Im Reich der hungrigen Geister. Gabor Mate

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Im Reich der hungrigen Geister - Gabor  Mate

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sind zwangsläufig am weitesten verbreitet und am tödlichsten bei den Bevölkerungsgruppen, die in der Regel die anhaltendsten Traumata und Zerrüttungen erlebt haben. Anfang März 2018 wurde ich in das Blood Tribe Reservat, eine Blackfoot Community in der Nähe von Lethbridge, Alberta, eingeladen, um auf einer Konferenz über Jugendprobleme zu sprechen. Nach den Worten ihrer Ärztin, Dr. Esther Tailfeathers, hatte die Gemeinde zwei Wochen zuvor, am 23. Februar, „einen perfekten Sturm“ erlebt. Wohlfahrtszahlungen hatten dafür gesorgt, dass genügend Geld im Umlauf war. Die Drogenhändler fielen in das Reservat ein – wobei es sich in diesem Fall größtenteils um ebenfalls junge Leute handelte, die in hoffnungsloser Armut lebten, an einem Ort, wo die Arbeitslosigkeit fast 80 Prozent beträgt und die Wohnsituation so schlimm ist, dass sich manchmal drei Familien – bis zu zwanzig Personen – ein Haus mit einem Badezimmer sowie sechs oder sieben Personen ein Schlafzimmer teilen. Die jungen Leute dealen, um ihren eigenen Drogenkonsum zu finanzieren. An dem Abend wütete ein Schneesturm, sodass die Einsatzkräfte Schwierigkeiten hatten, auf den Straßen voranzukommen. In dieser Nacht gab es neunzehn Fälle von Überdosis und einen Toten wegen einer Messerstecherei. Von denen, die eine Überdosis genommen hatten, starben zwei, was eigentlich eine Tragödie ist, wegen der geringen Zahl aber von der Community zu Recht, wenn auch traurig, als Triumph betrachtet werden konnte. Denn sie hatten Maßnahmen zur Schadensminderung eingeleitet, indem sie zum Beispiel vorab der Bevölkerung Naloxon, ein Mittel zur (teilweisen) Aufhebung von Opiat-Überdosierungen, zur Verfügung gestellt hatten.

      Die Konferenz war einberufen worden, weil so viele Blackfoot-Jugendliche Opfer einer Sucht geworden waren oder andere Erscheinungsformen von Traumata aufwiesen. Selbstmord, Selbstverletzungen, Gewalt, Angst und Depression kommen in Kanada in den First-Nations-Gemeinden wie auch in den Reservaten der amerikanischen Ureinwohner sowie in den Aborigines-Gemeinden Australiens in hohem Maße vor. Der Normalbürger hat einfach keine Ahnung, kann sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, welches Unglück, welche Tragödien und andere Widrigkeiten viele junge Ureinwohner erleben, wenn sie in die Pubertät kommen – von wie vielen geliebten Menschen sie bereits den Tod erlebt haben, welche Misshandlungen sie erdulden müssen, welche Verzweiflung sie empfinden, welche Selbstverachtung sie quält, welchen Barrieren für ein Leben in Freiheit und Orientierung sie ausgesetzt sind.

      In allen Ländern mit einem kolonialen Erbe sind die Fragen, die auf den Tisch müssen, klar: Wie geht die Gesellschaft vor, um das generationsübergreifende Trauma zu heilen, das das Elend vieler Ureinwohner-Communitys verursacht? Was kann getan werden, um die Dynamik, die unsere Vergangenheit diktiert hat, rückgängig zu machen? Einige schrecken vielleicht vor einer solchen Untersuchung zurück, weil sie das Unbehagen fürchten, das mit Schuldgefühlen einhergeht. In Wahrheit geht es hier nicht um gemeinschaftliche Schuld, sondern um gemeinschaftliche Verantwortung. Es geht nicht um die Vergangenheit. Es geht um die Gegenwart. Und es geht um uns alle: Wenn ein paar von uns leiden, tun das letztlich alle.

      „Ihr Buch macht den Süchtigen menschlich“, haben mir viele Leser gesagt. Diese Erkenntnis spiegelt eine grundlegende und weit verbreitete Fehleinschätzung wider. Süchtige sind menschlich. Was hält viele von uns davon ab, das zu erkennen? Es ist nur die Angewohnheit unseres egozentrischen Geistes, die Welt in „wir und die anderen“ aufzuteilen. Genauer gesagt ist es unsere Unfähigkeit – oder Weigerung –, uns in „dem anderen“ zu sehen und sie in dem, was wir als „uns“ betrachten.

      Ein solches Versagen der Vorstellungskraft ist in allen Bereichen zu beobachten, von den persönlichen Beziehungen bis hin zur internationalen Politik. Einfach ausgedrückt spiegelt es das Festhalten an einer Identität wider, die unsere Art der Zugehörigkeit zu einer Gruppe definiert. Und wenn wir uns mit einer Gruppe egal welcher Größe identifizieren, die kleiner ist als die gesamte Menschheit, dann muss es andere geben, die per Definition nicht dazugehören und gegenüber denen wir uns, zumindest unbewusst, überlegen glauben. Diese Überlegenheit gibt uns das Gefühl, das Recht zu haben, zu urteilen und gleichgültig zu bleiben.

      Die Vermeidung und Heilung von Traumata ist ein universelles Thema, das nicht auf eine bestimmte Klasse oder eine bestimmte ethnische Gruppe beschränkt ist. Je mehr ich über die Lebensweise der Ureinwohner erfahre, umso mehr überkommt mich in der Tat oft der Gedanke, dass wir uns selbst schaden, wenn wir Kulturen ablehnen, deren zentrale Lehren und Werte einen Beitrag zur Heilung unserer Welt leisten können, sofern sie von der modernen Gesellschaft geschätzt würden.

      Die Schadensminderung hat auch in den Vereinigten Staaten erhebliche Fortschritte gemacht. San Francisco wird bald die erste Stadt in den USA sein, die offiziell einen betreuten Drogenkonsumraum eröffnet; inoffiziell gibt es bereits solche Einrichtungen. Wie Dr. Henry, die Gesundheitsbeauftragte der Provinz British Columbia, sagt, besteht die Idee darin, „die Menschen am Leben zu erhalten, bis wir tatsächlich ein System aufbauen können, das Menschen mit Drogenkonsum, Abhängigkeiten und psychischen Gesundheitsproblemen hilft. Wie Ihr Buch aufzeigt, haben wir weder ein System, das verhindern kann, dass Menschen süchtig werden, noch eines, mit dem wir sie auf ihrem Weg ‚abholen‘ und sie in den verschiedenen Phasen der Genesung unterstützen können oder beim Versuch, ihr Leben zu gestalten, wenn sie psychische Probleme haben, süchtig sind oder mit beidem zu kämpfen haben“.

      Aber egal, wie viele Einrichtungen es zur Schadensminderung auch geben mag, sie werden nicht ausreichen, um die Flut der Sucht einzudämmen, solange unser System Traumata und soziale Entwurzelung nicht als Ursachen des Problems erkennt und solange sich die Behandlungseinrichtungen hauptsächlich darauf konzentrieren, das Verhalten von süchtigen Menschen zu ändern, anstatt den Schmerz zu heilen, der dieses Verhalten steuert.

      Vor vierzig Jahren habe ich mein Medizinstudium an der Universität von British Columbia abgeschlossen, ohne während der vier Studienjahre auch nur einmal etwas über psychische Traumata und ihre Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und Entwicklung gehört zu haben. Einige Jahrzehnte später studierte meine Kollegin Dr. Henry Medizin an der Dalhousie University, an der anderen Küste von Kanada, anschließend in San Diego und Toronto. Auch sie hörte in all den Jahren ihres Studiums kein einziges Wort über Traumata. So schockierend es auch sein mag, es geht den meisten Medizinstudenten auch heute noch so, trotz aller Nachweise, die Traumata mit psychischen und physischen Krankheiten sowie Sucht in Verbindung bringen. Wie sollen Ärzte Menschen helfen, wenn sie keine Ausbildung erhalten, um die Ursachen der Probleme ihrer Patienten zu verstehen? Wie soll das System mit einer Epidemie umgehen, die es falsch einschätzt?

      Wenn es um das Verständnis von Sucht geht, ist das Dilemma, die Ursachen nicht wahrhaben zu wollen, groß. Diese Abwehrhaltung verhindert, dass wir uns unserer eigenen Schmerzen und unserer dysfunktionalen Verhaltensweisen, mit denen wir uns vom Schmerz befreien wollen, bewusst werden. Dieses Versagen der Selbsterkenntnis bildet eine unsichtbare Grenze zwischen der Gesellschaft und den sozial ausgegrenzten Suchtkranken, was leider auch oft zwischen den Angehörigen der Gesundheitsberufe und ihren Patienten bzw. Klienten vorkommt.

      Aus

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