Im Reich der hungrigen Geister. Gabor Mate

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Im Reich der hungrigen Geister - Gabor  Mate

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wenn auch immer geistesabwesenden Menschen zu sehen, den ich gekannt hatte. Als ich mich abwandte, um zu gehen, kündigten heulende Sirenen die Ankunft der Rettungsfahrzeuge vor dem Haus an.

      Marcia war erst eine Woche zuvor gut gelaunt in meiner Praxis gewesen und hatte mich um Hilfe bei einigen medizinischen Formularen gebeten, die sie ausfüllen musste, um wieder Sozialhilfe zu erhalten. Es war das erste Mal seit sechs Monaten, dass sie zu mir gekommen war. In dieser Zeit, so erzählte sie mir in lässiger Resignation, hatte sie ihrem Freund Kyle dabei geholfen, eine Hundertdreißigtausend-Dollar-Erbschaft durchzubringen – eine Aktion, bei der ihnen viele andere befreundete Drogensüchtige und Mitläufer selbstlos geholfen hatten. Trotz all dieser Popularität war sie allein, als der Tod sie erwischte.

      Ein weiteres Opfer war Frank, ein zurückgezogener Heroinsüchtiger, der einen nur dann widerwillig in sein beengtes Quartier im Regal Hotel ließ, wenn er sehr krank war. „Ich werde auf keinen Fall im Krankenhaus sterben“, erklärte er, als klar wurde, dass der Sensenmann AIDS an seine Tür geklopft hatte. Darüber oder über etwas anderes konnte man nicht mit Frank diskutieren. 2002 starb er in seinem eigenen zerlumpten Bett, aber es war sein eigenes Bett.

      Frank war eine gute Seele, was seine griesgrämige Schroffheit nicht verbergen konnte. Obwohl er nie mit mir über seine Lebenserfahrung sprach, drückte er das Wesentliche davon in dem Gedicht Der Höllenzug der Stadt aus, das er einige Monate vor seinem Tod schrieb. Es ist ein Requiem für ihn selbst und für Dutzende von Frauen – drogensüchtige Prostituierte –, die mutmaßlich auf der berüchtigten Pickton-Schweinefarm außerhalb von Vancouver ermordet worden sind.

       Ich ging in die Stadt – nach Hastings und Main

       Auf der Suche nach Linderung meiner Schmerzen

       Alles, was ich gefunden habe, war

       Eine Fahrkarte für eine einfache Fahrt in einem Höllenzug

       Auf einem Bauernhof nicht weit entfernt

       Wurden mehrere Freundinnen entführt

       Mögen sich ihre Seelen von den Schmerzen erholen

       Möge ihre Fahrt mit dem Höllenzug enden

       Gib mir Frieden, bevor ich sterbe

       Die Strecke ist so gut ausgebaut

       Wir alle erleben unsere private Hölle

       Nur noch mehr Fahrkarten für den Höllenzug

       Höllenzug

       Höllenzug

       Einfache Fahrkarte für einen Höllenzug

      Da ich in der Palliativmedizin, der Betreuung von unheilbar Kranken, gearbeitet habe, bin ich dem Tod oft begegnet. Streng genommen ist die Suchtmedizin bei dieser Bevölkerungsgruppe ebenfalls Palliativarbeit. Wir erwarten nicht, jemanden zu heilen, sondern nur, die Auswirkungen der Drogenabhängigkeit und der damit verbundenen Leiden zu lindern sowie die Auswirkungen der rechtlichen und sozialen Qualen abzumildern, mit denen unsere Gesellschaft den Drogensüchtigen bestraft. Abgesehen von den seltenen Glücklichen, die dem Drogen-Slum von Downtown Eastside entkommen, erleben nur sehr wenige meiner Patienten ein hohes Alter. Sie sterben an einer Komplikation ihrer HIV-Infektion oder Hepatitis C, an Meningitis oder einer massiven Sepsis, die sie sich durch mehrfache Selbstinjektionen während ihres anhaltenden Kokainkonsums zuziehen. Einige erliegen bereits in relativ jungen Jahren einer Krebserkrankung, da ihr gestresstes und geschwächtes Immunsystem nicht in der Lage ist, den bösartigen Tumor unter Kontrolle zu halten. So ist Stevie gestorben, an Leberkrebs, mit dem gutmütig-spöttischen Ausdruck, der immer auf ihrem Gesicht lag, das von tiefer Gelbsucht gezeichnet war. Oder sie erwischen eines Nachts schlechten Stoff und sterben an einer Überdosis, wie Angel im Sunrise Hotel oder wie Trevor, ein Stockwerk höher, der immer lächelte, als ob ihn nie etwas gestört hätte.

      An einem Februarabend, es dämmerte bereits, erwachte Leona, eine Patientin, die in einem nahe gelegenen Hotel wohnte, auf der Liege in ihrem Zimmer und fand ihren achtzehnjährigen Sohn Joey leblos und starr in ihrem Bett liegen. Sie hatte ihn von der Straße geholt und Wache gehalten, um ihn vor Selbstverletzung zu schützen. Nach der durchwachten Nacht war sie am nächsten Vormittag eingeschlafen. Am Nachmittag hatte Joey eine Überdosis genommen. „Als ich aufwachte“, erinnert sie sich, „lag Joey regungslos da. Niemand musste mir etwas erklären. Der Krankenwagen und die Feuerwehr kamen, aber es gab nichts, was sie hätten tun können. Mein Baby war tot.“ Ihre Trauer ist riesig, ihr Schuldgefühl unermesslich.

      Der Schmerz ist eine Konstante in der Portland-Klinik. Die medizinische Fakultät unterrichtet die drei Kennzeichen einer Entzündung mit den lateinischen Bezeichnungen: calor, rubror, dolor – Hitze, Rötung und Schmerz. Die Haut, Gliedmaßen oder Organe meiner Patienten sind oft entzündet und dagegen kann meine Behandlung zumindest vorübergehend wirksam sein. Aber wie kann man die Seelen trösten, die durch intensive Schmerzen gequält werden, die zuerst durch die Erfahrungen in der Kindheit – fast zu widerlich, um sie zu glauben – und dann, in mechanischer Wiederholung, durch den Leidenden selbst hervorgerufen werden? Und wie kann man sie trösten, wenn ihre Leiden durch die gesellschaftliche Ächtung täglich schlimmer werden – durch das, was der Gelehrte und Schriftsteller Elliot Leyton als „die seelenlosen, rassistischen, sexistischen und klassistischen Vorurteile beschrieben hat, die in der kanadischen Gesellschaft vergraben sind: eine institutionalisierte Verachtung der Armen, Prostituierten, Drogensüchtigen, Alkoholiker und Ureinwohner“.1 Der Schmerz hier in Downtown Eastside bringt Menschen dazu, um Geld für Drogen zu betteln. Er starrt aus kalten und harten Augen oder zeigt sich niedergeschlagen, im Gefühl der Unterlegenheit und Scham. Der Schmerz äußert sich in schmeichelnden Tönen oder aggressivem Geschrei. Hinter jedem Blick, hinter jedem Wort, hinter jeder gewaltsamen Tat oder desillusionierten Geste verbirgt sich eine Geschichte von Leid und Erniedrigung, eine selbst geschriebene Geschichte mit täglich neu hinzugefügten Kapiteln und selten einem glücklichen Ende.

      ———

      Während Daniel mich nach Hause fährt, hören wir im Autoradio CBC und diesen seltsamen Nachmittagsmix aus fröhlichem Geplapper, Klassik und Jazz. Erschüttert von dem Kontrast zwischen der großstädtischen Radiowirklichkeit und der geplagten Welt, die ich gerade verlassen habe, denke ich zurück an meine erste Patientin an diesem Tag.

      Madeleine sitzt gekrümmt vor mir, die Ellenbogen auf ihre Oberschenkel gestützt, ihr hagerer, sehniger Körper ist durch heftiges Schluchzen verkrampft. Sie umklammert ihren Kopf mit den Händen, ballt immer wieder die Fäuste und schlägt rhythmisch gegen ihre Schläfen. Ihr glattes, braunes, nach vorne gefallenes Haar verdeckt ihre Augen und Wangen. Ihre Unterlippe ist geschwollen und aufgeplatzt, aus einem kleinen Schnitt sickert Blut. Ihre raue, jungenhafte Stimme ist heiser vor Wut und Schmerz. „Ich bin schon wieder verarscht worden“, weint sie. „Immer bin ich es, die die Scheiße der anderen ausbaden muss. Woher wissen sie, dass sie mir das jedes Mal wieder antun können?“ Sie hustet, als ihr der Speichel in die Luftröhre rinnt. Sie ist wie ein Kind, das seine Geschichte erzählt und um Mitgefühl und Hilfe bittet.

      Die Geschichte, die sie erzählt, ist die Variation eines Themas, das in Downtown Eastside bekannt ist: Drogensüchtige, die sich gegenseitig ausbeuten. Drei Frauen, die Madeleine gut kennt, geben ihr einen Hundert-Dollar-Schein. Der Deal ist, dass sie zwölf „Rocks“ Crack von einem Typen kaufen soll, den sie „Spic“ nennt. Einen kann sie behalten, die anderen Frauen werden einen Teil für sich nehmen und den Rest weiterverkaufen.

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