Im Reich der hungrigen Geister. Gabor Mate
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Ein anderer Mann beschrieb, wie seine Mutter einen mechanischen Babysitter einsetzte, als er drei Jahre alt war. „Sie ging in die Bar, um zu trinken und Männer aufzureißen. Ihre Idee, um mich zu beschützen und nicht in Schwierigkeiten zu geraten, war, mich in den Trockner zu stecken. Obendrauf stellte sie eine schwere Kiste, damit ich nicht rauskonnte.“ Das Lüftungsloch sorgte dafür, dass der kleine Junge nicht erstickte.
Meine Prosa ist der Aufgabe nicht gewachsen, ein solches, fast nicht vorstellbares Trauma wiederzugeben. „Unsere Schwierigkeit oder Unfähigkeit, die Erfahrungen anderer zu verstehen … ist umso ausgeprägter, je weiter diese Erfahrungen in Zeit, Raum oder Qualität von unseren entfernt sind“, schrieb der Auschwitz-Überlebende Primo Levi.5 Die Tragödie der Hungersnot auf einem fernen Kontinent kann uns berühren, schließlich haben wir alle mal körperlichen Hunger erlebt, wenn auch nur vorübergehend. Aber es erfordert eine größere Anstrengung der emotionalen Vorstellungskraft, sich in einen Süchtigen einzufühlen. Wir empfinden bereitwillig Mitgefühl für ein leidendes Kind, aber wir können nicht das Kind in dem Erwachsenen sehen, der mit gebrochener Seele und isoliert ein paar Häuserblocks von unserem Einkaufs- oder Arbeitsort entfernt ums Überleben kämpft.
Levi zitiert Jean Améry, einen jüdisch-österreichischen Philosophen und Widerstandskämpfer, der der Gestapo in die Hände fiel. „Jeder, der gefoltert wurde, bleibt gefoltert … Jeder, der einmal gefoltert wurde, wird nie wieder in der Lage sein, sich in der Welt entspannt zu fühlen … Der Glaube an die Menschlichkeit, der bereits durch den ersten Schlag ins Gesicht gebrochen und dann durch die Folter zerstört wurde, wird nie wiedererlangt.“6 Améry war erwachsen, als er traumatisiert wurde, ein gereifter Intellektueller, der im Laufe eines Befreiungskrieges vom Feind gefangen genommen wurde. Stellen Sie sich das Entsetzen, den Vertrauensverlust und die unfassbare Verzweiflung des Kindes vor, das nicht von verhassten Feinden, sondern von geliebten Menschen traumatisiert wird.
Nicht alle Süchte haben ihre Wurzeln in Misshandlungen oder Traumata, aber ich denke, dass sie alle auf schmerzliche Erfahrungen zurückzuführen sind. Schmerz steht im Zentrum jedes Suchtverhaltens. Er ist bei Spiel-, Internet-, Kauf- und Arbeitssüchtigen vorhanden. Die Wunde ist vielleicht nicht so tief und der Schmerz nicht so quälend, vielleicht ist er sogar völlig verborgen – aber der Schmerz ist da. Wie wir sehen werden, wirken in jungen Jahren erlebter Stress oder nachteilige Erfahrungen direkt auf die psychologische und auch auf die neurobiologische Suchtempfindlichkeit des Gehirns.
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Ich fragte den siebenundfünfzigjährigen Richard, der seit seiner Jugend süchtig ist, warum er weiterhin Drogen nimmt. „Ich weiß nicht, ich versuche einfach, eine Lücke zu füllen“, antwortete er. „Die Leere in meinem Leben. Die Langeweile. Die Orientierungslosigkeit.“ Ich wusste nur zu gut, was er meinte. „Hier bin ich, Ende fünfzig“, sagte er. „Ich habe keine Frau, keine Kinder. Ich scheine ein Versager zu sein. Die Gesellschaft erwartet, dass man heiratet, Kinder kriegt, einen Job und so weiter. Durch das Kokain bin ich nur in der Lage, so Kleinigkeiten zu erledigen, wie den Toaster neu zu verkabeln, der nicht funktioniert hat, und so muss ich dann nicht das Gefühl haben, als würde ich nicht mehr leben.“ Einige Monate nach unserem Gespräch erlag er einer Kombination aus Lungenkrankheit, Nierenkrebs und Überdosis.
„Ich habe sechs Jahre lang nichts genommen“, sagt Cathy, eine zweiundvierzigjährige Heroin- und Kokainkonsumentin, die nach langer Abwesenheit wieder zurückgekehrt ist in ein schmuddeliges Downtown-Eastside-Hotel. Seit ihrer Rückkehr ist sie mit HIV infiziert. „Die ganzen sechs Jahre sehnte ich mich danach. Es war der Lebensstil. Ich dachte, ich würde etwas verpassen. Und jetzt schaue ich mich um und denke: ‚Was zum Teufel soll ich verpasst haben?‘„ Cathy gesteht, dass sie in der Zeit, als sie keine Drogen nahm, nicht nur die Wirkung der Drogen vermisste, sondern auch die Aufgeregtheit der Drogensuche und die Rituale, die die Drogensucht mit sich bringt. „Ich wusste einfach nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Es fühlte sich leer an.“
Das Gefühl der Leere durchzieht unsere gesamte Kultur. Der Drogensüchtige ist sich dieser Leere schmerzhafter bewusst als die meisten Menschen und er hat nur begrenzte Möglichkeiten, ihr zu entkommen. Der Rest von uns findet andere Wege, um die Angst vor der Leere zu unterdrücken oder sich von ihr abzulenken. Wenn wir nichts haben, mit dem wir uns gedanklich beschäftigen können, können negative Erinnerungen, beunruhigende Ängste, Unbehagen oder nagender geistiger Stumpfsinn, den wir Langeweile nennen, aufkommen. Drogensüchtige wollen um jeden Preis vermeiden, mit ihrem Verstand „Zeit allein“ zu verbringen. In geringerem Maße sind Verhaltenszwänge auch Reaktionen auf diesen Terror der Leere.
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„Opium“, so schrieb Thomas De Quincey, sei ein mächtiges „Gegenmittel … gegen den gewaltigen Fluch des taedium vitae“ – der Langeweile des Lebens.
Der Mensch will nicht nur überleben, sondern auch leben. Wir sehnen uns danach, das Leben in all seiner Lebendigkeit zu erfahren, mit voller, ungebändigter Emotion. Erwachsene beneiden die offenherzigen und aufgeschlossenen Erkundungen der Kinder. Wenn wir ihre Freude und Neugierde sehen, sehnen wir uns nach unserer eigenen verlorenen Fähigkeit, die Welt mit großen Augen zu bestaunen. Langeweile, die in einem grundlegenden Unbehagen mit sich selbst wurzelt, ist einer der am wenigsten erträglichen psychischen Zustände.
Für den Süchtigen bietet die Droge einen Weg, sich wieder lebendig zu fühlen, wenn auch nur vorübergehend. „Ich fühlte tiefe Ehrfurcht vor dem Alltäglichen“, erinnert sich der Autor und Bankräuber Stephen Reid an seinen ersten Morphium-Trip. Thomas De Quincey preist die Macht des Opiums, „die Genussfähigkeit zu stimulieren“.
Carol ist dreiundzwanzig Jahre alt und wohnt im Stanley Hotel der Portland Hotel Society. Ihre Nase und Lippen sind mit Ringen gepierct. Um ihren Hals trägt sie eine Kette mit einem schwarzen Metallkreuz. Ihre Frisur ist ein rosa gefärbter Irokesenschnitt, der hinten in blonden Locken ausläuft, die bis zu den Schultern reichen. Carol ist eine aufgeweckte, geistig bewegliche junge Frau, die seit ihrer Flucht von zu Hause im Alter von fünfzehn Jahren Meth spritzt und heroinabhängig ist. Das Stanley ist ihr erstes stabiles Domizil nach fünf Jahren auf der Straße. Heute setzt sie sich aktiv für das Konzept der Schadensminderung und die Unterstützung von Mitsüchtigen ein. Sie hat an internationalen Konferenzen teilgenommen und ihre Schriften sind von Suchtexperten zitiert worden.
Bei einem Methadon-Termin erklärt sie, was sie an der Erfahrung mit Crystal Meth schätzt. Sie spricht nervös und schnell und zappelt unaufhörlich, was auf ihren langjährigen Drogenkonsum und wahrscheinlich auf die in frühen Jahren begonnene Hyperaktivitätsstörung zurückzuführen ist, die sie schon hatte, bevor sie überhaupt mit Drogen begann. Wie es sich für ein auf der Straße aufgewachsenes Kind ihrer Generation gehört, scheint jedes zweite Wort von Carol „so was wie“ oder „was auch immer“ zu lauten.
„Wenn man einen guten Schuss oder was auch immer hat, so was wie Hustensaft oder was auch immer, so ein warmes Gefühl, dann fühlt man echt die Wirkung des Schusses, beginnt schwer zu atmen oder was auch immer“, sagt sie. „So ähnlich wie bei einem guten Orgasmus, wenn man ein eher sexueller Mensch ist – so habe ich das nie wirklich gesehen, aber mein Körper erlebt immer noch die gleichen körperlichen Empfindungen. Ich bringe es nur nicht mit Sex in Verbindung.“
„Ich werde total erregt, egal, was es ist … Ich experimentiere gern mit Kleidern, oder ich gehe gern nachts im West End aus, wenn da nicht so viele Leute unterwegs sind, streune gern durch Hinterhöfe und singe mir selbst etwas vor. Die Leute lassen Sachen liegen, ich suche, was ich finden kann, wühle herum, und es ist alles mordsspannend.“
Dass sich der Süchtige auf die Droge verlässt, um seine abgestumpften Gefühle wiederzuerwecken, ist