Sommerleithe. Klaus Weise

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Sommerleithe - Klaus Weise

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geraten hatte, öffnete und ich ein Schweineauge anschaute, das mich anschaute, sei es, dass Oswald – mit Schweineohren am Kopf statt seiner eigenen – aus dem Dunst und Dampf der Wurstküche hervorkam und zur Begrüßung grunzte. Überraschungen dieser Art war ich zwar nicht gewohnt, aber sie waren mir auch nicht gänzlich unvertraut. Mich jedoch unter die Decke zu hängen, zu verschwinden, die Tür von außen abzuschließen, damit mich niemand finden und befreien konnte, und mich wie Wurst, Schinken und Speck austrocknen zu lassen, das war neu. Und lebensbedrohlich – wie die vielen anderen Gefahren, vor denen mein Vater mich immer wieder mit bildhaft-eindringlichen Beschreibungen gewarnt hatte, in die ich mich jedoch allzu gerne mit meiner Phantasie hineinbegab und die auszuschmücken mir ein schauriges Vergnügen bereitete.

      Doch das hier war kein Spiel. Es war Wirklichkeit. Kein ängstlich-sehnsüchtiges Gespinst meiner Einbildungskraft, kein Traum, aus dem erwachend ich mich in der behaglichen Wärme meines Bettes im behüteten Elternhaus wiederfinden würde. Im Gegenteil: Mein spielerischer Übermut war verflogen, und was übrig blieb, war pure, zu Erstarrung geronnene Angst. Würde ich meinen Griff lockern in der Hoffnung, aus einem schrecklichen Traum ins weiche Federbett zu fallen und nach dem kurzen Schock des Erwachens beglückt über meine Rettung in die lange Nacht hinein zu schlummern, so würde ich vom Himmel hinabstürzen und mir beim Aufschlagen auf der Erde sämtliche Knochen brechen.

      Was nun? Was tun? Ich musste mich festhalten, festhalten, solange ich konnte, das war klar. Aber wie lange würde ich mich festhalten können? Und wenn ich abstürzen würde und zerschellen auf dem steinharten Fußboden, wären fehlende Kraft und mangelnde Willensstärke meine eigene Schuld. Es gab kein Ungeheuer, gegen das ich zu kämpfen, kein Gespenst, das ich zu vertreiben und keinen Drachen, den ich mit dem Schwert oder einer Lanze zu durchbohren hatte, nein, ich war mein eigener Feind, und es lag allein an mir, wie lange ich mich am Räucherspieß würde festhalten können. Noch konnte ich. Noch hatten meine Hände die Kraft, mich im Himmel des Fleischerreiches baumeln zu lassen und sich dem dunklen Sog, der meinen Körper länger und länger werden ließ, zu widersetzen und mich vor dem Absturz zu bewahren. Noch.

      Alles um mich herum war ruhig und friedlich, ganz so, als würden die Würste, Schinken und Speckseiten, der Raum und all seine Gegenstände sich zur Ruhe begeben, langsam in einen tiefen Schlaf sinken und den Ereignissen eines neuen Tages entgegenträumen. Doch diese Behaglichkeit konnte ich nicht teilen. War ich doch, wenngleich bleich vor Angst, weder eine weiß gekalkte Zervelatwurst noch, auch wenn mir das Blut in den Kopf geschossen war, ein roter Nussschinken. Ich war: beides. Da ich mich aber nicht selber sehen konnte, konnte ich nicht wissen, wie das aussah: gleichzeitig beides zu sein.

      Schwester Salami und Bruder Schinken hatten es bequem, denn sie brauchten sich nicht festzuhalten. Sie wurden gehalten – von Bindfadenschlaufen, durch die schwarze Spieße gesteckt waren, welche mittels einer eisernen Gabel, befestigt an einem langen Holzstab, von starken Männerhänden in das Gestänge unter die Decke gehängt worden waren. Auch war ich keine von den vielen mit weißen Fettflocken gemusterten Mettwürsten, die sich mit braun glänzender Haut wie geknetete und abgeschnürte hungrige Riesenschlangen um Räucherspieße wickeln konnten, um sicheren Halt und Überlebenshoffnung zumindest für die kommende Nacht zu finden. Nein, ich war ein Junge, der zwar ziemlich stark war oder sich so vorkam, aber möglicherweise nicht stark genug, um eine ganze Nacht wie eine Fledermaus am Wurstspieß hängend schlafen zu können. Außerdem, fiel mir ein, jagen Fledermäuse nachts und schlafen am Tag. Nein, es gab kaum Hoffnung zu überleben.

      Und die Hoffnung schwand umso mehr, je ruhiger es wurde im Raum. Die Geräusche des Tages waren längst verweht, und die Stille der Nacht hatte sich schleichend ausgebreitet wie die Dunkelheit im Schatten der Dämmerung. Alles war so friedlich, dass es mich nicht überrascht hätte, jetzt die sanfte und geliebte Stimme meiner Mutter zu hören, die mir ein Lied zur guten Nacht singt … wäre da nicht die pochende Panik in meinem Herzen.

      Wie lange ich in diesem verführerischen, doch nun mein Leben bedrohenden Himmel hing, weiß ich nicht. Es kam mir unendlich lange vor. Meine Haut, ausgetrocknet zu einer luftgeräucherten Schwarte, zu gelb-bräunlichem Pergament – ein harter Naturdarm, in dem mein schwindendes Leben, mein vertrockneter Körper Saft und Seele aushauchten – war mit Kleidern und Schuhen verwachsen. Ich war eingetrocknet auf die Größe einer Salami. Mein Kopf, ein Schrumpfkopf mit dem Gesicht eines greisenhaften Kindes, wirkte wie aus dem Himmel auf die Schultern gefallen, dort verwachsen mit zwei ausgestreckten, verdorrten dünnen Ärmchen, die in nichts an die geschmeidigen Muskeln und die saftigen Sehnen der Jugend erinnerten, sondern nur an den vertrockneten Mörtel und Staub greisenhafter Alterserstarrung. Kopf, Arme und Rumpf waren zudem umhüllt von einem Geflecht übereinander gewobener Spinnennetze, welche diese menschliche Ruine davor schützen sollten zu zerbröseln, damit sie, sollte es jemals wieder regnen, zu neuem Leben erwachen könne.

      Ich atmete nur noch einmal pro Tag, einmal ein, einmal aus, und mein Herzschlag hatte sich diesem Rhythmus angepasst. Meine Hände sind mit dem schwarzen Spieß verwachsene Krallen, von denen ich befürchten muss, dass auch sie bald pulverisiert werden und als feiner Staub auf das Leben unter ihnen herniederrieseln.

      Und ist mein Körper auf dem Steinfußboden aufgeschlagen, zerborsten und sein Staub aufgewirbelt wie die Sporen, die ein zertretener Pilz in einer langsam unsichtbar werdenden Wolke auf weite Reise schickt, dann werde ich nicht mehr sein. Dann werden meine Eltern und meine Geschwister schon sehen, was sie davon haben, mich nicht gerettet zu haben, dann werden sie nur noch sagen können: Es war einmal ein König, ein kleiner König …

      Man hatte mich vergessen. Die Würste und Schinken neben mir kamen und gingen. Ich war es müde, mich mit ihnen zu befreunden. Ich reduzierte die Energie, die ich benötigte, um zu leben, wie es Schildkröten tun im Winterschlaf. Ob ich nun langsam zerbröselte oder, solange noch ein wenig Lebenssaft in mir gärte, doch noch heruntergenommen und im Laden von der Aufschnittmaschine in hauchdünne Scheiben geschnitten und teuer verkauft würde, war mir egal. Ich wusste, die Gefühle und mit ihnen Schmerz und Hoffnung hatten meinen Körper längst verlassen.

      Die Lethargie als Ergebnis des endlosen Hängens wurde nur noch übertroffen von der Wiederkehr des Lebens unter mir. Dort wurde gearbeitet, gelacht, gestritten, geliebt, Geld gezählt, doch nie bekam ich einen Blick, der mir gesagt hätte, ich weiß, dass es dich da oben noch gibt, dass du da bist, wir haben dich nicht vergessen, und deine Zeit wird kommen. Nichts von alledem. Obwohl vorhanden, existierte ich nicht mehr. Als hätte es mich nie gegeben. Manchmal, wenn das zarte Licht der Morgensonne den Raum erhellte, die Schläfer in Wohnungen und Häusern an der Hand nahm und sie vom Schlaftraum der Nacht in den Lebenstraum des Tages führte, wünschte ich, es würde mich verwandeln in eine Urne ganz aus meiner eigenen Asche und mit sonst nichts drin als diesem weichen Licht.

      Ich fürchtete mich nicht mehr vor dem Tod und auch nicht mehr vor dem Sterben. Das sanfte Licht der Morgensonne würde mir für immer scheinen und mich erwärmen, mir Trost und Hoffnung spenden. Und wenn das Leben mich vergessen hat, bescheint mich doch das Licht des Todes in meiner Urne. Ob es mir für immer hier scheint oder mich mitnimmt auf seine Reise – mir ist beides recht.

      Denn ich wollte wissen, wohin die Reise ging. Da hörte ich von irgendwo, aus Vergangenheit oder Zukunft, die vertraute Stimme meiner Mutter: «Im Westen ist es kalt.» Mit dieser Vorausahnung hatte sie recht, wie sich später herausstellen sollte. Auch wenn es im Westen manchmal heiß zu- und hoch herging.

      2.

      … das kommt vom Rudi-Ralala

      Samstagabends gingen die Gesellen unserer Metzgerei im gegenüberliegenden Gasthaus Zur Kanne feiern. In dessen Tanzsaal mit dem schönen Namen Paradiso – eine Verbeugung vor dem Hit «Paradiso unterm Sternenzelt» aus den frühen 60er Jahren, auf Deutsch gesungen von der amerikanischen Sängerin Concetta Rosa Maria Franconero, bekannt unter dem Namen Connie Francis –, spielte eine Band, es wurde

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