Im Reich der hungrigen Geister. Gabor Mate
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„Komisch, das Kokain beruhigt mich.* Und das Gras. Ich rauche fünf oder sechs Joints am Tag. Das entspannt mich auch. Es nimmt die Schärfe. Am Ende des Tages lege ich mich einfach damit hin. So sieht es aus, das ist mein Leben. Ich rauche einen Joint und gehe schlafen.“
Shirley, eine Frau in den Vierzigern, süchtig nach Opiaten und Stimulanzien und mit der üblichen Liste von Krankheiten behaftet, gesteht auch ein Gefühl der Unzulänglichkeit, wenn sie keine Drogen nimmt, und sieht Kokain als eine Lebensnotwendigkeit an. „Ich war dreizehn, als ich zum ersten Mal Drogen nahm. Es nahm mir die meisten meiner Hemmungen, mein Unbehagen, meine Unzulänglichkeiten – eben so, wie wir uns selbst sehen, das trifft es wohl besser.“
„Wenn Sie Hemmungen sagen, was meinen Sie damit?“, frage ich.
„Hemmungen … wie die Verlegenheit, die ein Mann und eine Frau empfinden, wenn man sich zum ersten Mal trifft, und man weiß nicht, ob man sich küssen soll, nur dass ich mich immer so gefühlt habe. Mit der Droge wird alles einfacher … deine Bewegungen sind entspannter, sodass du nicht mehr unbeholfen wirkst.“
Kein Geringerer als der junge Dr. Sigmund Freud war eine Zeit lang vom Kokain begeistert und verließ sich darauf, dass es „seine zeitweilig depressiven Stimmungen unter Kontrolle bringen, sein allgemeines Wohlbefinden verbessern, ihm helfen würde, sich in verkrampften sozialen Begegnungen zu entspannen und sich einfach mehr wie ein Mann zu fühlen“.** Freud war nur langsam bereit zu akzeptieren, dass Kokain ein Abhängigkeitsproblem schaffen kann.
Indem die Droge die Persönlichkeit stärkt, erleichtert sie auch die sozialen Interaktionen, wie Aubrey und Shirley beide bezeugen. „Normalerweise fühle ich mich niedergeschlagen“, sagt Aubrey. „Wenn ich kokse, bin ich ein ganz anderer Mensch. Ich könnte mich jetzt viel besser mit Ihnen unterhalten, wenn ich high vom Kokain wäre. Ich würde nicht so undeutlich reden. Es macht mich wach. Es macht es einfacher, Leute zu treffen. Ich möchte mit jemandem ein Gespräch beginnen. Es ist normalerweise nicht sehr interessant, mit mir zu reden … Deshalb möchte ich meistens auch nicht mit anderen Menschen zusammen sein. Mir fehlt dieser Antrieb. Ich bleibe allein in meinem Zimmer.“
Viele Süchtige berichten in ähnlicher Weise, dass sich ihre sozialen Beziehungen verbessern, wenn sie Drogen genommen haben, im Gegensatz zu der unerträglichen Einsamkeit, die sie erleben, wenn sie nüchtern sind. „Ich fange an zu reden, öffne mich; ich kann freundlich sein“, erzählt ein junger Mann, der Crystal Meth nimmt. „Normalerweise bin ich nie so.“ Wir sollten nicht unterschätzen, wie verzweifelt ein chronisch einsamer Mensch ist, der dem Gefängnis der Einsamkeit zu entkommen versucht. Es handelt sich hier nicht um normale Schüchternheit, sondern um ein tief empfundenes, psychisches Gefühl der Isolation, das von frühester Kindheit an von Menschen erfahren wurde, die sich von allen, angefangen bei ihren Betreuern, abgelehnt fühlen.
Nicole ist Anfang fünfzig. Nachdem sie bereits fünf Jahre meine Patientin war, enthüllte sie mir, dass sie als Teenager wiederholt von ihrem Vater vergewaltigt worden war. Auch sie ist HIV-positiv. Wegen der verheerenden Folgen einer alten Hüftinfektion humpelt sie jetzt mit einem Stock herum. „Ich bin mit der Droge sozialer“, sagt sie. „Ich werde gesprächig und selbstbewusst. Normalerweise bin ich schüchtern, lebe zurückgezogen und mache nicht viel her. Ich lasse mich von Leuten herumkommandieren.“
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Eine andere starke Dynamik hält die Sucht trotz der katastrophalen Folgen weiter am Leben: Der Süchtige sieht keine andere Existenzmöglichkeit für sich. Seine Zukunftsperspektive wird durch sein tief verwurzeltes Selbstbild als Süchtiger eingeschränkt. Wie sehr er den Preis seiner Sucht auch erkennen mag, er fürchtet doch einen Selbstverlust, wenn diese in seinem Leben fehlen würde. In seiner eigenen Vorstellung würde er aufhören, so zu existieren, wie er sich selbst kennt.
Carol erzählt, dass sie sich unter dem Einfluss von Crystal Meth auf eine völlig neue und positive Art und Weise erleben konnte. „Ich empfand mich klüger, als ob sich eine Schleuse an Informationen oder was auch immer unmittelbar in meinem Kopf öffnen würde … Meine Kreativität wurde geweckt …“ Als ich sie frage, ob sie ihre achtjährige Amphetamin abhängigkeit in irgendeiner Weise bedauert, ist sie nicht um eine Antwort verlegen: „Nicht wirklich, denn es hat mich zu der Person gemacht, die ich heute bin.“ Das mag bizarr klingen, aber aus Carols Sicht hat ihr der Drogenkonsum geholfen, einem missbräuchlichen Elternhaus zu entkommen, Jahre des Lebens auf der Straße zu überstehen und sie mit einer Gemeinschaft von Menschen mit gleichen Erfahrungen zu verbinden. Wie viele Crystal Meth-Konsumenten es sehen, kann die Droge für junge Obdachlose von Vorteil sein. Seltsamerweise macht sie ihr Leben auf kurze Sicht lebenswerter. Es ist schwierig, auf der Straße einen guten und sicheren Schlafplatz zu haben: Crystal-Meth hält dich wach und aufmerksam. Kein Geld für Lebensmittel? Nun, man verspürt auch keinen Hunger, Crystal Meth ist ein Appetitzügler. Müde, ohne Energie? Crystal Meth gibt dem Konsumenten grenzenlose Energie.
Chris, ein sympathischer Mann mit einem schelmischen Sinn für Humor, dessen muskulöse Arme ein Kaleidoskop von Tätowierungen tragen, hat vor einigen Monaten eine einjährige Gefängnisstrafe hinter sich gebracht und ist jetzt wieder im Methadonprogramm. In Downtown Eastside kennt man ihn unter dem seltsamen Beinamen „Zehenschneider“, den er sich verdiente, so erzählt man, als er jemandem eine scharfe, schwere Industrieklinge auf den Fuß fallen ließ. Mit verbissener Entschlossenheit injiziert er weiterhin Crystal Meth. „Hilft mir, mich zu konzentrieren“, sagt er. Es besteht kein Zweifel, dass er sein Leben lang schon ADHS hat, und er akzeptiert die Diagnose, lehnt aber eine Behandlung ab. „Dieser kluge Arzt hat mir einmal gesagt, dass ich mich selbstmedikamentös behandele“, schmunzelt er und erinnert sich an ein Gespräch, das wir vor Jahren geführt haben.
Chris kam kürzlich mit einer Fraktur seiner Gesichtsknochen in die Klinik, die er sich bei einer Straßenschlägerei um eine „Tüte“ Heroin zugezogen hatte. Hätte ihn der Schlag einen Zentimeter höher getroffen, wäre sein linkes Auge zerstört worden. „Ich will weiterhin Süchtiger bleiben“, sagt er, als ich ihn frage, ob es das alles wert sei. „Ich weiß, das klingt ziemlich abgefuckt, aber ich mag, wer ich bin.“
„Sie sitzen hier mit einem von einem Metallrohr zertrümmerten Gesicht und sagen mir, dass es Ihnen gefällt, wer Sie sind?“
„Ja, mir gefällt, wer ich bin. Ich bin Zehenschneider, ich bin süchtig und ich bin ein netter Kerl.“
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Jake, ein Methadon-behandelter Opiatabhängiger und starker Kokainkonsument, ist Mitte dreißig. Mit seinen feinen blonden Gesichtsstoppeln, seinen lebhaften Körperbewegungen und seiner schwarzen Baseballmütze, die er verwegen tief über die Augen gezogen hat, könnte er für zehn Jahre jünger durchgehen. „Sie haben in letzter Zeit eine Menge Kokain gespritzt“, bemerke ich eines Tages ihm gegenüber.
„Es ist schwer, davon loszukommen“, antwortet er mit seinem zahnlückenhaften Grinsen.
„Bei Ihnen klingt es, als wäre das Koks ein wildes Tier, das Ihnen nachstellt.
Und doch sind Sie derjenige, der es jagt. Was bringt es Ihnen?“
„Es