibrige Kunstdärme gestopft wurden, die gefüllt waren mit warmer, noch flüssiger roter und mit weißen Speckwürfeln versetzter Blutwurstmasse – und in welcher zur Vorweihnachtszeit Mutti den Teig für die Christstollen ansetzte.

      Mein Körper sog das Wasser auf, pumpte sich voll mit Flüssigkeit, die Haut wurde geschmeidig, Schuhe und Kleider wuchsen aus mir heraus, und ich wurde wieder der, als den ich mich kannte. Muttis Hände hoben mich aus der Mulde, das Wasser troff von mir ab, und ehe ich es mich versah, stand ich auf dem Küchentisch – alles war trocken – und wurde von meiner Mutter angezogen. Doppelte Unterhose, doppeltes Unterhemd, ein Hemd, ein Pullover, eine lange Hose und eine warme Jacke. Wieso das? Es war Sommer. Ich frug Mutti, warum ich die Kleider in Schichten übereinander tragen solle, da würde ich doch bestimmt schwitzen, und bekam zur Antwort, in einem Ton, der keine Nachfrage, geschweige denn Widerspruch erlaubte: «Im Westen ist es kalt.»

      Im Westen ist es bestimmt nicht kalt, dachte ich. Denn was sollte ein Urlaub im Westen, bei Onkel Willi und Tante Maria, wenn bei uns zu Hause die Sonne schien?

      Mutti öffnete die Haustür. Draußen auf der Straße wartete schon das Taxi. Und Vati, Renate und der Fahrer warteten daneben. Längst war das Reisegepäck im Wagen verstaut. Ich ließ Muttis Hand los und ging zu ihnen. Doch Mutti blieb vor der Haustür stehen und schaute zu uns. Was ist? Will sie nicht mitkommen? Irgendetwas stimmt nicht. Die Urlaubsfreude fehlte. Vati ging zu ihr, flüsterte ihr etwas ins Ohr und schaute Mutti noch einmal an. Sein Blick war streng. Wo blieb seine ausgelassene Fröhlichkeit, mit der er uns sonst beschenkte, wenn wir in den Urlaub fuhren? Dann kam er zurück zum Taxi.

      Sie schaute ihm nach. Und blieb vor der Tür stehen. Was war geschehen? Wollte sie nicht mit uns in den Urlaub fahren? War sie misstrauisch, weil das Taxi gar nicht wie ein Taxi aussah? Fürchtete sie sich davor, von Vati und Renate diesmal wirklich zu Tode gekitzelt zu werden, wie es letztes Jahr in den Ferien fast geschehen wäre, wenn ich nicht eingegriffen und es verhindert hätte? Mein Vater hatte das Taxi erreicht und schaute noch einmal zurück. Zu ihr? Zum Haus? Würde er jetzt zornig? Aber nichts dergleichen geschah. Auch er stand da. Wir standen einfach alle nur da: Vati, der Taxifahrer, Renate, ich und Mutti. Nur, dass sie woanders stand als wir. Irgendwie waren wir alle ratlos.

      Dann drehte sie sich um und wandte uns den Rücken zu. Was tut sie? Sie schaut auf die Tür. Die sie doch schon so viele Male gesehen hat. Nichts war neu, nichts hatte sich verändert. Die Tür war, was sie immer war. Eine Tür. Eine Haustür. Die Tür zu unserem Haus. Durch die wir nach dem Urlaub unser Haus wieder betreten würden. Und wenn sich sonst nichts verändert hatte – Mutti hatte sich verändert. Mein Vater wurde ungeduldig. Und auch der Taxifahrer wollte nicht länger auf der Straße herumstehen. Er wollte endlich einsteigen und losfahren.

      Würde Mutti jetzt den Hausschlüssel aus der Handtasche nehmen, die Tür aufschließen, ins Haus gehen und sie hinter sich verschließen? Für immer darin verschwinden? Würde Vati ihr folgen, und alles würde wieder werden und bleiben, wie es immer war in unserem Haus? Nur ohne Urlaubsreise. Oder würde er ohne sie wegfahren? Und was geschähe dann mit Renate und mir? Wir schauten uns an. Würden wir bei Mutti bleiben oder mit Vati allein in den Urlaub fahren? Oder sollten wir uns trennen, um weder Vati noch Mutti allein zu lassen? Doch wer sollte bei Mutti bleiben, wer bei Vati? Dann geschah die Erlösung. Mutti drehte sich zu uns um, kam durch den Vorgarten zum Taxi, stieg ein, und wir fuhren los.

      Da geschieht etwas Unerwartetes. Was hat es zu bedeuten? Wir sind noch nicht lange unterwegs, als der Fahrer ein außerhalb von Gera gelegenes Waldschwimmbad ansteuert und hält. Wir Kinder schauen uns an und sind verunsichert. Jetzt steigen wir aus, bekommen von Mutti zwei Badetaschen in die Hand gedrückt, und Vati kauft an der Kasse vier Eintrittskarten. «Zwei Erwachsene, zwei Kinder.» Renate ist beleidigt. Sie ist kein Kind mehr. Zumindest will sie nicht mit mir auf eine Stufe gestellt werden. Vati zahlt. Er hat passendes Geld.

      Man muss sich das vorstellen: Gleich zu Beginn der Reise, lange bevor wir das Urlaubsziel erreichen, gehen unsere Eltern mit uns ins Freibad! Aber weder darf Renate ihren Badeanzug noch ich meine Badehose anziehen.

      «Was soll das?», denke ich bei mir, «warum gehen wir dann ins Schwimmbad?»

      Und schon kommt die Antwort: «Mutti hat zu Hause etwas vergessen, und da ist es doch besser, hier auf sie zu warten, als mit ihr hin- und herzufahren», sagt unser Vater und fügt hinzu: «zumal, wenn ich euch jetzt ein Eis spendiere.»

      Das Eis schmeckt gut. Trotzdem kann ich es nicht genießen. Denn ich befürchte, dass Mutti nicht zurückkommen wird, so komisch, wie sie sich heute früh benommen hat. Sie würde allein in unserem Haus zurückbleiben. Aber warum? Und sie würde traurig sein, dass ich nicht bei ihr bin und sie tröste. Vielleicht würde sie sogar weinen?

      Doch kaum haben wir unser Eis beendet, geschieht erneut etwas sehr Merkwürdiges. «Nehmt die Taschen und folgt mir!», spricht mein Vater, kaum sichtbar die Lippen bewegend, und dann, als habe er sich mit dieser Art zu sprechen verdächtig gemacht oder ein Geheimnis verraten – aber welches? –, in einem Tonfall, der entspannt wirken soll, es aber nicht ist: «Wir suchen einen ruhigen Fleck, an dem wir unsere Decke ausbreiten können.»

      Renate und ich folgen ihm – und sind überrascht, hinter einer Hecke jenseits des Zaunes, der das Waldschwimmbad umschließt, den Taxifahrer zu sehen, der doch Mutti nach Hause und zurück fahren sollte. Was ist passiert? Ein Unfall? Wo ist Mutti? Ist ihr etwas zugestoßen? Ist sie verunglückt? Ist sie tot?

      Der Fahrer nickt meinem Vater zu, und mein Vater nickt zurück. Renate und ich wissen noch immer nicht, was geschehen ist. Der Taxifahrer tritt hinter der Hecke hervor, einer Haselnusshecke, aus deren Ästen und Zweigen sich leicht Pfeil und Bogen schnitzen lassen, geht zu einem Eisentor, schließt es auf, unser Vater befiehlt leise: «Geht!», wir gehorchen, und Vati folgt uns. Der Taxifahrer verschließt das Tor. Vati blickt sich um. Als wolle er sich vergewissern, dass uns niemand beobachtet hat.

      Hinter der Wegbiegung steht das Taxi. Mutti sitzt auf der Rückbank. Ich lasse den Badebeutel fallen und laufe zu ihr. Sie öffnet die Wagentür, ich werfe mich in ihren Schoß und weine. Vor Freude. Und aus Angst. Was dieser merkwürdige Tag, der mit keinem bisher erlebten zu vergleichen ist, noch alles bringen wird.

      Ich saß vorn zwischen Fahrer und Vater, die beiden Frauen saßen hinten. Es muss

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