Im Reich der hungrigen Geister. Gabor Mate

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Im Reich der hungrigen Geister - Gabor  Mate

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dieser Motive angetrieben werden.

      Liz Evans begann im Alter von sechsundzwanzig Jahren in dieser Gegend zu arbeiten. „Ich war überwältigt“, erinnert sie sich. „Als Krankenschwester dachte ich, ich hätte etwas Fachwissen weiterzugeben. Das stimmte zwar, aber ich stellte bald fest, dass ich in Wirklichkeit sehr wenig zu geben hatte – ich konnte die Menschen nicht von ihrem Schmerz und ihrer Traurigkeit erlösen. Alles, was ich anbieten konnte, war, ihnen als Mitmensch, als verwandte Seele, zur Seite zu stehen.“

      „Eine Frau, die ich Julie nenne, wurde ab ihrem siebten Lebensjahr von ihrer Pflegefamilie in ihrem Zimmer eingesperrt, mit einer Flüssignahrung zwangsernährt und geschlagen – sie hat eine Narbe am Hals, wo sie sich selbst aufgeschlitzt hat, als sie gerade mal sechzehn war. Seitdem konsumiert sie einen Cocktail aus Schmerzmitteln, Alkohol, Kokain und Heroin und arbeitet als Prostituierte. Eines Abends kam sie zurück, nachdem sie vergewaltigt worden war, und kroch schluchzend auf meinen Schoß. Sie sagte mir wiederholt, dass es ihre Schuld sei, dass sie ein schlechter Mensch sei und nichts Gutes verdient habe. Sie konnte kaum atmen. Ich sehnte mich danach, ihr etwas zu geben, was ihren Schmerz lindern würde, während ich dasaß und sie in meinen Armen hielt. Es war zu intensiv, um es ertragen zu können.“ Denn Liz stellte fest, dass etwas in Julies Schmerz ihren eigenen auslöste. „Diese Erfahrung machte mir deutlich, dass wir verhindern müssen, dass uns unsere eigenen Probleme im Wege stehen.“

      „Was hält mich hier?“, sinniert Kerstin Stuerzbecher. „Anfangs wollte ich helfen. Und jetzt … Ich will immer noch helfen, aber es hat sich geändert. Nun kenne ich meine Grenzen. Ich weiß, was ich tun kann und was nicht. Was ich tun kann, ist, hier zu sein und mich für Menschen in verschiedenen Lebensphasen einzusetzen und ihnen zu erlauben, so zu sein, wie sie sind. Wir haben als Gesellschaft die Pflicht, … die Menschen so zu unterstützen, wie sie sind, und ihnen Respekt entgegenzubringen. Das ist es, was mich hier hält.“

      Es gibt noch einen weiteren Faktor in der Gleichung. Viele Menschen, die in Downtown Eastside gearbeitet haben, haben es bemerkt: ein Gefühl der Authentizität, der Wegfall der üblichen sozialen Spiele, der Verzicht auf die Heuchelei – die Realität von Menschen, die nicht so tun können, als wären sie etwas anderes als das, was sie sind.

      Natürlich lügen, betrügen und manipulieren sie – aber tun wir das nicht alle, auf unsere eigene Art und Weise? Im Gegensatz zum Rest von uns können sie nicht so tun, als seien sie keine Betrüger und Manipulatoren. Sie sind aufrichtig, wenn es um ihre Weigerung geht, Verantwortung zu übernehmen und den sozialen Erwartungen zu entsprechen, sowie um ihre Akzeptanz, alles um ihrer Sucht willen verloren zu haben. Das ist gemessen an den strengen gesellschaftlichen Maßstäben nicht viel, aber man findet paradoxerweise in jedem Betrug, der mit der Sucht zwangsweise einhergeht, einen ehrlichen Kern. „Was erwarten Sie, Doc? Schließlich bin ich ein Süchtiger“, sagte mir einmal ein kleiner, dünner siebenundvierzigjähriger Mann mit einem schiefen und entwaffnenden Lächeln, nachdem es ihm nicht gelungen war, mich zu einem Morphium-Rezept zu überreden. Vielleicht liegt in dieser Art von unverschämter, unentschuldbarer Pseudo-Authentizität eine gewisse Faszination. Wer von uns würde in seinen geheimen Fantasien nicht gerne ebenso leichtfertig und dreist mit seinen Schwächen umgehen?

      „Bei uns hier geht man ehrlich mit den Menschen um“, sagt Kim Markel. Sie ist Krankenschwester an der Portland-Klinik. „Ich kann hierherkommen und kann wirklich so sein, wie ich bin. Ich finde das lohnend. Bei der Arbeit in den Krankenhäusern oder den verschiedenen Einrichtungen der Gemeinde gibt es immer den Druck, sich an die Regeln zu halten. Weil unsere Arbeit hier so vielfältig ist und mit Menschen zu tun hat, deren Bedürfnisse so grundlegend sind und die nichts mehr zu verbergen haben, hilft es mir, bei meiner Arbeit authentisch zu sein. Es gibt keinen so großen Unterschied zwischen dem, was ich bei der Arbeit, und dem, was ich außerhalb der Arbeit bin.“

      Inmitten der Ruhelosigkeit reizbarer Drogensüchtiger, die für ihr nächstes Hochgefühl lügen und betrügen, gibt es auch häufig Momente der Menschlichkeit und der gegenseitigen Unterstützung. „Es gibt immer wieder erstaunliche Momente der Wärme“, sagt Kim. „Obwohl es eine Menge Gewalt gibt, sehe ich viele Menschen, die sich umeinander kümmern“, fügt Bethany Jeal hinzu, eine Krankenschwester von Insite, dem ersten betreuten Drogenkonsumraum Nordamerikas, der sich in Hastings, zwei Blocks vom Portland entfernt, befindet. „Sie teilen sich Essen, Kleidung und Make-up – alles, was sie haben.“ Die Menschen kümmern sich, wenn jemand krank ist, sie berichten mit Besorgnis und Mitgefühl über den Zustand eines Freundes und sind oft anderen gegenüber freundlicher als normalerweise sich selbst gegenüber.

      „Da, wo ich wohne“, erzählt Kerstin, „kenne ich die Person, die zwei Häuser weiter wohnt, nicht. Ich weiß vielleicht vage, wie sie aussieht, aber ihren Namen kenne ich ganz sicher nicht. Hier ist es anders. Hier kennt man sich, und das hat seine Vor- und Nachteile. Es bedeutet, dass die Menschen aufeinander schimpfen und wütend sind, und es bedeutet auch, dass die Menschen ihre letzten fünf Pennys miteinander teilen.“

      „Die Menschen hier sind sehr roh, was sich in Gewalt und Hässlichkeit ausdrückt und auch oft in den Medien hervorgehoben wird. Aber diese Rohheit bringt auch unverfälschte Gefühle der Freude und Freudentränen hervor – wenn jemand eine Blume sieht, die mir nicht aufgefallen ist, aber jemandem, der in einem Einzelzimmer im Washington Hotel lebt und jeden Tag hier unterwegs ist. Das ist seine Welt, und er achtet auf andere Details als ich …“

      Auch der Humor kommt nicht zu kurz. Wenn ich meine Hastings-Runden von einem Hotel zum anderen mache, werde ich Zeuge von viel Schulterklopfen und lautstarkem Gelächter. „Doctor, doctor, gimme the news“, ertönt ein jazziger Singsang unter dem Torbogen des Washington. „Hey, you need a shot of rhythm an’ blues“, singe ich über die Schulter zurück. Kein Grund, mich umzudrehen. Mein Partner in diesem gut einstudierten musikalischen Ritual ist Wayne, ein sonnenverbrannter Mann mit langen, schmutzigen blonden Locken und Schwarzenegger-Armen, die vom Handgelenk bis zum Bizeps tätowiert sind.

      Ich warte darauf, eine Kreuzung mit Laura zu überqueren, einer Ureinwohnerin in den Vierzigern, deren beängstigende Lebensgeschichte, Drogenabhängigkeit, Alkoholismus und HIV ihren schelmischen Witz nicht ausgelöscht haben. Als die rote Hand an der Fußgängerampel blinkt und der kleinen gehenden Figur weicht, ertönt Lauras leicht spöttische Stimme: „Weißer Mann sagt: Los.“ Wir haben noch ein paar Häuserblöcke entlang den gleichen Weg und die ganze Zeit kichert Laura laut über ihren Witz. Mir geht es ebenso.

      Die Witze sind oft herzhaft selbstverspottend. „Früher schaffte ich beim Bankdrücken neunzig Kilo, Doc“, sagt Tony, abgemagert, geschrumpft und durch AIDS bereits vom Tod gezeichnet, bei einem seiner letzten Praxisbesuche. „Jetzt kriege ich nicht mal mehr meinen eigenen Schwanz hoch.“

      Wenn mich meine süchtigen Patienten anschauen, suchen sie nach meinem wahren Ich. Wie Kinder sind sie unbeeindruckt von Titeln, Errungenschaften und weltlichen Referenzen. Ihre Sorgen sind zu unmittelbar, zu dringlich. Wenn sie anfangen, mich zu mögen oder meine Arbeit mit ihnen zu schätzen, zeigen sie spontan ihren Stolz darüber, einen Arzt zu haben, der gelegentlich im Fernsehen interviewt wird und Bücher schreibt. Aber nur dann. Was sie interessiert, ist meine Präsenz oder Abwesenheit als Mensch. Sie prüfen mit untrüglichem Auge, ob ich an jedem beliebigen Tag genug geerdet bin, um zu ihnen zu kommen und ihnen als Menschen zuzuhören, deren Gefühle, Hoffnungen und Bestrebungen ebenso berechtigt sind wie meine. Sie erkennen sofort, ob ich mich wirklich für ihr Wohlergehen einsetze oder nur versuche, sie mir vom Hals zu schaffen. Da sie durchgehend nicht in der Lage sind, sich selbst eine solche Fürsorge zu bieten, nehmen sie umso sensibler wahr, ob sie bei denjenigen vorhanden ist, die sich um sie kümmern sollen.

      Es ist belebend, in einer Atmosphäre zu arbeiten, die so weit vom normalen Arbeitsalltag entfernt ist, in einer Atmosphäre, die auf Authentizität besteht. Ob es uns bewusst ist oder nicht, die meisten von uns sehnen sich nach Authentizität, nach einer Realität jenseits von Rollenbildern, Etiketten und sorgfältig gefeilten Persönlichkeiten. Mit

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