Im Reich der hungrigen Geister. Gabor Mate
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Um fünf Uhr morgens, es ist schon später Winter, führten der alte Mann und seine Frau die Kinder zu einer Gruppe von Zedernbäumen am Flussufer. Im Sommer wie im Winter lagen die Kinder am Ufer, nackt ausgezogen. Der Schamane sang, während ihre Großmutter kleine Zweige von den Stellen riss, wo die aufgehende Sonne auf die Bäume schien. Dann tauchte sie in absoluter Stille, man hörte nur das Rascheln der Blätter und das Rauschen des Baches, die Zweige in das kalte, sprudelnde Wasser. Sie badete die Kinder und bürstete mit den Zweigen ihre Körper. „Sie haben uns abgewaschen und gereinigt und uns für unser Erwachsenenleben gestärkt“, sagt Angela, „um uns darauf vorzubereiten, dass wir keine Knochenbrüche erleiden und dass wir, wenn wir krank sind, nicht sehr lange krank bleiben. Und es war auch eine Möglichkeit für meinen Großvater, herauszufinden, welches von uns Kindern stark genug ist, um die Spiritualität weiterzuführen. Alle unsere Vorfahren leben in diesem Auserwählten weiter.“
„Wie findet er das heraus?“
„Du stehst in eiskaltem Wasser und es fühlt sich an, als würden sie dir die Haut von der Haut kratzen – das ist für ein kleines Kind kein Vergnügen. Wir glaubten nicht, dass es das war, was er uns erzählte. Aber schon bald konnte ich Trommeln hören – die Trommeln der Ureinwohner. Nach einer Weile war es das, was mich beruhigte, das, was ich hörte. Als mein Großvater betete und meine Großmutter mich badete, konnte ich Trommeln hören. Es war so kalt und wir mussten still liegen. Ich beschloss, dass der einzige Weg, es zu überstehen, darin bestand, nicht wahrzunehmen, was mein Körper fühlte. Ich lag einfach nur da, hörte den Trommeln zu und ließ es geschehen. Als die Zeit verging und es schneite, begann ich einen leisen, ruhigen, schönen Gesang in einer Sprache zu hören, die ich noch nie zuvor gehört hatte. Es war die Musik der Ureinwohner. Seltsam war, dass ich damals noch nicht wusste, wie man Küsten-Salish spricht, aber in dem Moment sang ich mit.“
Ich höre Angela mit Faszination und einer vagen Sehnsucht zu – es ist das Gefühl der verlorenen Verbindung zu vergangenen Generationen. In meinem Leben gab es keine Großeltern. Angela ist durchdrungen von Traditionen und der Welt der Geister. Sie hat die Stimmen ihrer Vorfahren gehört. Ich lese die Stimmen meiner Vorfahren, aber ich höre nur meine eigenen Gedanken.
„Woher kommt das Lied?“, fragte der Schamane Angela eines Tages, als er seine Frau beobachtete, wie sie das Kind mit den Zedernzweigen bürstete, und sah, dass sie, das kleine Mädchen, nicht litt. Sie wurde ihm gebracht, das wusste er, und könnte nun seine Führerin sein. Die beiden gingen langsam den Weg am Fluss entlang und ließen Angelas Brüder, Schwester und Großmutter zurück, bis sie ganz allein waren. Und dort saßen sie auf einer Lichtung, der Schamane und seine junge Enkelin, und lauschten den Stimmen der Toten ihres Stammes. Die Toten vieler Generationen klagten, jammerten und sangen in einer alten Sprache von ihrem Leben, erzählten ihre Geschichten und wie sie seit der Ankunft des weißen Volkes und bereits davor gearbeitet und gekämpft hatten und wie sie gestorben waren. Angela erfuhr die Geschichten und alle Weisheiten.
Ich sehe es in ihr. Ich habe miterlebt, wie sie in meiner Praxis anderen Süchtigen gegenüber Worte des Mitgefühls und des Trostes sprach. Ich war auch beeindruckt von der stillen Zuversicht, mit der sie bei einer öffentlichen Veranstaltung in der Zentralbibliothek von Vancouver die Bühne betrat.
Ich hielt einen Vortrag über Sucht und hatte Angela eingeladen, ihre Gedichte vorzutragen, und wie immer kam sie zu spät. Als ich sie vorstellte, schritt sie zielstrebig von ihrem hinteren Platz auf das Podium zu. Unbekümmert blickte sie über die dreihundert Zuhörer und rezitierte ihre Werke mit klarer, klangvoller Stimme, als wäre es für sie eine selbstverständliche, alltägliche Praxis. Es war eine bewegende Darbietung, die von ihren Zuhörern mit langem und warmem Applaus belohnt wurde.
Diese Lichtung am Fluss ist nach wie vor Angelas Ort der Erhabenheit, auch wenn ihre Verbindung dorthin durch Misshandlungen später in ihrer Kindheit verdunkelt wurde. Sie ist weit weg davongelaufen und weiß nicht, ob sie jemals zurückkehren wird. Sie ist heute keine Hüterin der heiligen Stammesüberlieferungen mehr, sondern lebt in Downtown Eastside als kokainabhängige Hinterhof-Stricherin. „Blow for your dough / play for your pay“ [„Einen blasen für Geld / spielen gegen Lohn“], sagt sie in einem Gedicht.
Doch ihr fröhliches Lächeln und ihre patrizische Autorität verdankt sie ihrem tiefen Wissen, dass es einen solchen Ort gibt und dass sie dort gewesen ist und die Stimmen gehört hat. Sie sprechen zu ihr durch all ihr Elend hindurch. Sie helfen ihr immer noch, sich selbst zu finden. „Spiegel meines inneren Selbst, was sehen andere?“, fragt Angela in einem ihrer Verse. „Ist es die Wahrheit in meinem Herzen oder menschliche Eitelkeit? Und was sehe ich?“
KAPITEL 6
Tagebuch einer Schwangerschaft
Dies ist die kurze Schilderung einer Schwangerschaft – und der Geburt eines opiatabhängigen Säuglings von einer süchtigen Mutter. Trotz ihrer Entschlossenheit, sich ihren Dämonen zu stellen, wird die Mutter nicht in der Lage sein, ihr Kind zu behalten. Ihre Mittel werden nicht ausreichen, und weder ihre Bitten an die göttliche Stimme in ihrem Herzen noch die Unterstützung, die wir in Portland bieten können, werden ausreichen, um ihr bei der Verwirklichung ihres heiligen Ziels, ihre Aufgabe als Mutter zu erfüllen, zu helfen.
Juni 2004
Ich eile in den fünften Stock, wo Celia völlig außer Kontrolle geraten sein soll und droht, aus dem Fenster zu springen. Das ist keine leere Drohung, andere haben es vor ihr schon getan. Der Widerhall des die Wände durchdringenden Geschreis erreicht mich im Treppenhaus zwei Stockwerke tiefer, während ich auf den Lärm zurenne.
Ich finde Celia, die barfuß auf Glasscherben randaliert und aus mehreren kleinen Schnitten blutet. Der Boden glitzert von den Scherben zerbrochener Bildschirme, Gläser und zerborstenen Geschirrs, beleuchtet von der Mittagssonne, die ihre Strahlen in einem scharfen Winkel in den Raum wirft. Die ausgeweidete Fernsehkonsole liegt im Flur. Lebensmittelreste tropfen von den Wänden und von kaputten Holzstühlen. Überall liegt Kleidung herum. Auf der Küchentheke gurgelt und zischt eine kleine Espressomaschine und verbreitet das scharfe, säuerlichen Aroma von verbranntem Kaffee. Ein paar blutverkrustete Spritzen liegen auf dem Tisch, dem einzigen noch intakten Möbelstück.
Celia stampft umher und brüllt mit einer Stimme, die schon nicht mehr menschlich klingt: kratzig, hoch und knirschend. Tränen strömen ihr aus den rot geschwollenen Augen über die Wangen und zittern tröpfchenweise am Kinn. Sie trägt ein schmutziges Nachthemd aus Flanell. Es ist eine überirdische Szene, die sich da bietet.
„Ich hasse ihn, verdammt noch mal. Beschissener, gottverdammter, fucking Bastard.“ Als Celia mich sieht, kippt sie auf der zerlumpten Matratze in der Ecke um. Ich kicke einen Stapel Handtücher beiseite und kauere mich gegen das Balkonfenster. Im Moment gibt es nichts zu sagen. Während ich auf ein Zeichen von ihr warte, dass sie zum Kontakt bereit ist, lese ich das Gebet, das sie an die Wand über ihr Bett geschrieben hat: „Oh, Großer Geist, dessen Stimme ich im Wind höre und dessen Atem der ganzen Welt um mich herum Leben einhaucht, höre unser Weinen, denn wir sind klein und schwach.“ Es endet mit einer Bitte: „Hilf mir, Frieden mit meinem größten Feind zu schließen – mit mir selbst.“
Juni 2004: nächster Tag
Celia ist ruhig und sogar heiter, während sie auf ihr Methadon-Rezept wartet. Sie scheint über mein