Im Reich der hungrigen Geister. Gabor Mate
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Die tränenreiche Umarmung eines trauernden Vaters bestätigt mich darin, dass es richtig war, dieses Buch zu schreiben, und rechtfertigt die Arbeit, die dahintersteckt. In den letzten zehn Jahren haben mir Menschen aus allen Gesellschaftsschichten von überallher geschrieben, um die Wirkung des Buches auf sie selbst oder auf das Leben ihrer Lieben zu beschreiben. Sie berichten, wie es ihre Sichtweise auf süchtige Menschen und ihre Vorstellung von dem, was Sucht ist, beeinflusst hat. Es hat ihnen geholfen, ihr Herz für das ungeheure Ausmaß des Problems zu öffnen. Mein Buch hat Lieder und Gedichte in Kanada und den USA, Gemälde in Spanien sowie Theaterproduktionen in Rumänien und Ungarn inspiriert und wird heute in Ausbildungseinrichtungen, Suchtberatungsprogrammen und in Therapieeinrichtungen eingesetzt. Besonders dankbar bin ich angesichts der zunehmenden Suchtkrise für die Zuschriften junger Studenten, die beschreiben, wie sie motiviert wurden, Therapeuten zu werden oder Medizin bzw. Psychiatrie zu studieren, um Menschen, wie ich sie in meinem Buch geschildert und ihnen durch die Interviews Ausdruck verliehen habe, zu helfen. Eine Sozialarbeiterin aus Los Angeles schrieb: „Unsere Polizisten haben mich echt umgehauen – sie haben mir Hoffnung in meinem abgestumpften Herz gemacht. Vor allem einer hat sich das Konzept der Schadensminderung in Im Reich der hungrigen Geister zur Orientierung genommen: Wenn er Kandidaten identifiziert, geht er mit Respekt und kreativem Mitgefühl auf sie zu.“ Das Buch hat Eingang in die Gefängnisse gefunden – Therapeuten haben mir von Häftlingen erzählt, die weinten, als sie feststellten, dass sich ihre Geschichten in diesem Buch oder in einigen meiner damit verbundenen Vorträge widerspiegelten. „Ihr Buch hat es mir ermöglicht, die Ursachen meiner Sucht herauszufinden“, schrieb ein in Idaho inhaftierter Mann. „Ich kann nun die Frage beantworten, die mir meine Familie und Freunde seit Jahrzehnten stellen: Warum?“
Die Frage nach dem ‚Warum‘ war noch nie dringlicher als heute.
Während ich diese Einleitung schreibe, gibt es das große Problem der Überdosierung von Opioiden. Alle drei Wochen sterben in den Vereinigten Staaten so viele Menschen an einer Überdosis wie bei den Anschlägen vom 11. September 2001 im World Trade Center. In Großbritannien, das in Europa den höchsten Prozentsatz an Heroinabhängigen verzeichnet, erreichten die drogenbedingten Todesfälle im vergangenen Jahr einen Rekordstand: In England und Wales starben über 3.700 Menschen, hauptsächlich an Heroin und verwandten Opioiden. In Deutschland kamen 1.300 Menschen durch Überdosierungen ums Leben. In Kanada sind die Zahlen ähnlich erschreckend. Laut dem Bericht der kanadischen Gesundheitsbehörde vom März 2018 gab es im Jahr 2017 mehr als 4.000 opioidbedingte Todesfälle, was einem Anstieg von fast 50 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht und „jeden Teil des Landes betrifft … mit verheerenden Auswirkungen auf Familien und Gemeinden“. In meiner Heimatregion British Columbia starben laut der Gesundheitsbeauftragten der Provinz, Dr. Bonnie Henry, im vergangenen Januar in nur einem Monat 125 Menschen an einer Überdosis. „Früher dachte man“, so erzählte mir Dr. Henry, „dass Überdosierungen den Menschen dort einfach so passieren“, womit sie die heruntergekommenen Viertel wie Vancouvers drogenberüchtigtes Downtown Eastside meinte, wo dieses Buch beginnt und endet und wo ein Großteil seiner Begebenheiten stattfinden. Dr. Henry berichtete, dass British Columbia 2016 einen öffentlichen Notstand ausrief, teilweise um die Diskussion von einem lokal begrenzten Notstand auf das umfassendere soziale Problem zu lenken, das es tatsächlich ist. „Das sind nicht irgendwelche Menschen. Es sind unsere Menschen, unsere Brüder und Schwestern, unsere Familien. Todesfälle durch eine Überdosis kommen in allen Stadtteilen vor, von den reichsten bis zu den ärmsten.“
Bei aller echten Betroffenheit und Trauer wegen dieses massenhaften Sterbens trösten wir uns leicht darüber hinweg, indem wir uns weismachen, dass diese Todesfälle nur auf individuelle Vorlieben oder Gewohnheiten zurückzuführen sind. Auf sozialer und politischer Ebene stellen sie menschliche Opfer dar. Die Menschen fallen dem anhaltenden Widerwillen unserer Gesellschaft zum Opfer, sich mit den Realitäten und den Ursachen der Sucht, insbesondere des Drogenkonsums, auseinanderzusetzen. Im Laufe der Jahrzehnte haben wir uns trotz aller Anhaltspunkte geweigert, eine Politik zu fordern oder anzunehmen, die die verheerenden Folgen der Sucht verhindern oder ihnen angemessen begegnen würde. Dies hat auch David Walker, Vorsitzender der Gesundheitsbehörde Public Health Ontario, in einem Brief an The Globe and Mail (17. März 2018) scharf und treffend bemerkt: „2003 wurde Kanada von einer neuen und beängstigenden Epidemie heimgesucht, vor allem in Toronto: Vierundvierzig Menschen starben an SARS. Die Regierungen der Provinzen und die Bundesregierung reagierten mit vollem Einsatz. Fünfzehn Jahre später befällt die Opioid-Sucht, eine weitere neue und beängstigende Epidemie, Kanada. Man fragt sich, warum unsere kollektive Reaktion relativ verhalten ausfällt. Liegt es daran, dass wir diejenigen, die sterben, weniger schätzen? Ist das die ‚fürsorgliche‘ Gesellschaft, zu der wir uns entwickelt haben?“
Wie bei vielen anderen menschlichen Problemen gibt es sogenannte unmittelbare Ursachen für diese eskalierende Epidemie – Ursachen, die unmittelbar zu den tragischen Ergebnissen beitragen. Jeder, der die aktuellen Nachrichten liest oder schaut, ist sich bewusst, dass die jüngste breite Verfügbarkeit der billigen und wirksamen Opioide Fentanyl und Carfentanyl unter den unmittelbaren Ursachen eine herausragende Rolle spielt. (Diese Drogen haben im Vergleich zu ihren pflanzlichen Verwandten Heroin und Morphium eine viel geringere Sicherheitsmarge, das heißt der Unterschied zwischen einer Dosis, die einen „high“ macht oder bei Entzugserscheinungen hilft, und einer Dosis, die tödlich wirkt, ist viel geringer. Daher ihre Letalität.)
Die Gefahr dieser potenziell selbstmörderischen Gewohnheiten ist nur die Spitze eines riesigen Eisbergs. In unserer Gesellschaft, in der die Menschen immer verzweifelter versuchen, der Isolation und dem Verdruss im Alltag zu entkommen, gibt es alle möglichen Süchte, und es werden immer mehr. „Die Internetabhängigkeit scheint eine weitverbreitete Störung zu sein, die es verdient, in das DSM-V [The Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5. Auflage] aufgenommen zu werden“, so las man im Editorial des American Journal of Psychiatry in dem Jahr, als dieses Buch erschien – und sie wurde seitdem allgemein viel umfassender als Erkrankung anerkannt.
Kürzlich wurde in einem Artikel in Psychology Today die „Computerspielsucht“ diskutiert. Smartphones sind ein weiterer wesentlicher neuer Suchtfaktor. Die New Yorker Psychotherapeutin Nancy Colier berichtete, dass „die meisten Menschen ihre Smartphones jetzt 150 Mal pro Tag oder alle sechs Minuten checken. Und junge Erwachsene verschicken inzwischen durchschnittlich 110 SMS pro Tag. Sechsundvierzig Prozent der Smartphone-Nutzer sagen mittlerweile, dass sie ohne ihre Geräte ‚nicht leben‘ könnten“: ein klassisches Zeichen für Suchtabhängigkeit.
Wir sollten uns davor hüten, Ursache und Wirkung zu verwechseln – nämlich die Erscheinungsform mit dem zugrunde liegenden Prozess. Hier hat man es nicht mit neuen Störungen zu tun, sondern nur mit neuen Zielen für das universelle und uralte Suchtverhalten; es sind neue Formen der Flucht. Die Prozesse des Geistes und des Gehirns sind bei allen Süchten, egal in welcher Form, gleich, ebenso wie die psychische Leere, die ihren Kern ausmacht.
„Die Daten offenbaren eine Gesellschaft, die von Verzweiflung gepackt ist, mit einem Anstieg ungesunder Verhaltensweisen und einer Epidemie von Drogen“, schrieb der Nobelpreisträger Paul Krugman in der New York Times. Wie sollen wir den Erscheinungsformen der Verzweiflung begegnen, ohne die Verzweiflung selbst zu verstehen?
Die Umstände, die die Verzweiflung – und damit möglicherweise auch die Sucht – fördern, sind mit jedem Jahrzehnt stärker in der industrialisierten Welt verwurzelt, vom Osten bis zum Westen: mehr Isolation und Einsamkeit, weniger Gemeinschaftskontakte, mehr Stress, mehr wirtschaftliche Unsicherheit, mehr Ungleichheit, mehr Angst und letztlich mehr Druck auf und weniger Unterstützung für junge Eltern. Angesichts der Pseudo-Verbundenheit unseres technologischen Zeitalters gibt es immer mehr Abkoppelung. Das Magazin Adbusters bemerkte hierzu in einer kürzlich erschienenen Ausgabe ironisch: „Sie haben