Im Reich der hungrigen Geister. Gabor Mate
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„Wir müssen darüber reden, was Menschen dazu veranlasst, Drogen zu nehmen“, sagte der berühmte Traumaforscher Dr. Bessel van der Kolk. „Menschen, die sich gut fühlen, tun nichts, was ihrem Körper schadet. Traumatisierte Menschen fühlen sich aufgewühlt, unruhig, haben eine Enge in der Brust. Sie hassen es, wie sie sich fühlen. Sie nehmen Drogen, um ihren Körper zu stabilisieren.“ Es ist die Verzweiflung – das Bedürfnis, Körper und Geist zu regulieren und der unerträglichen Bedrängnis oder Unruhe zu entkommen. Wie dieses Buch aufzeigt, führt diese Verzweiflung zu jedweder Form von Abhängigkeit, ob substanzgebunden oder nicht.
„Ich werde Sie nicht fragen, wovon Sie abhängig waren“, sage ich oft zu den Menschen. „Weder wann, noch für wie lange. Ich frage nur, was auch immer Ihr suchterzeugender Anlass war. Was hat die Droge Ihnen geboten? Was hat Ihnen daran gefallen? Was hat es Ihnen kurzfristig gegeben, wonach Sie sich so sehr sehnten oder was Sie so sehr mochten?“ Und die Antworten lauten durchgängig: „Es half mir, emotionalen Schmerzen zu entkommen, half mir, mit Stress umzugehen, gab mir Seelenfrieden, ein Gefühl der Verbundenheit mit anderen, ein Gefühl der Kontrolle.“
Solche Antworten machen deutlich, dass Sucht weder eine bewusste Wahl, noch in erster Linie eine Krankheit ist. Sie hat ihren Ursprung in dem verzweifelten Versuch eines Menschen, ein Problem zu lösen: das Problem des emotionalen Schmerzes, des überwältigenden Stresses, der verlorenen Beziehungen, des Kontrollverlustes, des tiefen Unbehagens mit sich selbst. Kurz gesagt, es ist der vergebliche Versuch, das Problem des menschlichen Schmerzes zu lösen. Alle Drogen – und alle Suchtverhaltensweisen, ob substanzgebunden oder nicht, ob Glücksspiel-, Sex-, Internet- oder Kokainsucht – lindern den Schmerz entweder direkt oder lenken davon ab. Daher mein Mantra: Die erste Frage lautet nicht „Warum die Sucht?“, sondern „Warum der Schmerz?“.
„Selbst die schädlichsten Süchte dienen einer lebenswichtigen Anpassungsfunktion für entwurzelte Individuen“, schreibt mein Freund und Kollege Dr. Bruce Alexander in seinem grundlegenden Werk The Globalization of Addiction: A Study in the Poverty of the Spirit. „Nur chronisch und stark entwurzelte Menschen sind für Sucht anfällig.“ Mit Entwurzelung meint er „einen anhaltenden Mangel an psychosozialer Integration“. Dr. Alexander nennt dies innere und soziale Entwurzelung; ich nenne es Trauma.
„Drogenprobleme müssen in ihrem breiteren sozialen und wirtschaftlichen Kontext gesehen und angegangen werden. Tief verwurzelte Drogenprobleme scheinen signifikant mit Ungleichheit und sozialer Ausgrenzung verbunden zu sein“, mahnte die britische Kommission für Drogenpolitik im Jahr 2012. Es ist nicht überraschend, dass die Suchtepidemie in Großbritannien an Orten wie Hull am weitesten verbreitet ist, wo der Niedergang der Fischereiindustrie dazu beigetragen hat, dass es dort eine der höchsten Arbeitslosenquoten im Vereinigten Königreich gibt. Die New York Times berichtete kürzlich aus Hull: „Der neue Kick kam von Fentanyl, einem opioiden Schmerzmittel, das fünfzig- bis hundertmal stärker wirkt als Morphium, und dem Heroin beigemischt wurde. Die Droge hat Tausende von Amerikanern, darunter die Rockstars Prince und Tom Petty, getötet. Doch das tödliche Risiko, das sie darstellt, hat die Süchtigen in Kingston Upon Hull, allgemein bekannt als Hull, kaum abgeschreckt. In der Tat können viele von ihnen nicht genug davon bekommen. ‚Es lässt alle Schmerzen verschwinden‘, erklärt Chris, ein zweiunddreißigjähriger Obdachloser aus Hull, der seit mehr als acht Jahren heroinabhängig ist.“
„Es ist zermürbend zu erleben, dass wir jeden Tag Menschen auf eine Weise verlieren, die hätte vermieden werden können“, bestätigt Dr. Henry. „Um das auszugleichen, haben wir bei der Bewusstseinsbildung große Fortschritte gemacht. Der öffentliche Diskurs, den wir wahrnehmen, hat sich dramatisch verändert.“ Von meinen Reisen durch Nordamerika und andere Teile der Welt weiß ich, dass dies der Fall ist. Ich vertraue darauf, dass dieses Buch weiterhin zu diesem Wandel beitragen wird. Aber trotz ermutigender Anzeichen und gesundheitspolitischer Initiativen auf lokaler und Bundesebene in Kanada und international liegt noch ein langer Weg vor uns, wenn wir einen vernünftigen, evidenzbasierten, mitfühlenden und wissenschaftlichen Ansatz für die Suchtbehandlung und -prävention erreichen wollen. Die Drogenkrise bringt uns an einen Abgrund. Da die gegenwärtige Situation unhaltbar ist, können wir entweder mögliche Lösungen in Betracht ziehen oder zulassen, dass wir über den Rand des Abgrundes in eine größere Dysfunktionalität, eine tiefere tragische Sinnlosigkeit, abgleiten.
Es wurde bekannt, dass in Kanada – als willkommenes Zeichen des sich abzeichnenden gesunden Menschenverstandes – zwei der führenden Parteien, die Liberalen und die New Democratic Party, erwägen, den Besitz bisher illegaler Drogen für den persönlichen Gebrauch zu entkriminalisieren. Dies wird mit großem Erfolg in Portugal praktiziert, dem einzigen Land der Welt, in dem es nicht mehr illegal ist, eine kleine Menge von beispielsweise Heroin oder Kokain für den persönlichen Gebrauch zu besitzen. Statt die Menschen in Gefängnisse zu stecken, werden sie ermutigt, an Rehabilitationsprogrammen teilzunehmen. Statt sie sozial auszugrenzen, wird ihnen Hilfe angeboten.
In Portugal ist der Gebrauch von Drogen zurückgegangen, es gibt weniger Kriminalität und mehr Menschen in Behandlung. Das Land hat die Konsumrate von intravenösen Drogen halbiert. Es gab keine negativen Auswirkungen. Norwegen denkt über die gleiche Politik nach. „Wie ich es sehe, geht es um die Entkriminalisierung der Menschen, die Drogen konsumieren, nicht um die Entkriminalisierung der Drogen“, sagt Dr. Henry. Wenn wir uns vorstellen, welche Fortschritte wir erzielen könnten, wenn ein großer Teil der Ressourcen, die jetzt in die schrecklichen Verfahren der Vollstreckung und Inhaftierung geflossen sind, der Prävention, Schadensminderung und Behandlung widmen würden? Das ist die Chance!
Denn sonst besteht die Gefahr, dass wir uns in die andere Richtung bewegen, zu mehr Ablehnung, Verachtung und Feindseligkeit. Das reichste und einflussreichste Land der Welt, in dem die Suchtraten bereits jetzt am höchsten sind, droht trotz – und zum großen Teil wegen – einer drakonischen Politik, sich in Richtung einer stärkeren Ächtung und gewaltsamen Unterdrückung zu entwickeln. Im März 2018 befürwortete der Präsident der Vereinigten Staaten öffentlich die Todesstrafe für Drogenhändler. „Einige Länder haben eine sehr, sehr harte Strafe – die ultimative Strafe“, sagte Donald Trump. „Und übrigens haben sie ein viel geringeres Drogenproblem als wir.“ In USA Today war zu lesen: „Im vergangenen Mai beglückwünschte Trump den philippinischen Präsidenten Rodrigo Duterte zu seinem ‚great job‘ bei der Bekämpfung von Drogen. Duterte hatte sich damit gebrüstet, mindestens drei Tatverdächtige persönlich erschossen zu haben. Menschenrechtsgruppen und die Vereinten Nationen haben Dutertes Selbstjustiz-Kampagne verurteilt, die Tausende von verdächtigen Drogenhändlern und -konsumenten das Leben gekostet hat.“ Amerikas derzeitiger Justizminister Jeff Sessions hat ebenfalls eine strengere Durchsetzung und härtere Bestrafung gefordert, da er angesichts aller Beweise seine Ansicht bestätigt sieht, dass Drogenkonsum und Kriminalität unweigerlich zusammenhängen. Was unweigerlich zu Verbrechen führt, ist nicht der Drogenkonsum als solcher, sondern die Kriminalisierung, wie der Autor Johann Hari in Drogen: Die Geschichte eines langen Krieges brillant aufzeigt. Nach den Worten des kolumbianischen Journalisten Alonso Salazar hat der von den Amerikanern geführte Krieg „eine Kriminalität und Zerstörung von Leben und Natur geschaffen, wie es sie nie zuvor gegeben hat“.
In diesem Buch stelle ich die Behauptung auf, dass es keinen „Krieg gegen Drogen“ gibt. Man kann keinen Krieg gegen leblose Objekte führen, sondern nur gegen Menschen. Und die Menschen, gegen die der Krieg am häufigsten geführt wird, sind diejenigen, die in ihrer Kindheit am meisten vernachlässigt und unterdrückt wurden, denn nach allen wissenschaftlichen Erkenntnissen, allen epidemiologischen Daten und allen Erfahrungen erliegen sie später in ihrem Leben am ehesten der Substanzabhängigkeit. In unserer zivilisierten