Im Reich der hungrigen Geister. Gabor Mate
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Wir könnten viel gewinnen, wenn wir die Widerstandsfähigkeit und die uralten Lehren derer respektieren würden, die am meisten unter Traumata, Entwurzelung und Sucht gelitten haben: der Ureinwohner unter uns. Ihre Werte betonen stets den Gemeinschaftssinn und nicht den rücksichtslosen Individualismus, die Wiedereingliederung des Übeltäters in die Gemeinschaft und nicht die Vergeltung, die Integration und nicht die Trennung und, was am wichtigsten ist, eine Sichtweise des Menschen, die unsere körperlichen mit unseren geistigen, emotionalen und spirituellen Bedürfnissen in Einklang bringt. Je mehr ich die neuesten wissenschaftlichen Forschungen über die menschliche Entwicklung, das Gehirn, die Gesundheit und die Verbindungen zwischen dem Individuum und dem sozialen Milieu verinnerliche, desto größer ist meine Achtung vor den traditionellen Praktiken derer, die wir kolonisiert und deren Kultur wir nach Kräften versucht haben zu zerstören. Bei ihnen gab es vor der Kolonialisierung keine Abhängigkeiten.
Seit der ersten Veröffentlichung dieses Buches vor zehn Jahren habe ich auch über die Heilung von Süchten durch traditionelle Pflanzen der Schamanen und Praktiken aus Südamerika und Afrika wie Ayahuasca und Iboga dazugelernt. Meine Arbeit mit diesen Pflanzen war Gegenstand eines landesweit ausgestrahlten Dokumentarfilmprogramms der CBC über Die Natur der Dinge. In letzter Zeit ist viel über solche Praktiken geschrieben worden, und ich werde in meinem nächsten Buch The Myth of Normal: Being Healthy in an Insane Culture, das gerade in Arbeit ist, mehr zu diesem Thema sagen. Diese Pflanzen sind kein Allheilmittel, aber wir wären töricht, sie zu ignorieren. In einem kurzen Beitrag für The Globe and Mail habe ich es folgendermaßen formuliert: „Viele Weisheitslehren der Ureinwohner beruhen auf einem ganzheitlichen Verständnis. Wie alle auf Pflanzen basierenden indigenen Praktiken auf der ganzen Welt entspringt der Gebrauch von Ayahuasca einer Tradition, in der Geist und Körper als untrennbar angesehen werden. Ich habe miterlebt, wie Menschen ihre Sucht nach Substanzen, Sex und anderen selbstschädigenden Verhaltensweisen … überwunden haben. Im entsprechenden zeremoniellen Rahmen kann Ayahuasca in wenigen Sitzungen erreichen, was in vielen Jahren der Psychotherapie nur angestrebt werden kann.“
Wie ich eingangs erwähnt habe, sind meine Begegnungen mit trauernden Eltern – und es gab viele – für mich persönlich immer am bewegendsten. Da Süchte, sei es nach Substanzen oder Handlungen wie Glücksspiel, Sex, Essen – eigentlich egal wonach – in Schmerzen wurzeln, die in so vielen Fällen durch Leiden in der Kindheit hervorgerufen wurden, erwartet man vielleicht nicht, dass viele Eltern, die erwachsene Kinder durch Sucht verloren haben, Bestätigung für die Inhalte meines Buches geäußert und Verständnis gezeigt haben, statt verletzt oder wütend zu sein oder sich selbst für schuldig zu halten. „Die hungrigen Geister“ soll niemanden beschuldigen, sondern sich mit der gequälten Menschheit verbünden, um zu zeigen, dass Sucht eine der häufigsten und menschlichsten Ausdrucksformen von Leid ist. Es geht nicht darum, Vorwürfe zu machen, sondern nur um die zugrundeliegende Realität, dass Leiden generationsübergreifend ist, dass wir es unwissentlich weitergeben, bis wir es begreifen und die Glieder in der Übertragungskette innerhalb der Familie, Gemeinschaft oder Gesellschaft unterbrechen. Eltern Vorwürfe zu machen, ist in emotionaler Hinsicht herzlos und wissenschaftlich falsch. Alle Eltern tun ihr Bestes, nur ist unser Bestes durch unser eigenes ungelöstes oder unbewusstes Trauma begrenzt. Das ist es, was wir unwissentlich unseren Kindern vererben, so wie ich es selbst getan habe. Die gute Nachricht in diesem Buch, wie auch in vielen anderen Quellen, ist, dass Traumata und Trennungen von der Familie geheilt werden können. Unter den richtigen Bedingungen, so wissen wir heute, kann sich das Gehirn selbst heilen.
Ich vertraue darauf, dass Im Reich der hungrigen Geister auch weiterhin viele Menschen erreicht, um seine heilende Botschaft zu vermitteln, die auf emotionalen, psychologischen, sozialen und wissenschaftlichen Wahrheiten beruht. Wahrheit, wie wir wissen, bringt Freiheit, auch wenn sie Schmerz hervorrufen kann.
Süchte entstehen durch verhinderte Liebe, durch unsere blockierte Fähigkeit, Kinder so zu lieben, wie sie geliebt werden müssen, durch unsere blockierte Fähigkeit, uns selbst und einander so zu lieben, wie wir alle es brauchen. Die Öffnung unserer Herzen ist der Weg zur Heilung von Sucht – die Öffnung unseres Mitgefühls für den Schmerz in uns selbst und den Schmerz um uns herum.
Gabor Maté, Vancouver, April 2018
PS: In Downtown Eastside gehen die Tragödien und Wunder weiter. „Serena“, deren Geschichte in Kapitel 4 erzählt wird, starb kurz nach der Veröffentlichung von Im Reich der hungrigen Geister an einem HIV-induzierten Hirnabszess. „Celia“, die in Kapitel 5 schwanger ist, ist auf wundersame Weise wieder mit einer Tochter zusammengekommen, die sie vor drei Jahrzehnten zur Adoption freigegeben hatte. Es wird niemanden überraschen, dass die Tochter – die das Buch ursprünglich gelesen hatte, ohne zu erkennen, dass ihre Mutter darin dargestellt wurde – selbst mit Sucht zu kämpfen hat. Sie lebt in Ottawa und steht regelmäßig mit mir in Kontakt, während sie Schritte zur Genesung unternimmt. Ich hoffe, dass sie dem Schicksal ihrer Mutter entgehen kann.
* Der weltweit erste betreute Drogenkonsumraum wurde 1986 in Bern eröffnet. Im Jahr 1994 entstand in Hamburg Deutschlands erster Konsumraum, in dem Süchtige mit sauberen Spritzen versorgt werden.
Die hungrigen Geister:
Im Reich der Süchte
Der Cassius dort hat einen hohlen Blick.
WILLIAM SHAKESPEARE
Julius Cäsar
Das buddhistische Lebensrad in Gestalt eines Mandalas durchläuft sechs Bereiche. Jeder Bereich wird von Charakteren bevölkert, die Aspekte der menschlichen Existenz repräsentieren – unsere verschiedenen Wege des Seins. In der Welt der Tiere werden wir von grundlegenden Überlebensinstinkten und Begierden wie physischem Hunger und Sexualität getrieben, dem, was Freud das Es nannte. Die Wesen des Höllenreichs sind in Zuständen unerträglicher Wut und Angst gefangen. In der Welt der Götter transzendieren wir unsere Sorgen und unser Ego durch sinnliche, ästhetische oder religiöse Erfahrungen, aber nur vorübergehend und in Unkenntnis der spirituellen Wahrheit. Selbst dieser beneidenswerte Zustand ist von Verlust und Leid geprägt.
Die Bewohner der Welt der Hungergeister werden als Kreaturen mit dürren Hälsen, kleinen Mündern, abgemagerten Gliedmaßen und großen, aufgeblähten, leeren Bäuchen dargestellt. Dies ist der Bereich der Sucht, in dem wir ständig nach etwas außerhalb von uns selbst suchen, um die unstillbare Sehnsucht nach Erlösung oder Erfüllung zu dämpfen. Die schmerzende Leere ist immerwährend, weil die Substanzen, Objekte oder Bestrebungen, von denen wir hoffen, dass sie sie lindern, nicht das sind, was wir wirklich brauchen. Wir wissen nicht, was wir brauchen, und solange wir uns im Zustand der hungrigen Geister befinden, werden wir es nie wissen. Wir geistern durch unser Leben, ohne vollständig präsent zu sein.
Manche Menschen verbringen einen Großteil ihres Lebens in dem einen oder anderen Bereich. Viele von uns bewegen sich zwischen ihnen hin und her, vielleicht sogar durch alle hindurch, im Laufe eines einzigen Tages.
Meine medizinische Arbeit mit Drogensüchtigen in Vancouvers Stadtteil Downtown Eastside hat mir die einzigartige Gelegenheit gegeben, Menschen kennenzulernen, die fast ihre ganze Zeit als Hungergeister verbringen. Es ist ihr Versuch, so glaube ich, dem Höllenreich mit seiner überwältigenden Angst, Wut und Verzweiflung zu entkommen. Die schmerzhafte Sehnsucht in ihren Herzen spiegelt etwas von der Leere wider, die auch Menschen mit einem scheinbar glücklicheren Leben erfahren können. Diejenigen, die wir als „Junkies“