Sommerleithe. Klaus Weise

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Sommerleithe - Klaus Weise

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ins Leben überschritten – und dafür werde ich bestraft. Weil ich jemand anderem das Leben weggenommen, also gestohlen habe. Das ist der Grund, warum ich im Himmel hänge. Um in die Hölle zu kommen. Aus Gründen der Gerechtigkeit, als Erziehungsmaßnahme des Lebens? Und die Hölle, das kann nur die Räucherkammer unserer Metzgerei sein.

      Wo bleibt Mutti? Wieso kommt sie nicht, nimmt einen Stuhl, stellt ihn unter mich, steigt herauf, hebt mich aus dem Gestänge, umarmt mich, gibt mir einen Kuss, zaubert aus den Seitentaschen ihrer grünen Strickjacke zwei Paar knallroter Kirschen hervor, hängt sie mir über die Ohren, gibt mir einen zweiten Kuss und lächelt mich an? Wieso geschieht nicht, was zu geschehen hat? Wieso tut sie das nicht? Wo bleibt sie?

      Ich war fünf Jahre alt, damals – und seit fünf Jahren König. Naja, vielleicht auch erst vier oder viereinhalb oder vierdreiviertel, aber auf jeden Fall ein König, ein kleiner König. Über drei Königreiche. Und mein zweites Königreich war die elterliche Metzgerei in Gera, Ortsteil Lusan.

      Die Dunkelheit ängstigte mich. Obwohl es keine wirkliche Dunkelheit war. Denn Straßenlicht fiel in den Raum, und ich und die gleichgültig vor sich hin hängenden Würste und Speckseiten warfen stumpfe Schatten – oder lebendige, schwankende, wenn Autos vorüberfuhren und das Licht ihrer Scheinwerfer durch den Raum wandern ließen. Dann – als könne ich mit den Bewegungen die Vorüberfahrenden auf mich und meine Lebensgefahr aufmerksam machen – bewegte ich mich, zappelte vorsichtig mit den Beinen, schwenkte, mal mehr, mal weniger, den Körper hin und her, doch stets darauf bedacht, dass weder meine Hände von dem schwarzen Spieß abrutschten noch dieser aus dem Himmelsgestell herausbrach. Doch sie sahen mich nicht, nicht die Kraftanstrengung des Festhaltens, nicht meine Angst vor dem Absturz.

      Und sollte mein Schatten mich sehen, so beachtete er mich nicht. Er war einfach nur da und wollte weiter nichts, außer nur da zu sein. Wieso löste er sich nicht von meinem Körper, wanderte durchs Fenster auf die Straße, um dort wild herumzufuchteln, damit jemand käme und mich vom heranschleichenden Tod befreite? Der Schatten meines Körpers lebte durch mich, war mein dunkles, losgelöstes Ich: Gäbe es mich nicht, gäbe es ihn auch nicht. Er würde gnadenlos vom Licht geschluckt. Wieso erschien ihm sein Leben, das ich ihm spendete, so bedeutungslos, dass er nichts unternahm, mich zu retten und, indem er mich rettete, auch sich? Doch er war Knecht, tat stur, was mein Körper ihm befahl, ohne jegliche Anteilnahme und eigenen Willen zu handeln.

      Und wenn schon mein Schatten faul und blöd und träge war, wieso wollten dann nicht wenigsten die Schatten von Wurst und Speck und Schinken ausbrechen aus ihrer beengten Existenz und dem engen Raum ihrer Gefangenschaft? Wieso wollten sie nicht ihr schwarzes Licht nach draußen in die Weite scheinen lassen oder auch nur auf einen kleinen Spaziergang schicken durch ein Fenster oder einen Gardinenspalt im Aufenthaltsraum, um eine ihnen verborgene Welt zu entdecken und sie für mich um Hilfe zu bitten?

      Sie kannten nur die Welt hier drinnen und schienen zufrieden zu sein mit ihrem dummen Glück. Ich kannte die Welt da draußen, kannte den Weg, den ich nach Hause zu gehen hätte, und würden sie mich befreien, ich nähme die Wurst- und Schinkenschatten mit in die Sommerleithe, sie dürften sich zu uns an den Tisch setzen und mit uns zu Abend essen von all dem, was ihnen hier im spärlichen Licht der Straßenlaterne und der vorüberfahrenden Autos verheißungsvoll, aber unerreichbar entgegenleuchtete.

      Oder waren sie gar nicht dumm, sondern stellten sich nur so, registrierten stumm, was um sie herum geschah, verständigten sich in einer für die Menschen unhörbaren und, selbst wenn diese sie hören würden, unverständlichen Geheimsprache, die sie, sollten sie es wollen, jederzeit aufscheinen lassen könnten wie das Menetekel in der Bibel auf der Wand: Mene Mene Tekel Upharsin. Aber sie wollten nicht. Und so blieb alles, wie es war.

      Je länger ich hing, umso blasser wurde meine Phantasie; und im bald aufziehenden Schimmer der Morgensonne würden die Schatten erbleichen. Weg aus meinem Kopf! Ihr Schatten, weg! Haut ab! Los! Verschwindet! Denn ich will nur eines: mit meinen Füßen wieder auf der Erde stehen.

      Was sich bewegt, lebt; und was lebt, hat Antlitz, hat Gesicht. Augen beginnen silbern zu glänzen, Schweineköpfe glotzen mich an, verziehen ihre Rüssel und grunzen. Schweineohren wachsen zu Elefantenohren und richten sich auf. Was haben sie vor mit mir? Sind sie, die den Tod schon erlebt haben, neugierige Zaungäste meines nahenden Todes? Und kündigt sich nicht grollend und Lichtblitze vorausschickend draußen am Himmel ein Unwetter an, dessen Spektakel meine Reise ins Ungewisse begleiten wird? Meine Hände, die mich festhalten sollten, um mich vor dem Untergang zu bewahren, werden feucht, beginnen zu schwitzen, und der kalte Schweiß des sich anschleichenden Todes mischt sich mit der immer heißer werdenden Glut meiner Angst. Das am Räucherspieß klebende Fett beginnt zu schmelzen, fließt als heißes Öl an meinen Armen herunter, verbrüht meine Haut, sammelt sich als siedend heiße Fettbrühe in meinen Schuhen, und der schwarze Holzstock über mir, an dem ich mich festhalte und der mich hält, verwandelt sich langsam in eine rot glühende Eisenstange, während meine Hände kälter und kälter werden, betäubt von der erfrierenden Hitze und der Glut des Eises.

      Es gibt keine Rettung. Niemanden, der die Tür aufschließt, das Licht anknipst und mich befreit aus meinem Geängste und dem Gestänge meiner Pein. Ich bin allein.

      Wie gern läge ich jetzt in meinem Bett! Selbst ein schweres Gewitter, vor dem ich mich schon immer unglaublich fürchte, im Bett über mich ergehen zu lassen, wäre besser, als hier zu hängen. Wie viel lieber würde ich, von Bettwäsche umhüllt und verborgen, das Grauen unberechenbar einschlagender Blitze ertragen, das grelle Zittern eines unwirklichen Lichts, diese schrecklichen, alles erhellenden und die Augen erblinden lassenden Sekunden samt dem gleichzeitig peitschenden und knallenden Donner, der, kaum ist er verklungen, sich mit steigernder Wut wieder und wieder laden und blitzschnell wie eine zum Biss hervorschnellende Kobra entladen kann, um irgendwann weiterzuziehen, sich in der Ferne zu verlieren und das Gefühl zu hinterlassen, ich sei noch einmal davongekommen.

      Blitz und Donner, das weiß ich, haben Kraft und Gewalt, mich, mein Bett, mein Schlafzimmer, unser Haus, ja, unsere Familie, wenn nicht gar ganz Gera zu vernichten, aber – sie tun es nicht! Sie drohen nur. Um weiterzureisen. Vielleicht haben sie uns unter dem Grollen heranpolternder Gesteinsbrocken und dem Getöse von Paukenschlägen im Licht des Blitzes betrachtet und uns für unwürdig befunden, von ihnen vernichtet zu werden, um sich ihrer Macht würdigere Opfer zu suchen? Stärkere, an denen sich ihre eigene Stärke hätte austoben können? Oder schwächere, um sie verächtlich zu bespötteln?

      Neben einem vom Blitz gespaltenen Baum zu stehen, der in Flammen aufgeht, neben verkohlten Kühen auf der Weide oder zerstörten Häusern, aus denen Menschen flüchten, deren Haare und Kleider brennen und die aussehen wie verzweifelt fortrennende Fackeln auf Beinen – all das wäre mir lieber, als hier oben zu hängen. Bedrängt von grunzenden Schweinefratzen.

      Schweine fressen alles. Auch mich? Einst hatten die Tiere, die jetzt tot und in Würste und Schinken verwandelt neben mir hängen, Gesichter und Leben, sind herumgesprungen und haben sich des Lebens gefreut. Nun sind sie tot, doch ihre Geister – so etwas gibt es, wie ich aus den Geschichten meiner Mutter weiß, die sie meiner Schwester, Klaus und mir vor dem Einschlafen vorgelesen hat – leben und wollen sich nun an mir rächen. Aber rächen wofür? Was habe ich ihnen getan? Ich habe sie nicht getötet. Oswald und mein Vater haben sie getötet. Sollen sie doch Oswald und meinen Vater neben sich hängen und für ihre Ermordung bestrafen und quälen.

      Ich esse ohnehin lieber frisches Brot, bestrichen mit Butter und bestreut mit Salz oder Schnittlauch, als belegt mit dem Fleisch, das jetzt neben mir hängt. Mit einer Ausnahme: Nichts geht über eine Scheibe Brot mit grober Leberwurst. Wenn man die Leberstückchen im Mund spürt, sie mit der Zunge am Gaumen zerdrückt zu einem feucht-mehligen Brei und die Leber ihren Geschmack entfaltet, dann ist dieser Genuss die Veredlung des altehrwürdigen Fleischerhandwerks in Perfektion. Aber weder können die Würste und Schinken, inmitten derer ich hänge, dieses mein Geheimnis wissen noch ahnen. Wie und woher auch?

      Oswald!

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